Workshop II zur Konzeptualisierung von Echtzeit fokussierte, wie schon Workshop I, die Frage, mit welchen Phänomenen und Funktionen Echtzeit im Film verbunden ist.

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Susanne Kaul

Susanne Kaul wählte in ihrem Einleitungsvortrag die erzähltheoretisch definierte Echtzeit zum Ausgangspunkt, derzufolge eine Deckung zwischen dargestelltem Zeitverlauf und Darstellungszeit vorliegen muss. Dies hat sie anhand einiger Filmbeispiele (u.a. Hanekes Caché (2005) und Schippers Victoria (2015)) zu verschiedenen technischen Realisationsformen in Beziehung gesetzt, zu denen vor allem die Plansequenz, aber auch ein Zeitkontinuum auf auditiver Ebene gehören können. Mit den technischen Realisationsformen sind wiederum verschiedene Funktionen und Wirkungsweisen von Echtzeit verbunden. Hierzu zählen vor allem die Erzeugung von Authentizität und Intensität.

 

Hans J. Wulff

Hans J. Wulff widmete sich in seinem Beitrag zwei verschiedenen Fällen von Musikfilmen (Karmakars 196 bpm (2003) und den Konzertfilm der Beastie Boys Awesome; I Fuckin’ Shot That! (2006)), um zu zeigen, wie Echtzeit entweder audiovisuell durch eine lange Einstellung oder auditiv durch die Kontinuität diegetischer Musik – bei rhythmischem und hochfrequentem Schnitt im Fall des Musikkonzerts (Hiphop-Montage) ­− hergestellt werden kann.
Wulff setzte das Problemfeld der filmischen Echtzeit damit vergleichend zum Genre des Musikfilms in Beziehung und zeigte, welche Rolle das Auditive beim Generieren von Echtzeit spielen kann, wie auch, dass und inwiefern generische Spezifika zu berücksichtigen sind.

Markus Kuhn

Besonders auffällige Fälle von Echtzeit im Film sind solche, in denen sie in Form von Gleichzeitigkeit auf verschiedenen Kanälen mittels Split Screen hergestellt wird. Dabei ist das Potenzial zur Repräsentation von Gleichzeitigkeit nur eine von vielen Funktionen, die der Einsatz eines Split Screens im Film übernehmen kann (aber immerhin der statistisch häufig vorkommende unmarkierte Normalfall im narrativen Spielfilm). Diesem Gebiet hat sich Markus Kuhn in einem Vortrag gewidmet, der u.a. Figgis’ Timecode (2000) besprach, um herauszustellen, dass – entgegen der für diesen Film allgemein angenommenen Überwachungskamera-Ästhetik − hier keineswegs Authentizität und Unmittelbarkeit erzeugt werden. Der Film, der neben der konsequenten Vierteilung des Bildschirms auf ungeschnittene Plansequenzen setzt, sei dafür zu versuchslaborartig und artifiziell und erzeuge durch die visuelle Vierteilung eine Distanz, die eine Identifikation mit Figuren erschwert und die Verfolgung eines einzelnen Erzähltstrangs, die abschnittweise durch auditive Fokalisierung und/oder Kamerabewegung mit den Figuren ermöglicht wird, immer wieder unterbricht. Zu überdenken wäre daher die semantische Funktionalisierung von Echtzeit im gegebenen Beispiel, die immerhin das konstitutive Signum des Films darstellt, möglicherweise vor dem Hintergrund der (fremdmedialen) Simulation. Aber auch schon das Herausstellen diegetischer Zeitabläufe, das Verknüpfen verschiedener Figurenhandlungen über die Zeitebene (bevor Figur A Ziel x erlangt, sollte Figur B Ziel y erlangen) oder das Setzen von Deadlines auf Handlungsebene, hätte die formalen Aspekte von Echtzeit und Gleichzeitigkeit für Narration und Dramaturgie funktionalisieren können.

Jörg Schweinitz

Einen historischen Blickwinkel auf Begriff und Phänomen nahm Jörg Schweinitz ein. Er verwies darauf, dass der Begriff erst in den frühen achtziger Jahren – zunächst in Besprechungen des Films Echtzeit (Hellmuth Costard/Jürgen Ebert, D 1983) – im Feuilleton und in der Filmkritik auftauchte und dann später um die Jahrtausendwende (jüngst im Zusammenhang mit Victoria) seinen Boom erlebte.
Die Betonung von visueller Kontinuität und Simultaneität, die im Diskurs zum Medienwandel der letzten Jahre teils mythische Züge annahm, habe indes schon den Medienwandel zum Tonfilm begleitet. So stellten viele Tonfilmoperetten der 1930er Jahre lange Einstellungen demonstrativ zur Schau, die sich deutlich von der Montagetechnik des Stummfilms absetzten. Schweinitz markiert damit ein historisch wichtiges Phänomen und Diskursmotiv im medialen Wandel. Darüber hinaus deutet er die Funktion der langen Einstellung als Stimulierung des Staunens über die Produktions- bzw. Inszenierungsleistung. Die „Ästhetik des Staunens“ erscheine so als ein angestrebter Begleiteffekt des medialen Wandels, dessen Tragweite ebenso etwa den filmproduktiven Einbezug der Digitalkamera sowie den Event-Hype der heutigen Zeit betrifft.

Stephan Brössel

Mit dem Begriff der ‚diegetischen Zeit‘ brachte Stephan Brössel einen weiteren Aspekt der Konzeptualisierung von Echtzeit ins Spiel. Ausgehend von einem früheren Vortrag im Rahmen des Projekts knüpfte er an Étienne Souriaus Überlegungen zur filmischen Diegese an und erläuterte die Beobachtung, dass Filme etwa zyklische (Groundhog Day), synthetische (The Matrix), paradoxale (Picnic at Hanging Rock), retardierende (Inception) oder akzelerierende Zeitmodelle (Star Trek: Wink of an Eye) etablieren. ‚Echtzeit‘ sei folglich nicht nur als relationale, sondern vor allem auch als relative Größe zu begreifen, die determiniert werde durch die Konstitution bestimmter Weltmodelle.
Weiterführend klassifizierte er derartige Welten als solche, die die Koppelung divergenter Realitätssysteme geltend machen, wobei diese Systeme mit unterschiedlichen Zeitmodellen korreliert seien. ‚Echtzeit‘-Darstellungen fungieren in diesem Zusammenhang als Marker der jeweils vorliegenden Zeitmodelle.

 

 

 

Ursula von Keitz

Bei der Konzeptualisierung von Echtzeit, so Ursula von Keitz, spielen sowohl die technischen Voraussetzungen eine entscheidende Rolle (analoges vs. digitales Aufzeichnen, statische Kamera vs. Handkamera) als auch die Variabilität und Dichte des Gezeigten. Am Beispiel einer langen Einstellung aus Andersons Songs from the second floor (2000), in der extradiegetische Musik in intradiegetische Musik übergeht, legte sie dar, dass die Szene artifiziell bzw. irreal und nicht authentisch wirkt, und der Film dadurch ein Entleerungsphänomen repräsentiere. Diskutiert wurde im Anschluss an den Beitrag, inwiefern Planfilme sich durch eine Anthropomorphisierung der Kamera auszeichnen.

Andreas Blödorn

Andreas Blödorn zufolge gehört die ‚Abweichung‘ zum Konzept der Echtzeit. Hier haben wir eine Parallele zu Jörg Schweinitz’ These, derzufolge Echtzeit als Gegenbewegung zum Hollywood-Kino im Sinne einer Ästhetik des Staunens zu definiert sei. Am Beispiel der Eröffnungssequenz von Wes Andersons Moonrise Kingdom (2012) stieß er die Frage an, inwieweit die lange Einstellung genügt, um von Echtzeit zu sprechen, wenn auch die Wirkung dieser Einstellung
tableauhaft-statisch und gerade zeitenthoben wirkt.