Zwischen Alpha und Omega

7. Oso  C: Offb 22,12-14.16-17.20   

I
Auch am letzten Ostersonntag lesen wir im letzten Buch der Bibel, diesmal seine allerletzten Zeilen. Und die sind auf den ersten Blick noch verrätselter als alles zuvor. Ein ganzes Ensemble von Stimmen verlautbart da der Mund des Sehers. Denn nicht nur in erster Person von sich selbst spricht er, sondern durch ihn auch eine Stimme, die er vernimmt und die Jesus gehört. Aber daneben sprechen noch zwei andere: Der Geist und die Braut, also die Kirche. Und alle zusammen haben diese Stimmen mit der Erwartung eines Kommenden zu tun.

II
Vielleicht tut sich unserem Verstehen am ehesten ein Weg auf, wenn wir bei demjenigen Wort aus dem Mund des österlichen Jesus ansetzen, das uns geläufig ist, weil irgendwann aus einem seiner Teile ein Allerweltssprichwort wurde: Ich bin das Alpha und das Omega… – Wenn wir von etwas sagen, das sei das A und O einer Angelegenheit oder Sache, dann meinen wir: Das ist das Entscheidende, daran hängt alles, das macht das Ganze aus, worum es geht. Aber natürlich rührt dieser Sprachgebrauch nicht einmal von Ferne an das, was ursprünglich damit gemeint ist.

Das erschließt sich allerdings schnell, wenn man daran denkt, dass das Alpha und das Omega der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets sind. Beide zusammen umschließen das Gesamt der Buchstaben, aus denen wir alle Wörter der Sprache bilden: Also fassen das Alpha und Omega symbolisch alles ein, was man über Gott und die Welt und den Menschen und sein Geschick sagen kann. In ihm, der von sich sagt, er sei das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, Anfang und Ende, in ihm – also dem Jesus des Ostermorgens – ist das alles umschlossen. Durch ihn und mit ihm kann es benannt und verstanden werden. Alles, was es gibt, und alles, was im Menschen lebt! Und von daher leuchtet sofort auf, warum da auch vom Baum des Lebens und von den Toren der Stadt die Rede ist. Denn wer genau genug hinhört, entdeckt, dass in diesen Zeilen – typisch für den Schluss eines Buches – genau von dem wieder die Rede ist, worum es ganz am Anfang der Bibel geht. Nur, dass von diesem Anfang jetzt im Licht Jesu gesprochen wird.

III
An diesem Anfang heißt es: Gott habe die Welt geschaffen, den Menschen mitten in den wunderbaren Lebensgarten gesetzt, dass er ihn hüte, bebaue und genieße. Und nur den Baum in der Mitte, den Baum des Lebens habe er der Verfügung entzogen, als kleines Erinnerungszeichen, dass der Mensch nicht aus sich selbst über das Leben verfüge, sondern dass es Gabe, Geschenk sei. Der Mensch, so geht die Geschichte bekanntlich weiter, hat das nicht glauben wollen, hat Gott verdächtigt, ihm möglicherweise doch etwas an Leben vorzuenthalten, hat darum trotzdem nach dem Baum des Lebens gegriffen – und entdecken müssen, wie furchtbar das Leben in diesem Weltgarten sein kann, wenn es nicht mehr umfangen ist von der Atmosphäre des Gottvertrauens. Alles, was nach dem Sündenfall über ein paar tausend Seiten hin in der Bibel erzählt wird - einschließlich der Jesus-Geschichten - hat nur ein Thema: Wie Gott ringt, das aufgekündigte Vertrauen des Menschen wiederzugewinnen.

Das Kühnste, was er sich dazu einfallen ließ, war – Jesus. Unter Verzicht auf sich selber als einer unseresgleichen uns an die Seite zu treten, um uns wieder für sich zu gewinnen: Mehr konnte Gott nicht tun. Wenn Gott von sich aus dorthin geht, wo der Mensch ist, dann hängt einzig an diesem, die Hand der Versöhnung zu ergreifen. Jesus der Christus steht für Gott, hat zuinnerst mit jenem Anfang von allem zu tun und bringt auch zum Ende, was seither zwischen Gott und Mensch geschah.

Anders gesagt: Mit Jesus ist die Frage eindeutig beantwortet, die der Mensch sich stellte. Ob denn Gott es wirklich gut mit ihm meine. Wer diese Antwort annimmt, so der Seher weiter, wer also diesem Jesus traut und ihm treu bleibt, der hat Anteil am Baum des Lebens. Das meint: Von Jesus her und durch ihn wird offenkundig, dass das Gebot des Anfangs, sich nicht am Lebensbau zu vergreifen, überhaupt nicht darauf zielte, dem Menschen etwas nicht zu gönnen. Es ging einzig darum, gegenwärtig zu halten, dass der Mensch das Leben nur in einem Vertrauensverhältnis zu Gott menschlich leben und auch aushalten kann.

Sich zu Jesus bekennen, sagt der Seher, ist soviel wie: Vom Baum des Lebens essen, also den Hunger nach Leben stillen, lebenssatt sein. Das freilich wird nur verspüren, wer im Vertrauen auf Gott einverstanden ist mit dem Leben samt seiner Endlichkeit und zugleich im Blick auf Jesus gewiss geworden ist, dass das irdische Ende das Leben nicht widerlegen kann. Schon früh haben die Christen dieses neue Anteilhaben, also Essen vom Baum des Lebens, das nicht mehr enttäuscht, weil es nicht mehr aus Missvertrauen gegen Gott, sondern aus Gottvertrauen geschieht, mit dem Essen vom Tisch des Herrn in Verbindung gebracht. Und sie hatten recht. Wer sich mit Jesus Christus so verbindet, wie das der Empfang der Kommunion zum Ausdruck bringt, hat eindeutig die Frage beantwortet, wer Gott für ihn oder sie ist: Einer, der mir das Leben gönnt und der mehr als genug davon übrig hat für mich. Und wenn Menschen die Frucht vom Kreuzbaum, das Brot des Lebens, den Leib Christi teilen, wachsen sie zusammen und werden sie verwandelt in die neue Gemeinschaft der Liebe, für die das Sinnbild der Stadt mit den offenen Toren steht, das neue Jerusalem. Die Braut, also die Kirche, ist dessen Anfang. Deswegen ruft sie dem suchenden Menschen – also uns – durch den Geist, der in ihr waltet zu: Komm!

IV
Dieser Traum vom neuen Paradies und der himmlischen Stadt ist uns nicht fremd. Er lebt in uns, seit dem ersten Atemzug, den wir taten. Schon damals hat ihn uns der Geist in die Seele gesenkt, er, der alles durchwaltet vom Größten bis zum Kleinsten. Huub Osterhuis hat dieses Geheimnis einmal in Versen verdichtet, die den Titel Die sieben Flammen tragen:

Wie ein jeder weiß,
wohnen sieben Flammen im Weltall,
und sie bilden zusammen
die Luft, die wir atmen,
und den Boden unter unseren Füßen,
kurzum, alles und jedes.

Aber nun wohnen da auch
sieben Flammen in jedem Menschen,
denn jeder Mensch ist ein kleines Weltall –


Die erste Flamme ist die Flamme der Sonne,
die die Quelle ist und der Wächter
aller Dinge.
So wird auch jedes Kind
ein wenig aus der Sonne geboren
und von der Sonne beschützt.

Die zweite Flamme ist die Flamme der Sprache.
Mit feurigen Worten
suchen Menschen einander,
und eine feurige Zunge, die stammelt,
ist besser als ein kluger Kopf,
der schweigt.

Die dritte Flamme ist die Flamme der
Leidenschaft.
Sie lehrt einem die Liebe,
sie erfasst einem den ganzen Leib,
so dass ein Mensch
eine brennende Seele wird,
ein lodernder Baum, der heil bleibt.

Die vierte Flamme ist die von Hunger und Durst,
wie geschrieben steht:
Hunger ist ein Feuer, das Steine verschlingt,
Durst ist ein Feuer,
nicht auszulöschen von einem Meer.

Die fünfte Flamme ist Gott,
der seine Funken aussendet,
in alles, was lebt,
bis in den Himmel und in den Abgrund.

Die sechste Flamme ist die Flamme der Musik –
Man kann sie in den Ohren haben,
um damit zu hören,
und im Mund, um damit zu singen,
in den Händen, um damit zu spielen
und in den Füßen, um damit zu tanzen.

Die siebente Flamme ist die Flamme der Hoffnung,
die aus Menschen
Kinder, Landstreicher und Propheten macht,
so dass sie singen:
Siebzig mal sieben Bäume
Werden blühen, wo wir wohnen,
Licht wird auf dem Wasser schäumen.

V
Das alles entdeckt wieder, wer seine Sehnsucht nach Leben dem österlichen Jesus anvertraut und sich von ihm, dem Morgenstern, führen lässt. Wenn so viel an Jesus hängt, dann können wir nichts Besseres tun als der Seher in den letzten Worten der Offenbarung. Er ruft: Komm, Herr Jesus! Und er meint damit: Mach du, Herr, dich kund, wer du bist und was du uns bedeutest! Anders gesagt: Wer Sehnsucht hat nach Leben, wird über alle Unterschiede zwischen damals und heute entziffern können, was ihm der Seher der Offenbarung zu sagen und zu schenken hat. Und noch eins verbindet uns mit ihm: Die Schlusszeilen seines Buches mit ihren mehrfachen Bittrufen „Komm!“ verraten, dass er sein Schreiben im Gottesdienst der Gemeinde verlesen wissen wollte. Das war für ihn der Ort, wo die Sehnsucht nach dem wahren Leben wach gehalten oder neu geweckt wird. Das ist noch immer so. Darum kommen wir jeden Sonntag zusammen.