Das erste Wunder

Hl. Stephanus  A: Apg 6,8-10; 7,54-60


I
Vorgestern haben wir Heilige Nacht gefeiert, gestern den Christtag. Heute kommt noch ein Fest dazu, ein ganz anderes freilich. Wir denken an den Hl. Stephanus, den ersten Märtyrer der Kirche. Sein Gedächtnis war auch der erste Feiertag der jungen Kirche nach dem Osterfest. So wichtig, dass das später immer wichtiger werdende Weihnachtsfest den Stephanustag nicht abwerten, geschweige denn verdrängen konnte. So sind zwei ganz und gar verschiedene Feste zusammengewachsen. Das mag man Zufall nennen. Heimlich aber verbindet sie ein Gemeinsames.

II
Stephanus war einer der sieben Diakone, die die Apostelgeschichte erwähnt. Zusammen mit seinen Kollegen hatte er die Aufgabe, sich – modern gesprochen – der Caritas anzunehmen, damit sich die Apostel ganz der Verkündigung des Evangeliums widmen konnten. Bei der Ausübung dieses Dienstes kam er mit weiß Gott wie viel Leuten zusammen, kam wohl auch ins Disputieren. Im Grunde hat er vermutlich nichts anderes getan als das, was im 1. Petrusbrief 3,15 allen ins Stammbuch geschrieben ist, die irgendetwas mit Verkündigung zu tun haben: Seid stets bereit, Rede und Antwort zu stehen über den Grund der Hoffnung, die euch beseelt. – Die Art, wie Stephanus den jungen christlichen Glauben verteidigte, hat manche allem Anschein nach provoziert, schließlich gereizt bis aufs Blut.

Eines Tages lief das Fass über: Stephanus wurde in einer Art spontanem Pogrom gesteinigt. Der nüchternen Erzählung dieses Ereignisses fügt Lukas in der Apostelgeschichte den Satz an: Die Zeugen, also die, die gegen Stephanus auftraten, legten ihre Kleider zu Füßen eines jungen Mannes nieder, der Saulus hieß.

So beginnt die Geschichte vom ersten Wunder, das nach Ostern geschah. Der Mord an Stephanus nämlich wuchs sich zum Auslöser der ersten großen Christenverfolgung aus. Die Zerstreuung eines Gutteils der Jerusalemer Gemeinde in alle Winde hätte nach menschlichem Ermessen zum Zerfall, also zum Ende der jungen Kirche führen müssen. Verblüffenderweise geschah das Gegenteil: Wo immer die in die Flucht geschlagenen Christen hinkamen, erzählten sie auch in der Fremde die Jesus-Geschichten. Und die Leute hörten ihnen zu, hörten ihnen so zu, dass eine nach der anderen neue kleine Gemeinden entstanden. Durch die erste Verfolgung bereits begann die Kirche sozusagen katholisch zu werden im ursprünglichen Sinn dieses Wortes: Sie fing an, die Völker und Sprachen ihrer Zeit zu umfassen.

III
Das freilich war nur die eine Hälfte des ersten Wunders nach Ostern. Die zweite Hälfte hat mit demjenigen zu tun, der beim Mord an Stephanus die Kleider der Steiniger bewachte und also dem Geschehen zustimmte: mit Saulus. Ein paar Verse nach unserer Lesung vorhin erzählt die Apostelgeschichte nämlich davon, dass Saulus durch diese Zeugenschaft bei der Beseitigung des Stephanus zum offenen Christenverfolger wurde. Aber gar nicht so viel später wird sich dieser Saulus bekehren, wird er fortan Paulus heißen und das werden, was man später völlig zu Recht „Völkerapostel“ nennt. Der also, der den christlichen Glauben über den jüdischen Kulturkreis hinaus zu den Heiden trägt und in rastlosen Missionsreisen, die ihn wahrscheinlich bis nach Gibraltar geführt haben, das Evangelium in der damals bekannten Kulturwelt einwurzelte. Der, den Lukas in der Stephanusgeschichte als das heimliche Zentrum der Feindschaft gegen Christus benennt, eben der in Person ist es, der wie kein anderer die Ausbreitung des Glaubens an Christus in der Welt seiner Zeit vorantreibt.

IV
Das sind schon mehr als seltsame Verkehrungen: Indem sie vertrieben wird, findet die junge Gemeinde Heimat. Den einen bestimmten Ort hat sie verloren; dafür ist sie überall zu Hause. Und nicht weniger zum Staunen: Der fanatische Verfolger wird zum brennenden Verkünder. Dieser wunderliche Gang, den die Dinge so nehmen, – das ist auch die heimliche Gemeinsamkeit zwischen dem Stephanusfest und dem Christtag: Gott erweist seine Gegenwart und Treue am allermeisten dort, wo wir es nie und nimmer erwarteten. Tod und Verfolgung werden wie von selbst zu Leben und Segen, wie bei Stephanus und Saulus/Paulus. Der Herr der Gestirne, der dreimal Unbegreifliche, den Erde und Himmel zusammen nicht fassen, der spricht in der Geburt eines Menschenkindes bis zum Innersten seines Wesens aus, wer er in Wahrheit ist - das meint Weihnachten. Ich glaube, zum Christsein gehört ein Stück Aufmerksamkeit auf alles im Leben, was uns Menschen nach unseren Maßstäben nicht einleuchtet. Denn darin will Gott, so scheint es, zu allererst von uns gefunden werden.

V
Und könnte gar sein, dass das auch für unsere unmittelbare Gegenwart gilt? Wir haben als katholische Kirche ein annus horribilis hinter uns, ein Schreckensjahr, in dem sich Supergau an Supergau reihte: Zuerst die Missbrauchsskandale, dann die unsäglichen Geschichten im Bistum Augsburg; das offenkundige kommunikative Versagen römischer Behörden in wichtigen Belangen; ein Papst, der völlig unpolitisch über allem steht und statt zu regieren und bischöfliche Knallköpfe in den Senkel zu stellen, lieber an seinem Jesus-Buch weiterschreibt. Ich verstehe das ja. Ich verstehe es wirklich, weil ich auch lieber Bücher schreibe als im kleinen Geviert einer theologischen Fakultät Politik zu machen, was mir derzeit von meinen Kollegen aufgetragen ist. Aber wenn ich ein Amt habe, dann habe ich es und muss es auch ausfüllen. Und dann die jüngsten Bischöfe in Deutschland, die eigentlich nur durch Peinlichkeiten auffallen. Manchmal denke ich mir: Wie in der Endphase der DDR.  Alles Fassade. Wir stehen vor einer Implosion, in der sich die potemkinschen Dörfer der Volkskirche in einer Staubwolke auflösen. Was wird dann bleiben? Auch eine Stephanus-Situation? Ich hoffe es. Denn so etwas hat immer Überraschendes an sich und macht diejenigen, die darin verwickelt sind, jedes Mal zu unverhofft Beschenkten.

VI
Christinnen und Christen sind ja vom Wesen weihnachtliche Menschen - angefangen vom Beschenkt Werden in der Taufe bis hin zu dem Augenblick, da ihr Leben endet und sie in diesem Ende noch einmal unverhofft und überwältigend ins Leben treten, weil sie der in Händen halten wird, der das Leben ist. Genau das hat Stephanus in einer Version geschaut, als seine Gegner ihn angriffen: Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur rechten Gottes stehen, sagte er dafür. Mit Weihnachten ist offenbar geworden, dass Gott  für uns alles bereithält, was er hat, sich selbst. Not muss uns darum nicht ängstigen, nicht einmal der Tod. Es wartet das Leben auf uns. Dafür steht heute Stephanus.