Verspätetes Weihnachtsgedicht

4. So C: Lk 4, (16) 21-30       

I
Vor ein paar Wochen nahm ich im Zug eine liegen gelassene Zeitung zur Hand. Kann sein, dass sie aus dem Umkreis einer kirchlichen Gruppierung stammte. Die üblichen Themen. Dann stieß ich auf ein paar Zeilen, an denen ich hängen blieb:

Keine Firma ohne Feier,
kein Büro und auch kein Heim.
Überall dieselbe Feier,
überall derselbe Reim.
Ob Verein, Behörde, Schule,
überall dieselbe Spule:
Weihnachtsbäume. Engelshaar,
sanfte Reden Jahr für Jahr.
Phrasen, Rührung,
dann Bescherung,
amtliche Gesichtsverklärung,
Propaganda, Unterhaltung,
ziemliche große Lärmentfaltung,
Kaffee, Rauch- und Stollenduft.
In dem Saal der hundert Kerzen
und der sonst so harten Herzen:
Weihnachtsfeierinflation.
Ganz am Rande: Gottes Sohn!

II
Jetzt fragen Sie wahrscheinlich: Was will der da gut vier Wochen nach den Feiertagen mit diesem ironischen Gedicht über Weihnachten? Ganz einfach: diese Verse über unsere Art, den Eintritt Jesu in die Welt feiern, – diese Zeilen bringen schonungslos auf den Punkt, was Jesus nicht bloß am Weihnachtstag, sondern was ihm immer schon, vom Anfang bis zum Ende und bis heute widerfuhr und widerfährt: Jesus am Rand. Und das habe nicht ich mir am Schreibtisch ausgedacht, sondern das steht wortwörtlich im Evangelium. Vorhin haben wir’s gehört.

III
Lukas erzählt uns, wie Jesus erstmals in seiner Heimatstadt öffentlich auftritt. Man hatte schon gehört von ihm – von seinen faszinierenden Predigten und auch von den Taten anderswo. Und jetzt kommt er heim. Am Sabbat bei Synagogen-Gottesdienst tut er, was jedem erwachsenen Juden zu tun erlaubt war: er liest ein Stück aus dem Alten Testament vor und legt es aus. Prophetenworte liest er vor, die das ersehnte Kommen eines von Gott gesandten Retters verheißen, – eines, der allem beschädigten Leben aufhelfen und Freiheit schenken wird. Jesu Auslegung dieser uralten Verheißungen besteht aus einem einzigen Satz: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt. Heute! In dieser Primizpredigt von Nazaret wird das Gotteswort des Alten Bundes zum Evangelium, zur Proklamation einer guten Nachricht.

Und frappierend: die Leute scheinen auf diese Ansage geradezu gewartet zu haben: Seine Rede fand bei allen Beifall, berichtet Lukas. Natürlich staunen sie, sind wohl auch fassungslos. Woher hat er das alles? Wie kommt er dazu, so zu reden? Ist er nicht einer von uns? Hier aufgewachsen, jedem bekannt von Kindesbeinen an. Ist er nicht der Sohn des Zimmermanns? Auf seltsame Weise zweideutig, nämlich gespannt und irritiert zugleich wird ihr Staunen gewesen sein.

IV
Doch Jesu Reaktion auf den Empfang in seiner Heimatgemeinde macht die Situation mit ein paar Sätzen eindeutig. Mit einem Sprichwort und zwei Beispielen entlarvt er das Staunen der Leute: Ihr Beifall ist nichts anderes als Ausdruck der Erwartung, dass er jetzt für sie, für die Seinen, Wohltätiges ins Werk setzen wird. Was du rund um Kafarnaum getan hast: Brot vermehrt, Kranke geheilt, Dämonen ausgetrieben, das wirst – wirst!!!! – du jetzt auch für uns tun. Bitte sehr. Daher ihr Wohlgefallen an dem seltsamen Prediger. Das „Arzt, heile dich selbst!“ aus dem Sprichwort hatte den Nagel auf den Kopf getroffen: Arzt, heile uns! Sonst bist du keiner – so treten Jesus seine Landsleute entgegen. Dass er sie mit seinem Hinweis auf Elija und Elischa dann auch noch daran erinnert, dass immer schon gerade die die Wunder Gottes erfahren haben, die nicht einmal auf den Gedanken gekommen wären, darauf einen Anspruch zu haben – und dass den andern, den auf Recht und Billigkeit Pochenden, das Wunderbare verschlossen blieb, – das macht das Fass voll. Jesus stellt seine Zuhörer in ihrem Zweckmäßigkeitsdenken bloß, in dem sie auch noch das Heilige – Gott selbst – dienstbar zu machen suchen. Und das ist so beschämend, dass der anfängliche Beifall von einem Augenblick zum andern umschlägt in blinde Wut gegen den, der das aufdeckt. Aus den Augen muss der, der daran Schuld ist, dass der ganze Egoismus und die Erbärmlichkeit des gelebten Werktags – auch des religiösen Werktags – so zutage tritt: Und sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus und brachten ihn an den Rand des Berges, um ihn hinabzustürzen. Jesus am Rande! Schier unglaublich: Nach dem siebten Satz seiner Antrittspredigt schon wird das Evangelium zur Passionsgeschichte.

V
In dem Augenblick, da sich die Einladung der Frohen Botschaft nicht mehr verwenden lässt zum Nutzen der eigenen Lebenspläne, wird der Bote dieser Botschaft marginalisiert, an den Rand hinausgedrängt. Dass Jesus drei Jahre später auf Golgatha draußen am Kreuz aus der Welt hinausgeworfen wird, außerhalb des Tores, wie der Hebräerbrief sagt (Hebr 13, 12-13), ist darum gar nichts Überraschendes mehr, sondern nur noch Vollendung dessen, was mit der Predigt von Nazareth seinen Anfang nahm. Es gehört untrennbar zum Geschick Jesu, dort wo er sein Herzensanliegen auch nur ausspricht, an den Rand getrieben, verdrängt, zum Schweigen gebracht zu werden. Die Prophetenworte aus Jesu Mund in der Synagoge von Nazaret benennen diese Anliegen, die Mitte seiner Sendung in absoluter Unzweideutigkeit: gute Nachricht für die Armen bringen, Entlassung den Gefangenen, Freiheit den Zerschlagenen. Das heißt: allem kurzgehaltenen und zu kurz kommenden Leben beispringen, ihm aufhelfen, alles Leben seiner unentwindbaren Würde, seines Selbstandes, seiner Freiheit zu versichern, die es von Gott her besitzt. – Logisch, dass diese Ansage als unsägliche Provokation überall dort wirkte, wo ein Oben und Unten, ein Treten und Getretenwerden gilt, wo die einen – oft raffiniert getarnt auf Kosten der anderen leben und Kosten und Nutzen und Macht den Ton angeben. Evangelium heißt doch soviel wie: Mensch, du bist! Das genügt! Ich habe dich gewollt. Lebe! Das Auftreten Jesu ist die göttliche – die definitive – Inkraftsetzung dieser Zusage. Heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt. Was Wunder, dass es in diesem Heute zum ersten Hinauswurf Jesu kommen muss in einer Welt, die weiß Gott viel von Freiheit und Würde schwätzt, beides aber umso weniger gewährt. Heute hat es sich erfüllt! Heute ist immer heute. Auch heute, Lukas hat uns nur den Normalfall der Konfrontation von Welt und Evangelium erzählt. Das Heute von Nazaret ist immer noch heute. Auch heute ist es heute:

VI
Wenn „Ausländer raus!“ an die Wände geschmiert wird, also menschliche Freiheit und Würde mit Füßen getreten werden, dann ist das jesuanische Heute angesagt. – Wenn gegen die Asylbewerber vom Leder gezogen wird, dann ist auch jesuanisches Heute. Und wenn sich selbst sogenannte konservative Politiker bisweilen dazu hinreißen lassen, in dieses Stammtisch-Horn zu stoßen, dann wird’s so absurd wie einst in Nazaret, wo akkurat die Frommen die Frohbotschaft Gottes sich handgreiflich vom Leibe schafften. – Wenn auf Teufel komm raus die Güter dieser Erde verschwendet werden, weil manche bald nicht mehr wissen, wie sie den Kitzel ihres Größenwahns und ihrer Gurgel befriedigen sollen, obwohl das schon längst auf Kosten der jetzt schon Armen geht, dann ist auch jesuanisches Heute angesagt. Und übrigens auch für die Kirche gilt das: Wenn in kirchlicher Amtsausübung – wie das bisweilen geschieht – die Würde eines Bistums mit Füßen getreten wird, so ungeheuerlich, dass es einem als Katholiken vor anderen Christen und Nichtchristen die Schamröte ins Gesicht treibt, da ist auch Heute angesagt: das Heute, dass Würde und Selbstbestand von Gott – von Gott! – für alle in Geltung gesetzt sind.

VII
Allerdings: Wo immer eine oder einer – aus welchen Gründen immer – sich gedrängt weiß, Jesu Heute der frohen Botschaft anzusagen, wird es ihnen nicht anders gehen können als ihrem Herrn in Nazaret. Eines freilich darf sie selbst dann noch trösten: Gott selbst hat gerade den hinausgeworfenen Jesus, den zum Schweigen gebrachten Gekreuzigten bestätigt, in dem er ihn, den Getöteten, als Lebendigen bezeugt und zur Erfahrung gegeben hat. Auferweckung sagen wir dafür. Ostern heißt ja: Jesus hat recht gehabt. Seine Botschaft vom in Gott festgemachten, also glaubenden und darum freien Menschen ist wahr. Jede und jeder Getaufte ist – egal wo – befähigt und berufen, das jesuanische Heute von Nazaret zu leben und anderen anzusagen, die seiner bedürfen. Das ist unser aller Kompetenz und Lehramt als Christinnen und Christen. Wenn Sie dabei hinausfliegen, ist das durchaus normal. Ganz am Rande: Gottes Sohn. Wie sollten wir uns dann behäbig in den Wohnzimmern dieser Welt einrichten können? Erst wenn ich Jesu Erfahrung von Nazaret teile und bejahe, wird das erlösende Heute von Nazaret mein eigenes Heute.