Am Ende: Dank

Totengedenken WS 2012/13 an Inge Jünemann, Peter Lüning, Vinzenz Pfnür, Paul Schladoth: Röm 11,33-36 + Lk 20, 27-38 


I
Eigentlich ist es seltsam: Da geht ein Leben zu Ende, die Angehörigen trauern, ein Platz in ihrer, in unserer Nähe bleibt auf immer leer. Und trotzdem feiern gläubige Christinnen und Christen in einer solchen Stunde Gottesdienst, Katholiken tun es gar in Gestalt der Eucharistie, also einer Dankfeier.

Wenn ein Christ und eine Christin sagen: Ich glaube an Gott, so bekennen sie damit nicht bloß:
-    es gibt eine hohe Majestät in der Ferne;
-    es gibt einen Schöpfer allen Daseins;
-    es gibt einen Richter von Zeit und Geschichte.

Sondern sie bekennen vor all dem, dass Gott, der Geheimnisvolle, sich vom ersten Augenblick seiner Lebensgeschichte an, in die Zeilen des Daseins einschreibt, einschreibt als lebendige Wirklichkeit genauso, wie das Jesus von Nazaret bezeugt und durch das Geschick seines eigenen Lebens beglaubigt. Dieses sein Zeugnis für Gott besagt:
-    Da ist einer unter mir, der mich trägt, gleichsam wie der Boden unter meinen Füßen, der mich ausschreiten lässt in die Weite meiner Welt: Gott.
-    Da ist einer hinter mir, der mir den Rücken stärkt, wenn ich ohnmächtig an meine Grenzen stoße, und der mir aufrechten Gang verleiht, weil er zu mir steht: Gott.
-    Da ist einer neben mir, der mein Bangen und Hoffen, mein Glück und meine Grenzen kennt, der mich versteht und mein Leben mit mir teilt: Gott.
-    Da ist einer vor mir, der mich einlädt, ja mich lockt und mich zieht, damit ich werde, was ich bin: Gott.

Das ist Gott. Am Dornbusch hat er sich vor Mose genannt: IHWH. Erich Zenger hat immer daran erinnert, dass es sich bei diesem Tetragramm genau besehen um keinen Eigennamen, sondern um einen Kurzsatz handelt. Wörtlich übersetzt heißt IHWH: „Er erweist sich als...“ Der Satz ist also unvollständig. Er verlangt nach Ergänzung. Man muss die Wege und Wendungen eines Menschenlebens einsetzen in den Satz, dann geht einem auf, wer Gott ist und wer dieser Mensch ist oder war.

II
Genau das tun wir auch in dieser Stunde, da wir namentlich dreier Mitglieder unserer Fakultät gedenken, die Gott in diesem Jahr zu sich gerufen hat. Die Studierende der Theologie, Frau Dr. med. Inge Jünemann, Privatdozent Peter Lüning, Prof. em. Vinzenz Pfnür und Prof. em. Paul Schladoth. Wir setzen in den Gottesnamen ihr 68jähriges, 43jähriges, 75jähriges und 85jähriges Leben ein. Und wenn man das tut, mag sich in der Trauer der hinterbliebenen Angehörigen und dem vielleicht wehmütigen Gedenken Nahestehender schon jetzt auch ein Hauch von Dankbarkeit fühlbar machen.

Anhalt findet ein solcher Gedanke in den Psalmen, die eben dies auszeichnet, nicht von einem Jenseits zu sprechen, sondern davon, dass das Endliche, Vergängliche gerade Gottes Gottseins wegen – wenn er denn wirklich Gott ist – nicht in ein Nichts fallen kann. In Ps 139 etwa sagt der Beter in notvoller Stunde:
Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir bekannt…
Du umschließt mich von allen Seiten und legst deine Hand auf mich.
Steige ich hinauf in den Himmel, so bist du dort;
Bette ich mich in die Unterwelt, bist du zugegen.
Würde ich sagen: Finsternis soll mich bedecken, statt Licht soll Nacht mich umgeben, auch die Finsternis wäre für dich nicht finster,
die Nacht würde leuchten wie der Tag, die Finsternis wäre wie Licht.
Deine Augen sahen, wie ich entstand, in deinem Buch war schon alles verzeichnet,
meine Tage waren schon gebildet, als noch keiner von ihnen da war.
Wollte ich sie zählen, es wären mehr als der Sand. Käme ich bis zum Ende, wäre ich noch immer bei dir.
Selbst an der letzten Grenze seiner Zeit bleibt unverloren, was ein Mensch war, wenn Gott Gott ist.

Wenn also die Worte des Psalmbeters wahr wären, weil mein Gott schon vor meinen Tagen war und nach meinen Tagen ist und weil er, da es mich nun einmal gab mit meiner Spanne Leben, für immer dieser mein Gott bleibt, meine Tage also aufgehoben sein werden in seiner Ewigkeit? So zu fragen, widerspricht nicht der Vernunft in einem blinden Wunschdenken. Und zugleich ermutigt, so zu fragen ausgerechnet das, was Jesus im Evangelium denen entgegen hielt, die von einer Auferstehung der Toten nichts wissen wollten. Denn er erinnert seine Widersacher, die konservativen Sadduzäer, an die Geschichte vom Dornbusch – und mit welchem Namen Gott sich in dieser Geschichte selbst bezeichnet: Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs. Menschen, die damals schon Jahrhunderte tot sind, werden auf einmal wieder genannt, als Gott in biblischen Augen auf bisher nie dagewesene Weise zu erkennen gibt, wer er selber ist: Ich bin der Ich-bin-da-für-euch, heißt der am Dornbusch offenbarte Gottesname. Ihre Namen sind so diesem seinen Namen sozusagen eingeschrieben. Was sie gelebt, geglaubt, gehofft haben, gehört untrennbar in das Wesentliche, die Mitte dieses Gottes hinein. Wie aber könnten sie dann tot sein für diesen Gott, nichts und nichtig, so wie sie für Menschen aus ihrer endlichen Perspektive gewiss als tot gelten? Und sie gehören so prominent in Gott hinein, weil sie während ihrer Lebtage Gott in ihr Leben hinein zu nehmen gesucht hatten. Daran erinnert Jesus, um zu sagen, dass, was von diesen Vätern des Glaubens gesagt wird, ein jeder und eine jede von sich sagen kann, die selber ihr Leben in die Kraftlinien dieses Glaubens zu stellen wagen.

Wenn es also wirklich wahr wäre? Wo ein Mensch in der ganzen Aufrichtigkeit seines Herzens den Namen dieses Gottes in den Text – wörtlich also: das Gewebe – seines Lebens aus Gedachtem, Gesagtem, Getanem und Gelassenem einschreibt, dürfen sich Vernunft und Glaube im Bekenntnis zur Auferstehung der Toten und zum ewigen Leben verschwistert wissen – unterwegs zu jener Heimat, die uns die letzten Seiten der Bibel als das „Neue Jerusalem“ vor Augen stellen, jene Stadt mit den offenen Toren, die weder Leuchten noch einen Tempel braucht, weil Gott selbst sie licht macht und durchwaltet.

IV
Dank ist die erste Regung des glaubenden Menschen vor seinem Gott. Dank nicht nur an den ganz großen Wendepunkten eines Lebens wie etwa einem Jubiläum, einem runden Geburtstag, sondern Dank auch für viele, oft so unscheinbare, so schnell übersehene Spuren des Guten in einem Leben: die Treue und Sorge, die dieser Mensch uns geschenkt hat, die Freude eines guten oder tröstenden Wortes, das er für uns übrig hatte, sein Humor, sein Lob für etwas, das uns gelungen war, seine Erleichterung nach einer überstandenen Gefahr, in die wir geraten waren.

V
Eben dazu aber braucht es unsere Aufmerksamkeit: Wie der eigene Schatten wird uns unser Leben lang die Versuchung der Selbstverständlichkeit begleiten. Immer wieder geschieht doch genau das, was Jesus auf dem Weg nach Jerusalem mit den zehn Aussätzigen widerfuhr: Zehn bitten ihn um Hilfe in ihrer Not; zehn werden geheilt; einer kehrt zurück und sagt ihm danke dafür. Ganz glauben bedeutet: Nicht nur für 10 % eines Lebens Gott Dank zu sagen, für das, was mir vorderhand zupass kommt und sich einfügt in den Reim, den ich mir auf das Dasein mache. Glauben bedeutet: Überzeugt sein, dass ein ganzes Leben des Dankes wert ist. Also danke sagen können auch noch für menschlich gesehen dunkle Stunden, weil auch in ihnen noch geschehen kann, was wesentlich ist für einen Menschen. Auch für  jede und jeden der Verstorbenen, derer wir heute gedenken, gab es gewiss solche Stunden: in der Not der unheilbaren Krankheit in noch jungen Jahren bei Peter Lüning, die Frau und die kleinen Kinder vor Augen, ähnlich bei Frau Jünemann, die sich noch so viel vorgenommen hatte in der Theologie und im sozialen Engagement. Das Schicksal, zwei der eigenen Kinder zu Grabe tragen zu müssen bei Vinzenz Pfnür. Die schwere Krankheit, die die letzte Lebensphase Paul Schladoths verfinsterte.

Nur wer so von Gott und vom Leben denkt, wird auch etwas mit den Worten des Hl. Paulus aus dem Römerbrief anfangen können:
O Tiefe des Reichtums,
der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!
Wie unergründlich sind seine Entscheidungen,
wie unerforschlich seine Wege!...

VI
Ist das der Überschwang eines Menschen, der viel Glück im Leben hatte? Alles andere als das! Dahinter verbirgt sich etwas Anderes: ein ganz, ganz tiefes einverstanden sein Können mit dem Leben und dem Sterben aus der Gewissheit, dass beides unverlierbar in Gottes Hand gehalten, gleichsam ins Unvergängliche eingelassen ist. Auf bewegende Weise klingt das Gleiche – uns näher und fremder zugleich – auch in einigen Zeilen Jochen Kleppers an. Klepper gehört zu den großen Dichtern des geistlichen Liedes im 20. Jahrhunderts. Er, von Beruf evangelischer Pastor, war überzeugt, dass man nicht zeitenthoben Gott lobsingen kann. Darum darf nicht verwundern, dass vielen seiner Texte die Kollision zwischen Biographie und Zeitgeschichte zwischen die Zeilen geschrieben ist, die sich seit 1933 für ihn von Jahr zu Jahr verschärfte. Der Grund: Seine geliebte Frau war Jüdin. Das führte zunächst dazu, dass er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde, also Berufsverbot erhielt. Dann verlangten die Nazis, er solle sich von seiner Frau scheiden lassen. Als Jochen Klepper schließlich sieht, dass er Frau und Kind nicht bewahren kann, gehen die drei gemeinsam aus dem Leben. Dennoch konnte Klepper in jener sich verdüsternden Zeit noch folgende Verse dichten:
 „Ohne Gott bin ich ein Fisch am Strand
ohne Gott ein Tropfen in der Glut,
ohne Gott bin ich ein Gras im Sand
und ein Vogel, dessen Schwinge ruht.
Wenn mich Gott bei meinem Namen ruft,
bin ich Wasser, Feuer,
Erde, Luft.“

VII
Von Gott beim Namen gerufen, werde ich eingeborgen und hineinverwandelt ins Geviert der Urelemente des Kosmos, die, wie schon der Platonische Timaios weiß, so kunstvoll ineinander gefügt sind, dass ihr Band niemand auflösen kann, es sei denn ihr Urheber allein. Besser, sicherer könnte ich gar nicht aufgehoben sein. Jahrhunderte haben die Kirchenväter geglaubt, einer der Ihren habe den Dialog Timaios geschrieben – so sehr entspricht dieses Bild der großen, alles umgreifenden Harmonie der christlichen Hoffnung. Verse wie diejenigen von Jochen Klepper möchten auch nicht davon ablenken, dass zu einem Leben oft auch Unfertiges gehört und anderes, das der Versöhnung und Vergebung harrt. Wo Brüche waren – und wo fehlten sie ganz! – tragen die glatten Worte nicht. Das verbürgen die Dichterworte allein schon kraft ihrer geschichtlichen Geburtsstunde. Aber sie lassen uns zugleich auch ahnen: Es gibt mehr – und viel mehr –, als wir aufs Erste zu überblicken vermögen. Glauben heißt darum nicht zuletzt, Tag für Tag aufmerksam die Merkzeichen zu gewahren, die unserer Welt eingeschrieben sind, auf dass wir in der Hoffnung nicht nachlassen. Unsere vier Verstorbenen, deren wir jetzt gedenken, haben das auf je ihre Weise getan und sind darüber für die Ihren und für andere selbst solche Hoffnungsspuren geworden, die ins Große Gottes weisen. Das danken wir ihnen jetzt. Mögen Sie nunmehr in der Gemeinschaft der Heiligen das Osterfest mitfeiern, das nicht endet.