Tod und Leben sind eins

10. So C: 1 Thess 4, 13-18 (zugewählt) + Lk 7, 11-17

 

I
Eine altamerikanische Geschichte erzählt, wie eine Mutter einmal ihre Zwillinge dabei überraschte, wie sie insgeheim miteinander stritten. Der eine sagte: Lebendig sein ist besser!; und der andere: Nein, Totsein ist besser! Als sie ihre Mutter bemerkten, schwiegen sie, und seitdem sterben von Zeit zu Zeit manche Menschen. Natürlich werden andere geboren. Aber wenn die Frau, ohne sich bemerkbar zu machen, die Kinder ihren Streit hätte beenden lassen, dann hätte einer der Zwillinge die Oberhand über den anderen errungen, und es hätte kein Leben oder keinen Tod mehr gegeben.

II
Dieses Ende der Geschichte muss man sich bildhaft vorstellen: Hätte irgendwann einmal der Tod auch nur den Bruchteil einer Sekunde lang allein das Sagen, gäbe es auf alle Ewigkeit nichts Lebendiges mehr. Menschen, Tiere, Gräser, alles bis hinab zur kleinsten Lebenszelle würde der Vernichtung entgegenstürzen, und danach käme nichts. Einfach nichts. Das Nichts ist etwas, so leer, dass wir es uns im Grunde gar nicht vorstellen können.

Verrückterweise ist das Gegenbild nicht weniger erschreckend. Gäbe es kein Sterben, keinen Tod, blieben nur zwei Möglichkeiten: Das Lebendige, das es gibt, bleibt in alle Unendlichkeit, was es war. Niemals mehr änderte sich etwas. Nie würde etwas Neues kommen. Oder aber Leben brächte endlos Leben hervor und des Lebens Leben und des Lebens Lebens Leben – alles überwuchernd, am Ende sich selbst sogar, bis das Leben am Leben erstickte. Unsere Geschichte will sagen: Leben und Sterben gehören untrennbar zusammen – wie eineiige Zwillinge. Zum Leben gehört das Sterben, aber auch umgekehrt. Ohne das eine gäbe es das andere nicht. Und auch: Wer beide beieinander lässt, der kann leben und der kann sterben.

III
Das ist unstrittig wahr. Und doch hat es mit dem Sterben für uns Menschen schon immer und bis heute eine abgrundtiefe Not. Mit dem eigenen Sterben und mit dem derer, die uns nahe sind. Weil Christsein mit den letzten Fragen des Lebens zu tun hat, kann gar nicht überraschen, dass die Sache mit dem Sterben von allem Anfang an auch eine Antwort aus dem Glauben verlangte. Diese Antwort steht darum schon im ältesten Schriftstück des Neuen Testaments, das wir besitzen, im 1. Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Thessalonich.

Paulus hatte gehört, dass sich einige in der Gemeinde dort Sorgen um die Verstorbenen machten. Wenn einer begraben wird, ist dann alles aus? Ist er folglich auch abgeschnitten von dem, worauf Christen hoffen, vom Gerettetwerden durch Christus, davon, dass einmal alles gut wird, keiner mehr weinen muss, keinem schuldig gebliebenen wird, was gerecht ist? Der Apostel erinnert die Thessalonicher nur an Ostern, um ihnen diese Sorge zu nehmen: Gott hat seinen Jesus nicht fallenlassen im Tod. Er hat ihn aufgefangen bei sich. So ist er ihm, seinem Glauben, Hoffen und Lieben, gerecht geworden; so hat er sein Leiden in Freude gewandelt. Denn wer bei Gott ist, ist nicht tot, auch wenn er nicht mehr auf Erden lebt. Und genau das Gleiche gilt von jeder und jedem, der sich – auf welche Weise auch immer – diesem Christus anschließt und sich mit ihm verbindet. Durch Jesus hat Gott der Welt seine Nähe geschenkt. Wer sie annimmt, ist darum aufgenommen in Gottes Wirklichkeit und lebt.

Das aber heißt auch: Vor Gott sind Leben und Totsein im Letzten eins. Hat einer ja gesagt zu Gott, indem er ja sagte zu Christus, ist er eingetreten in jene Gottesgegenwart, die Leben bedeutet, und dort bleibt er, möge sein irdischer Leib auch schon längst zu Staub verfallen sein. Und wer auf Erden lebt und hier dieses ja spricht, geht dadurch ebenso ein in diese Gegenwart. Auch er lebt schon in Gott, obwohl er noch auf Erden ein Stück Weg zurücklegen wird. Wir Lebenden haben den Toten nichts voraus, sagt Paulus darum, und man muss hinzufügen: Sie, die Toten uns auch nichts.

IV
Vor Gott sind Raum und Zeit und Leben und Tod ohne Belang. Denn das alles ist in ihm. Wenn Paulus in der Glaubenssprache seiner Zeit vom Erzengel spricht, der ruft, von der Posaune, die erschallt, und davon, dass die Lebenden zusammen mit den Sterbenden auf den Wolken entrückt werden, will er sagen: Alles ist aufgehoben in Gott. Und eines allein zählt: Immer werden wir beim Herrn sein. Ist das wahr, steht trotz aller Trauer, die menschlich ist, das Leben nicht endlos gegen den Tod und der Tod gegen das Leben. Dann sind beide im tiefsten versöhnt. Das ist der Trost, den der Glaube uns schenkt, wenn wir dem Sterben begegnen.

V
Genau dieses Versprechen setzt auch unser Evangelium von vorhin ins Bild. Ins Bild einer Wundererzählung – weil es ja wirklich ein Wunder ist, wenn Menschen auch noch zur eigenen Endlichkeit „ja“ sagen können: Da kommt Jesus, gefolgt von den Jüngern und einer großen Menschenmenge, zur Stadt Nain. Vor der Stadt begegnet dieser Jesus-Zug einem anderen: dem Leichenzug mit der Mutter des jung Verstorbenen und den Vielen, die Anteil nehmen an ihrem Geschick. An der Spitze des Trauerzugs: die Bahre mit dem Leichnam. An der Spitze des Gegenzugs: Jesus. „Archegos tes zoes - Anführer des Lebens“ hat Petrus den Herrn einmal genannt nach Ostern, wie Apostelgeschichte Kapitel 3, Vers 15 festhält – und einige Kirchenväter der Spätantike sprechen vom „Christos choregos – Christus dem Chorführer“ und also Vortänzer, der die Prozession zum Leben hin anführt. Sie alle wussten genau, wovon sie sprachen. Leben und Tod begegnen sich da.

Den Tod hat Lukas dabei überscharf mit allen Zügen der Absurdität ausgestattet, wie sie einen im Grunde an jedem Sterbebett anspringen können: Ein junges Menschenleben ging da zu Ende. Oft genug habe ich das erlebt in meiner Zeit als Seelsorger in Gemeinde und Gefängnis: der 16jährige, der ein paar Mädels imponieren will, von einer knapp ein Meter hohen Staustufe springt, mit dem Kopf aufschlägt und in der Wasserwalze ertrinkt; der 22jährige, der sich aus einer schauerlichen Kindheit zwischen Vernachlässigung, Gewalt und Pornographie herausarbeitet zum Fachhochschulabschluss, das nötige Geld nächtens als Taxifahrer verdient und dann durch einen betrunkenen Fahrer, der ihm die Vorfahrt nimmt, zu Tode kommt. Der junge Drogenhändler, der gerade auf dem Absprung ist, den Verlust seiner Freundin nicht verkraftet und sich aufhängt. Mein Gott! Was hätte nicht alles werden können daraus? Wie viele uneingelöste Hoffnungen nimmt es mit sich hinab.

Aber mehr noch in Nain: Der einzige Sohn seiner Mutter war der Tote, der Sohn einer Witwe. Ihre ganze Hoffnung, vielleicht ihr Stolz, ihr Halt und ihre Sicherheit für das eigene Auskommen. Zieht dieser Tod der Frau nicht den letzten Rest Boden unter den Füßen weg? Wozu soll sie überhaupt noch leben? Frühchristliche und mittelalterliche Künstler haben genau das in ihren Bildern von dieser Geschichte gemalt: Die Häuser von Nain haben sie mit schiefen, verrutschten Wänden, Dächern und Fenstern dargestellt, wie wenn sie in einem schauerlichen Erdbeben tanzen würden, und das Gewand der trauernden Mutter hat meist die gleiche Farbe wie das Leichentuch des Sohnes. Will sagen: Der Tod hat ihr Leben schon vergiftet. Im Grunde ist auch sie schon tot, weil ihr ganzes Dasein, ihre Welt aus dem Lot geraten war. Inbild sinnlos gewordenen Lebens – diese Frau, der das Liebste genommen ist.

Nun aber – entscheidend, um dieses Evangelium nicht misszuverstehen –: Als der Herr diese Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr, schreibt Lukas. Nicht also den Toten sieht Jesus zuerst und wendet sich ihm zu, sondern der Mutter mit ihrer gebrochenen Existenz. Ihr Hingehen zum Grabe hält Jesus auf. Das tut er, indem er den Sohn anruft. Und was geschieht? Der Tote beginnt zu sprechen, sagt der Evangelist tief verschlüsselt. Der Tod, dieses verschlossenste Rätsel unseres ganzen Daseins, macht sich also vernehmlich, teilt sich mit und verbindet sich so wieder der Sphäre der Lebenden. Jesus hat ihn – den Tod – wieder hineingerufen in den Bereich des Menschlichen. Der Tod ist nichts, was das Menschsein ausstoßen müsste, um nicht vergiftet zu werden. Er gehört hinein und nur wer ihn darin lässt, dem wankt nicht der Boden unter den Füßen und stürzt nicht die Decke auf den Kopf. Ihn, den Tod, nicht nur seinen leiblichen, sondern den Tod in allen seinen vorweggenommenen Formen von Verlust und Ohnmacht und Verzicht darin lassen in unserem Lebenshaus, ihn annehmen als uns zugehörig, weil gerade so unser Dasein im rechten Maß und Lot bleibt, darauf kämen wir von selber nie. Denn in der angstbesetzten Not, uns selbst unser Dasein garantieren zu wollen, erfahren wir jeden Tod und jede Gestalt seines Vorscheins als unwiederbringliche Lebenseinbuße. Die kleinen und großen Tode annehmen können als etwas Menschliches, dazu braucht es einen, der genau weiß, was Menschsein heißt – und eben das weiß nur, wer Gott kennt – eben so, wie wir das von Jesus bekennen.

VI
Dass wir unser Evangelium als Inbild dieser helfenden Tat Gottes an der Mitte unseres Daseins lesen dürfen und gänzlich unterschätzten, wenn wir es für einen Bericht über ein Mirakel hielten, darauf verweist uns am Ende auch, wie Lukas die Umstehenden reagieren lässt: Von Furcht ergriffen, priesen sie Gott und sagten: Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten, Gott hat sich seines Volkes angenommen. Wäre es um eine Wundertat gegangen, die Leute wären entweder entsetzt geflohen oder sie wären wie Trauben um den wieder Lebendigen zusammengeströmt; sie hätten ihn betastet, bewundert, befragt. Und Jesus hätten sie auf die Schultern gehoben und gefeiert als Wunderheiler, zumindest hätten sie dieses Ereignis von jetzt an als Erweis seiner Macht und Autorität gelten lassen. Doch nichts von all dem: Ihre Reaktion besteht im Lobpreis Gottes. Und Jesus nennen sie einen großen Propheten – also einen, der kundtut und anschaulich macht, was Gottes Wille ist: dass wir lernen, Menschen zu werden, lernen, unser Leben von seinem Anfang bis zu seinem Ende menschlich zu leben – auch dort noch, wo uns Leid, Ohnmacht und einmal der Tod widerfahren. Unser Evangelium sagt dazu nicht weniger als dies: Dass es möglich ist, von Gott her solche Beirrungen meines Lebens anzunehmen ohne Angst und Verzweiflung. Und dass gerade durch solche Annahme unser Leben ins Lot kommt, weil wir nicht mehr alle Kräfte verbrauchen, um das Bedrängende draußen zu halten. Wenn das keine gute Nachricht ist, kein Evangelium, was dann?