Johanneischer Stammbaum

Weihnachten am Tage C: Joh 1, 1-18



I
Nur wenige Stunden ist es her, dass wir Heilige Nacht gefeiert haben, Christi Geburt, die rettende Stund, in „Stiller Nacht, heiliger Nacht“. Ein Ereignis, das anscheinend so tief in die Seelen von Menschen spricht, dass ihm selbst Jahrhunderte von Kitsch und Vermarktung, ja nicht einmal der neuerdings modische Hohn auf das Christliche im Kern etwas anhaben kann. Den Geschichten vom Betlehemer Stall, von der Geburt zwischen den Tieren, den Engeln und Hirten, von den Weisen aus dem Osten und all dem anderen eignet anscheinend so etwas wie eine Aura, die jede und jeden bergend einhüllt, die ihnen ihr inneres Ohr öffnet.

II
Jetzt in der Taghelle des Hochfestes feiern wir nochmals Weihnachten, aber in anderer Tonart gleichsam. Es sind die uns so vertrauten wie zugleich immer neu fremden Eröffnungsverse des Johannesevangeliums. Sie muten mich an wie die wuchtigen Anfangsakkorde einer Großsymphonie, dieses:
Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott,
und das Wort war Gott.
Alles ist durch es geworden,
und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist…
Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gezeltet usw.
So steht es in den liturgischen Büchern und unseren Bibeln heute. Lassen wir zunächst dahingestellt, dass diese Übersetzung im Grund armselig ist im Vergleich mit dem, was in dem griechischen Wortlaut des Originals steht, zumal wenn Johannes das geheimnisvolle, aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert stammende Wort „logos“ aufgreift, um mit ihm die Christusgestalt zu deuten. Klar ist nur, dass uns Johannes mit den einleitenden „en arche ehn ho logos“ – im Anfang war der Logos – etwas über die Herkunft, den Ursprung dieses Jesus sagen will. Was da im ersten Moment so abstrakt klingt, wird aber sofort zu einer aufregenden Geschichte, wenn man darauf achtet, was zu genau der gleichen Frage, woher denn Jesus komme, die anderen Evangelien zu sagen haben:

III
Markus schweigt dazu. Aber Matthäus bietet einen Stammbaum Jesu, bestehend aus dreimal 14 Namen, der mit Abraham beginnt. Und das Spannendste daran sind nicht die einzelnen Generationen und die Namen, die für sie stehen – obwohl zu manchem von ihnen, zumal denen der Frauen, viel zu sagen wäre. Sondern spannend ist der erste Name und die Zahl der Generationen: Abraham ist der große Verheißungsträger des Alten Bundes schlechthin, der, in dessen Namen einmal alle Völker gesegnet sein werden. Und die 14 ist eine sinngeladene Symbolzahl: Sie steht für den König David. Im Hebräischen hat jeder Buchstabe auch eine Zahlbedeutung, die Vokale werden nicht geschrieben. Nimmt man aus „David“ darum das „A“ und das „I“ heraus, so bleibt ein „DVD“ übrig. „D“ steht für den Zahlenwert „4“, „V“ für „6“, also DVD ist 4 plus 6 plus 4, als 14, die Davidszahl. Der ganzen Bibel gilt dieser David – trotz seiner Fehler und Sünden – als Idealkönig. Aber jetzt kommt einer an der Spitze von dreimal 14 Generationen, also ein Dreifach-David, dreimal so ideal wie dieser König, ein Hyper-David mithin, an dem kein Fehl mehr ist: Jesus der Christus.

Im Lukasevangelium finden wir auch einen Stammbaum Jesu, aber einen gänzlich anderen, der sich mit dem des Matthäus auf keine Weise zur Deckung bringen lässt. Allein das schon ist ein schlagender Beweis, dass es den Weihnachtsgeschichten der Evangelien nicht um historische Reportage, sondern um geistlich-theologische Deutung der Gestalt Jesu geht. Lukas macht das auch ganz anders als Matthäus: Er fängt mit Jesus an und endet nach sage und schreibe 76 Namen bei Adam. Mit Jesus – will der Evangelist uns sagen – beginnt Gott nochmals neu mit der Menschheit: Jesus – der neue Adam. Und vielleicht dürfen wir dazu denken, dass Gott sich überhaupt nur auf das Abenteuer mit uns störrischen Geschöpfen eingelassen hat, weil er von vorne herein entschlossen war, uns in Gestalt eines Menschen an die Seite zu treten, auf dass wir uns bei unserer Heimkehr in unseren Ursprung nicht verirren und verlieren. Sie merken: Diese scheinbar monotonen Namenslisten der Stammbäume Jesu – Abraham zeugte Issak, Isaak zeugte Jakob, Jakob zeugte Juda, Juda Phares, Phares Esrom usw. – , diese Namenskataloge sind hochkarätige Geschichten von Gottes Sorge um uns und seiner Liebe zu uns, die uns mit Menschenantlitz in Jesus begegnet.

IV
Und genau in der gleichen Absicht hat Johannes den Prolog seines Evangeliums niedergeschrieben, unser Evangelium von vorhin. Der Prolog ist gleichsam der johanneische Stammbaum Jesu. Er deutet uns aus, wo Jesus herkommt und wie Jesus von Nazaret, den Christinnen und Christen als den „Sohn Gottes“ bekennen, am Geheimnis Gottes, teilhat.

Dieses Wort „logos“ – ich sagte es schon – kann man nicht so recht übersetzen. Am ehesten lässt es sich vielleicht umschreiben als Prinzip, das alles, auch das Verschiedenste noch, in einer Einheit zusammenhält, ohne das Ureigene der verschiedenen Momente einzuebnen und darum auch das, was alles in dem, was es zutiefst ist erkennbar und benennbar macht. Und dieser Logos, sagt Johannes begegnet uns in Jesus mit menschlichem Angesicht auf Du und Du.

Der Logos – also Jesus – war seit je bei Gott und ist darum selbst von Gottes Art, sagt Johannes. Aber dann geschieht es, Vers 14: kai ho logos sarx egeneto. Und das heißt eben nicht einfach: der Logos ist Mensch geworden, sondern: Er ist Fleisch geworden: „Fleisch meint in biblischer Sprache den einzelnen Menschen in seiner Hinfälligkeit, Verletzbarkeit und Vergänglichkeit.“ (E. Zenger) Das ist das Medium, in dem sich der Logos, diese schöpferische Liebe von Anfang an, dieser alles einende und zusammenhaltende, alles durchlichtende und verständlich machende Ursprung sichtbar macht. In diesem Fleisch schauen wir das Wunderbare des Wunderbarsten an Gott. Die Botschaft ergeht nicht in „Schreckensglanz“, sondern die Botschaft ist das Fleisch –  das Fleisch ist Selbstbekundung Gottes. Und wenn man dann ein wenig genauer liest, merkt man, wie sich diese Gotteskunde aus dem Johannesprolog einzig auf dem Hintergrund einiger zentraler Kapitel aus dem Buch Exodus verstehen lässt.

Im Zusammenhang mit dem Krisenszenario um das goldene Kalb, als Mose im Grunde nicht mehr weiter weiß und nicht mehr sicher ist, dass Gott bei diesem störrischen Haufen überhaupt weiter bleiben wird, da wagt er diesen seinen Gott zu bitten: „Lass mich doch deine Herrlichkeit schauen!“ (Ex 33, 18). Und die Bitte wird ihm gewährt, aber indirekt, weil das direkte Schauen dieser Herrlichkeit, also des Wesens Gottes, für den Menschen unmöglich ist. Darum antwortet Gott dem Mose: „Ich will vorübergehen lassen vor deinem Angesicht all meine Schönheit und ich will ausrufen vor dir meinen Namen […] Du wirst meinen Rücken/mein Nachher schauen, aber mein Angesicht kann niemand schauen“ (Ex 3, 19.23). Und Mose, so heißt es weiter, tritt auf Gottes Geheiß in eine Felsspalte, Gottes Hand selbst schützt ihn vor dem Anblick des Überglanzes – und er darf Gott hinterher schauen „und ihn im Vorübergang […] hören.“

Im Vorübergang. Gott ist ein Passagegott. Nur im Vorübergehen gewahren wir ihn. Niemand verfügt über sein Kommen, niemand über sein Gehen. Keiner vermag seine Präsenz zu sistieren – fest-zu-stellen im buchstäblichen Sinn. Wir können nur immer seine Fußspuren in Schöpfung und Geschichte und in seinem auserwählten Israel entziffern – und an den „Furchen in den Seelen der Menschen“, wie der jüdische Exeget Joseph Hermann Hertz einmal sagte. In eben dieser Spurenlogik aus dem Buch Exodus steht der Johannesprolog: der fleischgewordene Logos, der – wie es wörtlich heißt – unter uns zeltete, also eine ganz fragile Wohnstatt aufschlug, er ist so etwas wie eine „’Wieder-Holung’ der durch Mose vermittelten Sinai-Erfahrung“, eine Wiederholung freilich, die zugleich darin neu ist, dass sie nun „in der Person des Mittlers selbst geschieht“. Und in dieser Fleisch-Herrlichkeit ist Gottes Güte und Treue, die schon die Mitte der mosaischen Sinaioffenbarung war, „in so bislang nicht geschauter Gestalt präsent geworden.“

V
Dieses Ineinanderlesen von Exodus-Buch und Johannesevangelium kann sich auf frappierende Zeugnisse der Kirchenväter stützen: Gregor von Nyssa etwa schreibt, hier werde Mose, der Gott zu sehen verlange, belehrt, wie allein dies möglich sei: Gott nachfolgen, wohin er auch führt – das ist: Gott sehen. Und klar natürlich, dass das Stichwort „nachfolgen“ einen geistlichen Unterton einspielt: Hinter Gottes Rücken hergehen heißt: in Jesu Nachfolge eintreten und darin besteht das Sehen Gottes.

Das ist zugleich eine Weihnachtskatechese: Wer Jesus nachfolgt, also denkt, wie er denkt, und handelt, wie er handelt, fängt an, Mensch zu werden und zugleich in denen, die ihr oder ihm begegnen, das Menschliche zu wecken. Und beide ahnen an der Menschlichkeit des je anderen, wie der sein muss, von dem sie herkommen.
Das ist auch mein Weihnachtswunsch an Sie.