Wider die Gedankenlosigkeit

Erntedank C: Lk 12,13-21

I
Kaum sind die hellen, heißen Tage vorbei, steckt der Herbst seine ersten Zeichen auf: Es dämmert früher am Abend, das Morgenlicht kämpft gegen Nebelschwaden, auf den Feldern stehen nur noch Stoppeln und die ersten Blätter verfärben sich. Was den Sommer über grünte und blühte, verwelkt. Zugleich ist dieses große Sterben in der Natur Zeit der Ernte. Der Ertrag aus Acker und Garten, Weinberg und Wald wird eingebracht.

II
Menschen haben schwer gearbeitet, sie haben sich der Technik und Wissenschaft bedient, um reich zu ernten. Sie haben geplant und kalkuliert und jetzt ziehen sie Gewinn daraus. Über dem, was Menschen tun, um dem Boden abzuringen, was das Leben erhält, gerät etwas anderes gern fast wie von selber ins Vergessen: die Wahrheit, dass auch der Klügste und Raffinierteste nicht einmal ein winziges Weizenkorn zum Keimen brächte, wenn er das selber tun müsste. Unserm Tun und Lassen vorweg ist alles, was uns im Leben hält – geschenkt. Nichts davon haben wir erfunden, über nichts verfügen wir. Alles ist gegeben.
Darum haben die Psalmen bis heute Recht, wenn sie dem Schöpfer ein Danklied singen, weil er das Gras für das Vieh wachsen lässt und auch Pflanzen für den Menschen, die er anbaut, damit er Brot gewinnt von der Erde, das ihn stärkt, und Wein, der sein Herz erfreut, so der wunderbare Schöpfungspsalm 104. Danken kommt bekanntlich von Denken. Wer dankt, denkt daran, wer er ist – und dass es einer gut mit ihm meint, der ihm alles schenkt: Das, was ihn bei Kräften hält und Not tut. Aber auch das gerade Nicht-Notwendige, das Über-Flüssige, das ihm erlaubt, zur rechten Zeit ein Fest zu feiern und sich so daran zu erinnern, dass der Geber von allem kein Geizhals ist, sondern einer, der uns gönnt, dass es uns gibt und gut geht. Das ist der Grund, warum wir heute das Erntedankfest feiern. Wir nehmen in die sonntägliche Eucharistie – zu Deutsch: Danksagung – für Gottes Sympathie zu uns den Dank für das hinein, was uns Gottes Erde an Gutem schenkt. Danken heißt auch: Ganz Aug’ und Ohr sein für die Sprache der alltäglichen Dinge, heißt: daran denken, dass keines von ihnen selbstverständlich ist. Wer dankt, weiß mehr vom Leben – und hat mehr davon.

III

Genau das hatte der reiche Bauer aus dem Gleichnis des heutigen Evangeliums übersehen. Er hatte sich eine recht eingängige Lebensphilosophie zurechtgezimmert – und die heißt: Ich habe mein Leben selber in der Hand; mein Besitz garantiert mir das. Ich bin meiner Sache sicher und je mehr ich habe, desto sicherer darf ich mich fühlen. Alles, was um diesen Mann herum passiert, das sieht er mit der Brille von Kosten und Nutzen, Mittel und Zweck, Haben und Horten. Aber – nur einen kurzen Momente lang scheint diese Logik der Sicherheit plausibel, denn: schon die allernatürlichste Sache von der Welt – dass der Mensch einmal sterben muss, – schon diese Selbstverständlichkeit entlarvt die Lebensphilosophie dieses Mannes als buchstäblich bodenlos naiv. Denn der Tod konfrontiert ihn mit der Frage: Wem wird all der Besitz einmal gehören? Wozu das alles? Und schon auf diese banale Frage weiß der Reiche keine Antwort mehr zu geben.
Das aber ist noch nicht alles. Es kommt noch viel dicker. Jenes Lebensprinzip der Selbstsicherheit hat der reiche Bauer mit sich allein ausgemacht, im Selbstgespräch. Er braucht keinen anderen dazu, er kann gar keinen anderen brauchen, denn in seinem Lebensentwurf ist kein Platz mehr für ein Du, für keinen Menschen und keinen Gott. Dass Gott selber ihm dazwischenreden könnte – darauf kommt dieser Mann gar nicht mehr. Das ist tragisch, weil er damit verrät, dass in seinem Menschsein schon etwas ganz Entscheidendes durchschnitten ist. Keine und keiner bringt sich selbst ins Existieren. Wir sind – in der Sprache des Glaubens –, was unser Dasein betrifft, hinter allem Geworden sein durch andere Gerufene, von Gott Gerufene. Unser Dasein wird folglich nur gelingen als Antwort auf diesen ursprünglichen Ruf. Menschliche Existenz findet ihre rechte Form im Dialog mit dem Du Gottes. Dass stattdessen der Besitz – ein Haus aus Stein, ein gut gefülltes Konto, eine wertvolle Einrichtung – das Gelingen des Lebens garantieren soll: Auf die Idee muss man erst einmal kommen. Wahrscheinlich kann man auf sie ernsthaft nur kommen, wenn jener innere Dialog mit dem bergenden Grund, aus dem ich hervorgehe und dem ich mich verdanke, schon so gut wie verstummt ist.
Genau deshalb legt Jesus im Gleichnis Gott selber die alarmierende Anrede "Du Narr" in den Mund. "Narr" – das ist in der Sprache der Bibel derjenige, der Gott praktisch verleugnet. Die Lebensphilosophie der Selbstsicherheit auf der Basis des Habens ist nichts anderes als praktischer Atheismus – eine Gottvergessenheit, die viel gefährlicher ist als irgendein lautstarker Protest gegen Gott, denn: Diese praktische Leugnung schleicht sich heimlich, ohne viel Aufhebens zu machen, in die Seelen ein. Sie besteht einfach darin, dass jemand vergisst, wie transitorisch die Dinge sind, die man haben kann. Wir berühren sie nur im Vorübergang. Keines von ihnen geht mit uns. Ein Mensch, der das aus dem Blick verliert und sein Leben am Besitzen festmacht, hat den Schöpfer und die Schöpfung als Partner verloren: Seinen Gott vergisst er, die Dinge um ihn herum werden ihm zum Zeug und die Menschengeschwister zu Konkurrenten, im schlimmen Fall zum Feind.
Diese Sicht aus der Perspektive des christlichen Glaubens mag sich heute, im Zeitalter von Shareholder Value, Private Equity und Spekulationsblasen ausnehmen wie die buchstäbliche Botschaft vom anderen Stern? Aber ist sie darum per se falsch? Die weltweite Nervosität der Finanzmärkte in den letzten Monaten, bloß weil ein paar hunderttausend Amerikaner über ihre Verhältnisse gelebt haben und ihre Schulden nicht mehr bedienen können, macht unübersehbar, auf welch tönernen Füßen das Gegenmodell der Haben-Logik steht. Aber auch das Kleine des je individuellen Lebenskreises der Einzelnen bleibt davon nicht unberührt: Denn wer auf diese Lebensphilosophie der Selbstsicherheit baut, dem und der werden meist auch zwei urmenschliche Dinge schwer fallen: Das Danken und das Teilen.

IV
Wenn Denken, Danken und Teilen so eng miteinander zusammenhängen, folgt für mich daraus ein Doppeltes. Dank darf sich nicht nur in Worten erschöpfen. Und: Mehr als in Worten wird er sich darin äußern, dass einer bedachtsam umgeht mit dem, was ihm geschenkt ist und zur Verfügung steht. In der Zeit, als ich Seelsorger im Gefängnis war, habe ich das am Erntedankfest immer mit einem drastischen Zeichen sichtbar gemacht: Neben dem Erntekorb mit dem frischen Brot, dem Gemüse und den Früchten habe ich einen gut halben Meter hohen Haufen weggeworfener Brotstücke vor den Altar geschüttet. Dort wurde – und wird – säckeweise Brot weg geworfen. Brot gehört im Strafvollzug zu dem Wenigen, was die Insassen ohne Beschränkung erhalten. Alles andere ist rationiert: Kaffee, Obst, Zigaretten, Schokolade. Nur Brot nicht. Darum bricht da Nehmen und Horten durch. Jeder hat Angst, es könnte zu wenig sein. Darum nimmt er zu viel, um auf der sicheren Seite zu sein. Und dann – alt geworden – wirft er es weg. Bezeichnend war, dass jedes Jahr ein paar Leute gegen dieses Zeichen protestierten. Sie spürten den Widerspruch zum schön geschmückten Altar und zu dem, was auf ihm geschieht. Aber das war genau die Absicht.
Ich sagte immer dazu: Bedenken Sie, ein paar hundert Kilometer südöstlich von hier gäbe es um dieses verschimmelte Brot hier, wenn es einer hinstellte, eine Schlägerei – aus schierer Not. Die Menschen in Teilen Rumäniens braten Ratten und Igel, um zu überleben. Und von den Flüchtlingstrecks südlich und nördlich der Sahara reden wir lieber gar nicht. Im Vergleich dazu leben wir hier alle im Paradies. Ihr Erntedank bestünde darin, dass Sie täglich so viel nehmen, wie Sie brauchen, nicht mehr und nicht weniger – dass sich einer hie und da vertun kann, ist keine Frage. Aber das Prinzip allein schon wirkte halbe Wunder, was das Wegwerfen betrifft. Ich halte das für keine Beiläufigkeit. Für Christen drückt sich mehr als anderswo gerade im Alltäglichen aus, wie sie von der Welt und vom Leben denken. Der bedachtsame Umgang mit dem täglichen Brot ist nichts Geringeres als ein Glaubenszeugnis.

V
Ich denke, für uns hier, die wir unter ungleich leichteren Umständen leben, gilt das im Prinzip genauso. Wenn jemandem der Dank nicht fremd ist, geht sie oder er anders um mit den Dingen der Welt. Achtung vor dem Geschaffenen wird so jemanden beseelen. Und das behütet zugleich vor der Habgier. Solche Freiheit im Angesicht der Gaben der Erde werden wir freilich nur dann gewinnen, wenn wir selber uns immer schon getragen glauben von Gottes Achtung für uns und von dem Vertrauen, dass er für uns übrig hat, wessen wir bedürfen. Wirklicher Dank für die Gaben der Erde kommt aus wahrem Glauben an die Nähe Gottes. Die Bitte um ein glaubendes Herz muss deshalb an diesem Fest unsere Lieder umgreifen, damit ihr Dank wahr sein kann.