Dreifacher Fingerzeig

Christi Himmelfahrt C: Apg 1,1-11 + Hebr 9,24-28; 10,19-23 + Lk 24,46-53

I.
50 Tage lange feiern wir die Mitte und Quelle unseres Glaubens, das Osterfest. Besonders herausgehoben tun wir das heute, am 40. Tag dieser Festzeit. Dieses „40“ hat natürlich weder einen historische Hintergrund, geschweige denn, dass es Zufall wäre. Die Vierzig ist vielmehr so etwas wie ein theologisches Grundmaß, das vielfach in den biblischen Überlieferungen begegnet: 40 Tage und Nächte regnete es bei der Sintflut. 40 Jahre diente Mose seinem Schwiegervater Jitro in Midian, bis er reif war für die Offenbarung des Gottesnamens am brennenden Dornbusch. 40 Jahre zog Israel nach dem Ausbruch aus dem Sklavenhaus Ägyptens durch die Wüste. 40 Tage weilte Mose auf dem Berg Sinai, da ihm Gott die Bundestafeln mit den Geboten übergab. 40 Jahre regierte der weise Salomo später. 40 Tage nach seiner Geburt wird Jesus von seinen Eltern im Tempel als Erstgeborener dargebracht. 40 Tage lang treibt der Geist Jesus nach seiner Taufe am Jordan in die Wüste, um sich dort dem Versucher zu stellen. 40 Tage halten wir Fastenzeit. Und heute, 40 Tage nach der Osternacht, feiern wir Christi Himmelfahrt.

II.
Diese theologische „Vierzig“ kann man am besten mit „ganz“ oder „vollständig“ oder „vollendet“ übersetzen. Nach 40 Tagen oder Jahren, da kommt heraus und zeigt sich, was es mit einem Geschehen eigentlich auf sich hat, worauf es hinaus will, was es im Tiefsten bedeutet. Und so auch bei unserem Fest heute: 40 Tage nach der Osternacht wird der Gekreuzigte gefeiert als der, der unverlierbar in Gottes Hand gehalten und darum lebendig ist. Die Innenseite der Osternacht ist das Heimgehen zum Vater, in der Bildsprache des jüdischen Glaubens gesagt: Sein Erhöht-Werden in die weltübersteigende Wirklichkeit Gottes hinein. Wenn Jesus menschlich gesprochen das lebendige Gleichnis für Gottes Innerstes ist, seine durch nichts zu beirrende, treue Liebe, dann kann er gar nicht anderes tun und wollen, als den Blick unserer geistlichen Augen immer mehr auf diese Mitte hinzulenken. Und das tut er, indem er uns buchstäblich von ihm selber abzusehen lehrt. Darum entzieht ihn eine lichte Wolke, wie die Apostelgeschichte sagt, also das Sinnbild der Anwesenheit des unbegreiflichen Gottes den Blicken der Jünger – und unseren auch.
Der Hebräerbrief sagt das Gleiche in der Kultsprache des Jerusalemer Tempels, wenn es von Jesus heißt, er sei durch den Vorhang des Tempels, der das Allerheiligste verbirgt, hindurch, „das heißt durch sein Fleisch“, in ein nicht von Menschenhand errichtetes Heiligtum, also in Gottes eigene Gegenwart eingetreten. Durch sein irdisches Auftreten, sein Fleischwerden, durch den Vorhang dessen, wie Jesus war, was er sagte, was er tat und litt, ist Gott mit seinem Innersten aus der Weltjenseitigkeit herausgetreten, um uns kund zu tun, wer Gott ist und was das für uns bedeutet. Und durch diesen Vorhang, das Fleischlich-Irdische hindurch, kehrt Jesus, dieses Mensch gewordene Antlitz Gottes, in seinen Ursprung zurück, um uns dorthin mitzunehmen, auf dass wir uns wie er, der auch noch im Sterben Unverlorene, im Innersten Gottes geborgen und daheim wissen. Ostern hat darum seine Sinnspitze nicht im Erscheinen, sondern im Weggehen, diesem Heimkehren Jesu. Darin erst vollendet und entfaltet sich, was uns die Osternacht zu schenken hat. In der Himmelfahrt wird Jesus gleichsam ein Fingerzeig in Person, der nicht auf sich selbst deutet, sondern auf das weist, worauf alles gerichtet war, was er predigte und dann auf sich nahm.

III.
Mit dem rechten Osterglauben ist es so ähnlich wie mit Joseph Haydns letztem öffentlichen Auftritt: Es war am 27. März 1808, ein Jahr vor seinem Tod. An diesem Tag wurde in Wien sein Oratorium „Die Schöpfung“ aufgeführt. Die Öffentlichkeit wollte dem Meister dabei eine letzte große Ehre erweisen, sogar Beethoven ist unter den Zuhörern. Das Werk beginnt mit der musikalischen Ausmalung des Chaos, des Tohu wa Bohu, wie die Genesis sagt, mit dem also, was ohne Form, ziellos und finster ist. Dann aber fängt der Chor leise an, das „Und es ward“ zu singen und beim Wort „Licht“ dann, da schwillt der Gesang in einem strahlenden C-Dur-Akkord zu einem gewaltigen Crescendo. Das Publikum brach in frenetischen Beifall aus. Spätere Kritiker sprachen davon, dass dieser Übergang vom Chaos des Anfangs in die strahlende Ordnung des Lichtes, gewirkt souverän vom Schöpfungsbefehl des göttlichen Wortes, einen der größten und ergreifendsten Augenblicke der abendländischen Musik repräsentiere. Doch mitten in den Jubel hinein, so wird erzählt, sei der greise Haydn aufgestanden, habe sich zum Publikum gewandt und mit dem Finger emphatisch zum Himmel gezeigt, um zu sagen: Nicht ich, dort oben ist der, der in Wahrheit zu bejubeln ist.

IV.
Die Himmelfahrtsgeschichten des Neuen Testaments sind nichts anderes als das sprachliche Echo davon, dass der Auferstandene nichts anderes als genau eine solche Geste, ein Fingerzeig in die Mitte alles Wirklichen, ein Hineinweisen in Gott selbst ist – und dabei selbst ins Verborgene zurück tritt. Daraus erklärt sich auch, warum in so vielen Ostergeschichten das Sich-Entziehen, das Weggehen des Auferstandenen eine so zentrale Rolle spielt – und zwar immer in dem Augenblick, da die Jünger oder die Frauen den Gekreuzigten als Lebendigen erkennen: Denken Sie etwa nur an die Emmausgeschichte oder an die Begegnung mit Maria von Magdala mit dem „Noli me tangere“, dem „Halt mich nicht fest“. Oder das Ende der Thomas-Episode, wo die selig gepriesen werden, die nicht sehen und doch glauben. Oder, ja, das auch, an die dreimal in der Apostelgeschichte erzählte Bekehrung des Paulus, in Wirklichkeit dessen persönliche Ostererfahrung, die von einem Blindwerden des Saulus weiß, das erst in der Begegnung mit dem gesetzestreuen, das heißt natürlich schriftkundigen Ananias gelöst wird, so dass Paulus wieder sehen und dann seinerseits andere sehend machen kann.
Jedes Mal wird der Blick der Zeugen gleichsam umgelenkt: Weg vom unmittelbaren, greifbaren Geschehen, von dem, was sie gern festhalten und fixieren möchten, hin auf die Heilige Schrift, das Gesetz, die Propheten und Psalmen. Denn dort – und nicht an Sinnesdingen – sollen sie lernen, dass Ostern wahr ist und dass diese Wahrheit nicht von oben und außen zu dem hinzukommt, was sie bisher von Gott zu glauben gelernt und gewagt hatten. Sondern dass die Osterwahrheit vom Gott, der Liebe ist und darum nichts, was er je gewollt hat, untergehen lässt, vom ersten Augenblick an der ganzen Schöpfung eingeschrieben war. Dass die Liebe gleichsam das Siegel ist, mit dem der Weltenkünstler sein Werk signiert hat und dass der Mensch diesem Zertifikat des Schöpfers auch dort und dann trauen darf, wo ihn oder sein Liebstes der Hauch des Todes streift. Denn „in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“, wie Paulus in seiner Predigt vom gekreuzigten Auferstandenen auf dem Athener Areopag später sagen wird.

V.
Mir scheint kein Zufall, dass ausgerechnet der Hebräer-Brief, der das Kultisch-Institutionelle, christlich gesprochen: das Kirchliche, so ernst nimmt, – dass eben dieser Hebräerbrief dort, wo er wie in der Lesung vorhin auf die Himmelfahrt zu sprechen kommt, in einer ganz eigenartigen Diktion von dem Ort redet, an den Jesus gegangen sei: nämlich in ein nicht von Menschenhand errichtetes Heiligtum, griechisch „acheiropoietos“. Diese Wendung stammt aus einem wohlbestimmten, im Alten Testament hoch brisanten Zusammenhang, nämlich aus der polemischen Auseinandersetzung mit dem Götzenkult und den Götzenbildern. Als acheiropoietos werden die Schnitzbilder verspottet, die sich Menschen machen, um sich vor ihnen nieder zu werfen, und dabei vergessen, dass sie sie selbst hergestellt haben und nach Bedarf herumtragen können, darum auch über sie verfügen können. Alles, was acheiropoiteos, nicht von Menschenhand gemacht ist, erlaubt solches Verfügen eben gerade nicht. Und darum ist es geradezu so etwas wie ein Ausweis dafür, dass Gott selber im Ostergeschehen wirkt, wenn das, was dabei geschieht, allem menschlichen Verfügen und Fixieren entzogen ist. Genau das macht sich im Sinnbild der Himmelfahrt geltend. Sie ist Kritik an allem Beherrschen- und Besitzenwollen von Ostern und zugleich sozusagen die definitive und feierliche Beglaubigung der Osternacht.

VI.
Von daher kann eigentlich auch gar nicht überraschen, dass die Himmelfahrt auch in jeder Feier des österlichen Sakraments schlechthin, also der Eucharistie, ausdrücklich vergegenwärtigt und intoniert wird – auch wenn uns das vermutlich meist gar nicht so deutlich bewusst ist. Jedes Mal, wenn der Zelebrant zu Beginn des Hochgebetes in der Einleitung der Präfation das „Sursum corda“ – wörtlich „Hinauf die Herzen“ – anstimmt und die Gemeinde mit dem „Habemus ad Dominum“ antwortet – „Wir haben sie beim Herrn“, dann schwingen wir gleichsam in die Bewegung der Himmelfahrt Jesu ein. Wir lassen uns von ihm mitnehmen in jene Wirklichkeit, aus der er kam und die auch unsere – manchmal vergessene, aber durch ihn wieder gefundene – Heimat ist. So treten wir ein in das Fest des Himmels, also Gottes Freude darüber, dass sein Herzensanliegen, sich zu verschenken, Adressaten findet. Oder anders gesagt: Der Himmel feiert die Heimkehr seiner Kinder, denn im österlichen Jesus hat sich die Bewegung Gottes auf uns zu umgewendet in unsere Bewegung auf Gott hin. Sein Exodus aus sich selber, in dem er sich klein machte, bis hinab in das Grab am Rand von Golgota, zieht uns an und dann hinauf in das nicht mehr endende Fest, das alle Tränen abgewischt, Trauer und Tod nicht mehr sein werden. Unser irdisches Feiern jetzt ist sein Vorschein und Echo. Und wenn wir auf das „Lasset uns danken dem Herrn, unserm Gott“ antworten mit „Das ist würdig und recht“, dann haben wir die Einladung zum Gottesfest angenommen. Dass das freilich nicht unberührt lässt, wie wir werktags zueinander sind, das liegt von selber auf der Hand.