Disclosure

Ostermontag C: Lk 24, 13-35

I.
Gerade haben wir die Heiligen Drei Tage, das Hochfest unseres Glaubens gefeiert. Ab heute über sechs Wochen hin klingt das Gefeierte nach. Wir brauchen diese Zeit, um dessen inne zu werden, was wir begangen haben. Ostern versteht sich nicht von selbst. Man braucht Zeit dafür. Nicht nur uns geht das so. Es war bei den Freundinnen und Freunden Jesu, seiner Jüngerschaft nicht anders. Genau davon erzählt das heutige Emmaus-Evangelium, eine Geschichte, die sich dem christlichen Grundgefühl nicht zufällig derart tief eingeschrieben hat, dass sie an manchen Orten bis heute mit dem Emmausgang der Gemeinden wie ein kleines Osterspiel buchstäblich in Szene gesetzt wird.

II.
Zwei von denen, die mit Jesus gegangen waren, sind unterwegs von Jerusalem nach Emmaus zurück, vermutlich ihrem Zuhause. Sie lassen noch einmal in Gedanken Revue passieren und reden darüber, was die letzten Tage gewesen ist, vom Gründonnerstag Abend bis zum Karsamstag. Und auch das Zeugnis der Frauen vom Ostermorgen. Anfangen können sie mit all dem nichts. Es ist nur die Geschichte der bitteren Niederlage ihres Freundes und für sie eine abgrundtiefe Enttäuschung, die ihnen alles nimmt, worauf sie gesetzt hatten.
Daran ändert zunächst auch der seltsame Fremde nichts, der sich ihnen unterwegs zugesellt und sie darüber belehrt, dass sie all das, was ihnen jetzt wie ein Rätsel vorkommt, auf Strich und Komma im Buch ihres Glaubens, dem von uns so genannten Alten Testament, entschlüsselt finden können. Sie haben nicht – noch nicht – den Blick dafür. Den Blick für das Wesentliche und darum Wahre. Denn um genau das geht es ja.

III.
Diesen Blick zu gewinnen, ist manchmal gar nicht so leicht. Man kann ihn auch nicht erzeugen. Es braucht das innere Gestimmtsein für ihn. Dann kommt er von selbst. „Disclosure“-Situation nennt die moderne Philosophie das: Augenblick der Erschließung, „Aha“-Erlebnis könnte man das auch übersetzen. In dem neulich erst veröffentlichten Briefwechsel zwischen der Dichterin Ingeborg Bachmann und ihrem Freund, dem Komponisten Hans Werner Henze, begegnet auch ein solches Augen-Aufgehen. Die Bachmann befand sich wieder einmal in einer Schaffenskrise. Und Henze erzählt ihr, um sie zu trösten und zu ermutigen, eine Episode aus dem Leben Giuseppe Verdis: Verdi hatte seine Frau und beide Kinder verloren und war auf dem Tiefpunkt der Depression, durch nichts mehr zu ermuntern. Da traf er den Intendanten der Mailänder Scala, der drängte ihm das Libretto zu „Nabucco“ auf, ihm versichernd, dass er das Werk noch in dieser Saison auf die Bühne bringen würde, wenn Verdi es vertonte. Der aber lehnte ab, wollte es gar nicht erst lesen. Zu Hause warf er dann das Libretto auf den Boden, voll Wut, dass sie ihn mit neuen Aufträgen seckierten, weil er, wie er dachte und sagte, völlig am Ende war und nie mehr etwas schreiben würde. Zwei Tage später, als er noch verzweifelter war, fiel sein Blick unversehens auf das noch immer auf dem Boden liegende Libretto. Als er sich bückte, um es aufzuheben, sah er den Text eines Chores, der mit den Worten begann: „Va’, pensiero, sull’ ali dorate“ (Flieg, Gedanke, mit goldnen Flügeln) – und beinahe unbewusst setzte er sich ans Klavier und komponierte diesen Chor, der heute eine Art Nationalhymne ist und der bei Verdis Beerdigung von Tausenden von Mailändern auf dem Domplatz gesungen wurde. Liest man genau, dann sieht man übrigens, dass es sich um einen vorösterlichen Osterhymnus handelt, der dem Thema der Oper, der Sehnsucht des in Babylon gefangenen Israel nach Freiheit und Heimat, unterlegt ist. Und das war schon für die Kirchenväter eines der Vorausbilder des Ostermorgens.

IV.
Ganz Ähnliches wie bei Verdi passierte auch bei den Emmaus-Jüngern. Sie haben zuerst ihre Gedanken bei dem, was eben geschehen war – und begreifen nichts. Dann lenkt sie der Fremde von unterwegs auf die Worte der Heiligen Schrift. Und sie begreifen immer noch nicht. Doch hätte da bei ihnen eigentlich schon der Groschen fallen müssen, wie man so sagt. Ausgehend von Mose und den Propheten legt er ihnen den Sinn des Schicksals Jesu aus – will sagen: Er macht ihnen klar, dass, wer den Gottesgeschichten von der ersten Seiten der Bibel an auch nur einen Funken Glaubwürdigkeit zutraut, diesen Jesus nicht für tot halten kann. Da ist doch schon im Buch Genesis von einem Gott die Rede, der selbst denen fürsorglich zugetan bleibt, die sich von ihm abgewandt haben: Denken Sie an die Szene, wie der Schöpfer Adam und Eva Röcke aus Fellen macht, nachdem sie den Schutz der Gottgeborgenheit durch ihr Misstrauen verloren hatten und sich darum aus dem Paradies vertrieben erfuhren. Oder wie Gott selbst den Mörder Kain durch das Mal, das er ihm auf die Stirn zeichnet, davor schützt, das gleiche Schicksal zu erleiden, das der seinem Bruder angetan hatte. Oder die Rettung der Noachsippe über die Flut hinweg. Und dann das durch nichts zu enttäuschende Ringen dieses Gottes um sein Volk, angefangen von Abraham und nicht zu beirren durch das Murren auf dem Weg ins gelobte Land heraus aus der ägyptischen Knechtschaft, nicht zu beirren durch das goldene Kalb, später durch die politischen Kungeleien, die im babylonische Exil mündeten, nicht zu beirren durch das immer wieder von den Propheten angeklagte Schuldigbleiben der Barmherzigkeit gerade den Kleinen und Schwachen gegenüber, in der sich nichts anderes als Untreue gegenüber dem Gott kundtut, der das kleine Israel nie vergessen hat. Und der Gott, der so ist, wird er den hängen lassen, der sich ihm mit Leib und Leben so verschrieben hat, wie dieser Jesus das tat? Nie und nie und niemals! Das ist das Zeugnis der Schrift.
Und dass der, der an diesen Gott unbeirrt erinnert, als Störenfried empfunden und entsprechend behandelt werden wird bis zu seiner schieren Vernichtung – das ist auch schon Zeugnis der Schrift an den Stellen, an denen der Prophet Jesaja vom leidenden Gottesknecht redet. Das aber ist ein Zeugnis, das das erste Zeugnis nicht widerlegt, sondern bestätigt: Am Gerechten, der für seine Botschaft von diesem Gott sein Leben lässt, wird offenbar werden, dass Gott wirklich so ist, wie die ganze Schrift sagt: Eben der Treue, dem nicht einmal der Tod Paroli bieten kann. Darum musste der, der wie kein anderer zuvor unter Menschen für diesen Gott stand und sein Gleichnis war, erleiden, was er erlitt, um in seine Herrlichkeit zu gelangen, wie das Evangelium sagt – die Herrlichkeit, die darin besteht, dass an ihm, an seinem Schicksal, eben diese Unbedingtheit der Treue Gottes offenbar wird, die genau darin besteht, dass sie sich als mächtiger erweist als das Unbedingteste in der Welt, also der Tod.

V.
Aber die Emmaus-Jünger: nichts begriffen. Wie blind sind sie für die Logik dieser Geschichte Gottes mit den Menschen, die doch so punktgenau darauf hinausläuft, dass – wenn es den Gott, von dem da die Rede ist, wirklich gibt –, dass dann alles, nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben ein Vorletztes ist, und ihm, diesem Gott das letzte Wort bleibt und darum der, der so untrennbar zu ihm gehört wie dieser Jesus gar nicht tot sein kann. Dennoch: Mit allem vertraut. Buchstäblich Auge in Auge mit der Wahrheit. Und doch nichts gesehen. Wie bei Verdi und dem Libretto.

VI.
Und dann die Szene in der Bleibe unterwegs. Er bricht das Brot. Da gehen ihnen die Augen auf – und im gleichen Augenblick sahen sie ihn nicht mehr. Die Szene ist so dicht, dass man sie Zug um Zug entfalten muss. Klar natürlich, dass das Erkennungszeichen, das Brotbrechen, auf das Abendmahl anspielt. Und Abendmahl ist nichts anderes als das Inbild dessen, was Liebe meint – so sehr, dass ausgerechnet Johannes, der sozusagen theologischste der vier Evangelisten, auf die Einsetzungsszene mit dem Brot- und dem Kelchwort verzichtet und stattdessen nur die Fußwaschung erzählt. Was heißt „nur“! Die Fußwaschung, das Füreinander-Dienst-tun, ist ja die Mitte, die Substanz der Eucharistie – Liebe eben. Und jedes Feiern dieser Eucharistie, der Messe, ist Erinnerung, Verlebendigung, Vergegenwärtigung dessen, auf dass die Liebe wirklich werde und stark. So wird jede Messe zu unserer Transsubstantiation, unserer Wesensverwandlung.
Unser Emmausevangelium bindet darum die Erfahrung der selbst den Tod besiegenden Treue Gottes – also Ostern – an das Tun der Liebe und sagt damit: Wo Menschen füreinander da sind bis zum niedersten Dienst, werden sie einander zum Gleichnis der Unvergänglichkeit, die aus Gottes Treue kommt. Wo geliebt wird, geschieht Österliches. Dass die Emmausjünger in dem Augenblick, da sie in dem Unbekannten den Auferstandenen erkannten, ihn nicht mehr sahen, bringt genau dieses Gleichnishafte zum Ausdruck. Man kann Ostern so wenig festhalten wie Liebe. Und doch ist es so wirklich, wie diese – die Liebe – wirklich ist. Getane Liebe weiß darum, dass Ostern wahr ist. Gerade so, wie es der französische Philosophie Gabriel Marcel nach dem Tod seiner Frau ins Tagebuch schrieb: Jemanden lieben heißt ihm sagen: Du wirst nicht sterben. Jedes Mal, wenn wir Messe feiern, überlassen wir uns dieser Wahrheit und ihrer verwandelnden Macht.