Wenn Gott "ich" sagt

Gründonnerstag C: Ex 12,1-8. 11-14

I.

Es war zu der Zeit, als sich gerade die Grenzen nach Osten geöffnet hatten. Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk war zu einer Wanderung durch Galizien aufgebrochen. Unterwegs kam er in ein verfallenes Dorf, auch die Kirche war zur Ruine geworden. Während er in der Nähe rastete, bog ein klappriges Bauerngespann um die Ecke. Auf dem Wagen saßen lauter alte Leute, meist Frauen. Sie hatten Tränen in den Augen. Es waren ehemalige Bewohner des Dorfes, die man vor 50 Jahren zwangsausgesiedelt hatte und die nun zum ersten Mal wieder in ihre alte Heimat kamen.

Die Frauen traten über die Schwelle der Kirche, gingen ins verfallene Schiff, knieten auf dem lehmigen Grund nieder, denn den Fußboden gab es schon lange nicht mehr, bekreuzigten und verneigten sich. Der Altar stand schief, der Tabernakel mit dem herausgerissenen Türchen sah wie eine vergammelte Kiste aus. Von den Ikonen waren nur noch Reste zu sehen, das Gemäuer dünstete Moder aus. Doch die Frauen knieten.

Ein uralter Mann war auch dabei. Er saß auf dem Gefährt droben auf einem Stuhl. Das sah fast würdevoll aus. Zwei Jüngere mussten ihn auf dem Stuhl herunterheben. Der Neunzigjährige war gelähmt, aber sein Geist war klar. Ich war in Sibirien, mein Herr, sagte er. Ich war in Kasachstan und habe Mohammedaner gesehen, ich war in der Mongolei und habe Buddhisten gesehen. Mein Vater hat 1895 geholfen, hier das Dach der Kirche zu decken. Und später wurde ich hier getauft. Und dann erzählte er dem Schriftsteller in Einzelheiten von dem Dorf, das in seiner Erinnerung existierte. Zum Abschied lächelte er, fast ein wenig schelmisch. Sein Gesicht sah aus wie ein vom Frost geschädigter Apfel. Und mit einem Blitzen in den Augen sagte er: Na, jetzt könnte ich eigentlich sterben.

II.

Die schäbigen Mauerreste, ein paar Spuren und einer, der zuhört - das hatte gereicht, dass das Damals über ein halbes Jahrhundert, über Schmerz und Trauer hinweg, für den Alten Gegenwart wurde, so wirklich und lebensvoll, dass seine Seele satt wurde davon und zufrieden.

So ähnlich muss es für gläubige Juden sein, wenn Sie Pessachabend halten und Gottes großer Tat gedenken. Und wenn wir Christinnen und Christen die Geschichte davon auch lesen, am Beginn der Heiligen Drei Tage sogar, also am Anfang von Ostern, da wir die Mitte unseres Glaubens feiern, dann kann uns das ja nicht ganz fremd sein, solches Gegenwart- und Gleichzeitigwerden von dem, was einmal war (und wer weiß, was Liebe ist, kennt das ja ohnehin).

III.

Da wird eine Geschichte vorgelesen, die vor ungefähr 2400-2600 Jahren niedergeschrieben wurde. Und das, was erzählt wird, verlegt die Geschichte nochmals sechs bis acht Jahrhunderte zurück. Uns Heutigen mutet das Erzählte dabei wie der schemenhafte Schatten eines Geschehens an, von dem wir allenfalls Bruchstücke erahnen können: Um ein Fest irgendwie geht es, das wohl mit Bräuchen eines Hirtenvolkes zu Frühjahrsanfang, also zur Zeit des Aufbruchs mit den Herden, zu tun hat - und damit, dass diese Riten eine Erinnerung tragen und lebendig halten, die Erinnerung an Gottes rettendes Handeln beim Auszug aus Ägypten. Eine unauslöschliche Erinnerung, weil sie mit Gott zu tun hat, dem Unvergänglichen. Darum kann, was er, Gott, tut oder sagt, nicht vergehen und verschwinden, möge sich alles Irdische, in dem es sich ausdrückt, noch so verändern oder gar verfallen. Wie bei der Dorfkirche, die zur Ruine geworden war, aber für die Gläubigen unverbrauchte Heiligkeit dessen ausstrahlt, der da einst angerufen wurde.

Bis heute gehört zum jüdischen Pessachabend, dass das jüngste Familienmitglied fragt: Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte? – Weil der Herr jetzt mit uns ist wie einst mit den Vätern, heißt die Antwort. Wo Gott handelt, ist immer Gegenwart, immer jetzt, sind damals und heute eins. Israel hatte gestöhnt und gelitten in der ägyptischen Knechtschaft. Aus Hungersnot einst in das reiche Land am Nil eingewandert, sesshaft geworden und immer mehr zu Sklaven ihrer Lebensumstände, hielten sie es nicht mehr aus. Suchten den Zwängen zu entkommen. Merkten, wie anstrengend und gefährlich das war. Und: dass es ein Entkommen, ein Freiwerden, wenn denn überhaupt, nur geben kann mit Gottes Hilfe. Israel riskiert dieses Gottesabenteuer unter Moses Führung. Was das heißt, macht unsere Geschichte dadurch klar, dass sie mit einer neuen Zeitrechnung einsetzt: Der erste Akt des Auszugs, der zugleich der letzte in der Knechtschaft ist, ist ein Einschnitt, der alles verändert und alles Kommende bestimmt: Ab jetzt wird der Jahreskreis von dem Monat ab gezählt, in dem der Auszug geschieht. Nicht mehr der Gang der Natur bestimmt den Rhythmus des Lebens, sondern die Geschichte, das Einmalige, das Gott wirkt. Nicht mehr ein ehernes Gesetz, sondern Gottes freie Tat. Jeder weitere Monat, ja jeder Tag weist als gezählter auf diesen Anfang zurück und erinnert so daran, wovon Israel buchstäblich lebt.

Als es so weit ist, nimmt Israel mit einem einfachen Mahl Abschied vom Alten und bereit sich auf das Kommende. Und dieses duldet keinen Verzug mehr. Über der Mahlfeier liegt die Atmosphäre des Dringlichen, wie es besonders im elften Vers zum Ausdruck kommt: So aber sollt ihr essen: eure Hüften gegürtet, Schuhe an den Füßen, den Stab in der Hand. Esst es hastig! Dieses "hastig" aber gibt nur sehr ungenau wieder, was im Urtext steht. Es geht nicht einfach nur um Eile, sondern um die Stimmung der Seelen unmittelbar vor dem Wagnis des Ausbruchs aus dem Sklavenhaus. Manche Schriftgelehrte übersetzen mit "Esst in Angst" und meinen damit die Aufregung, die innere Unruhe angesichts dessen, was da bevorsteht. Sie wissen ja, was kommt: dass jede ägyptische Familie vom Königshaus bis zum Bettler den Erstgeborenen, die Blüte und Hoffnung, verlieren wird. Davon kann Israel nicht unberührt bleiben, weil man sich nicht einmal dann freut, wenn ein Feind fällt – auch er ist doch wie du! Gerade so, wie, als ein Kind im Religionsunterricht fragte, warum denn die Israeliten beim Pessachmahl auch Bitterkräuter gegessen hätten, ein anderes Kind antwortete: Damit es den Israeliten nicht gar so fröhlich zumute war. Wo doch die Ägypter so viel haben weinen müssen!

Das trifft es! Mit klopfendem Herzen und fliegendem Puls hat Israel sein Aufbruchsmahl gehalten. Ein talmudischer Kommentar zur Stelle fragt sich sogar: Wer eigentlich ist da der Aufgewühlte, dem das Herz bis zum Halse schlägt? Israel? Oder Ägypten? Oder - - Gott? Später wird sich zeigen, dass dieser Gedanke alles andere als abwegig war. Freiheit ist riskant, so riskant, dass Gott selbst – menschlich gesprochen -, kaum hat er sich’s versehen, seine bittere Plage mit ihr, seine Plage mit den Befreiten haben wird. Weil Freiheit, wenn sie wirklich ist, unbedingt ist, kann sie sich auch gegen ihren Geber richten. Die Propheten werden bald, morgen schon, ihr bitteres Lied davon singen.

IV.

Dabei hatte Israel doch schon in diesem Anfang des klopfenden Herzens erfahren, wie der Gott ist, dem es sich da anvertraut. Er hält das Heft in der Hand und übt Gericht über die Götter Ägyptens. Die stehen in dieser Welt der Wunderwerke, Sphinxen, Künste, Megastädte, Reichtümer und Hierarchien für die unabänderliche Ordnung, die das Räderwerk dieser Gesellschaft am Laufen hält so haargenau, dass nichts und niemand ihr entgeht. Aber der Wüstengott, der mit unnennbarem Namen aus den Dornen und dem Feuer spricht, erweist in dieser Nacht die Ohnmacht dieser Götter. Ihr Ordnen und Zwingen ist nicht das Letzte und nicht das Ganze. Es gibt ein Darüberhinaus. Und dafür steht er, dieser verborgen-nahe Gott. Er zeigt sich als Herr über Tod und Leben, und sie, die Götter, als so tot wie das Holz und der Marmor ihrer Bilder und Statuen. Nicht weniger sechsmal sagt Gott da in nur zwei Versen "ich": Ich gehe – ich halte Gericht – ich, der Herr – wenn ich sehe – werde ich vorübergehen – ich schlage drein. Das ist sozusagen status confessionis. Gott bekennt sich kompromisslos zu seinem Israel, lässt sich in erster Person behaften für seine Zusage, dass er ein Gott des Lebens und der Freiheit, nicht des Todes und der Kerkerketten ist. Er wirft sich mit allem, was er hat und ist, in die Bresche. Ein großer jüdischer Kommentator bringt das auf einmalige Weise dadurch zum Ausdruck, dass er in jener Zusage "Über alle Götter halte ich Gericht, ich der Herr" dieses emphatische "ich, der Herr", hebräisch ani IHWH, übersetzt mit "ich ICH" und das zweite "ich" dabei – wie sonst das Tretragramm – in Großbuchstaben schreibt. Weil, wenn Gott "ich" sagt, alles gesagt ist, was zu sagen ist. Es ist übrigens das letzte Mal in der Bibel, dass ein Tun Gottes mit diesem "ich, der Herr" besiegelt wird – weil in der Pessachnacht das alles Entscheidende bereits geschehen ist. Und ob es Zufall ist, dass es nur eine einzige Stelle in der ganzen Bibel noch gibt, wo so oft wie hier in unserer Geschichte das Wörtchen "ich" begegnet?: Im Hohelied der Liebe!

So macht Gott das erste Mal das geheimnisvolle "Ich-bin-der-ich-bin" vom Dornbusch wahr, das wörtlich übersetzt ein unvollständiger Kurzsatz ist, welcher lautet: Ich erweise mich als… Punkt, Punkt, Punkt. Ein Satz, der erst dadurch Sinn bekommt, dass er vervollständigt wird. An unserer Stelle hier geschieht diese Vervollständigung durch das Pessach Gottes, seinen Vorübergang. Auch hier muss man dem Wort bis in sein feinstes Sinngewebe nachlauschen, um sich nicht zu verhören: Pessach heißt so viel wie: Schonend und schützend über etwas hinüberschreiten, so wie man in einem Garten behutsam einen weiten Schritt über eine Saatfurche oder ein Blütenbeet macht, um ja nichts zu zerstören. Das ist Pessach.

V.

So sieht der erste Selbsterweis Gottes aus. Israel hat damals in der Nacht des klopfenden Herzens Gottes Behutsamkeit für sich selbst, sein Verschont- und Befreitwerden, nur vor dem Gegenbild eines geschlagenen Ägypten erfahren und besingen können. Genauso wie mancher KZ-Häftling seine Aufseher niedergebetet hat und über ihre Vernichtung jubelte, jubeln musste. Anders können Menschen nicht, die aus letzter Not gerettet sind. Aber Israel hat nie ganz verdrängt und zu vergessen vermocht, wenn auch nur ganz leise ausgesprochen, dass dieses Ägypten trotzdem nicht Gottes verstoßenes Kind war. Jesaja wird später einmal das ungeheure Gotteswort aussprechen dürfen: Gesegnet sei Ägypten und Assur, das Werkzeug meiner Hände, und Israel, mein Eigentum, als dritter im Bunde (Jes 19, 25). Und das Neue Testament spricht in der Apostelgeschichte unverhohlen aus, was eine Kette von Gottsuchern und Weise seit alters bis heute umtreibt: dass Mose in aller Weisheit Ägyptens unterwiesen gewesen und darin für seinen Gottesauftrag vorbereitet worden sei.

Denkt man dem nach, dann könnte einem scheinen, darin leuchteten Vorspuren dafür auf, dass eines Tages Pessach, Gottes behutsames, rettendes Vorübergehen ohne das Gegenbild geschlagener Feinde erfahrbar wird. Ein Pessach ohne Vernichtung anderer, weil Gott seine Behutsamkeit darin vollendet, dass er auch noch den Preis der Freiheit sich selber auflädt. Was Jesus sagte, was er tat, wie er war – und was dann geschah im Abendmahlssaal und danach im Ölgarten von Getsemani, das hat die, die mit Jesus gingen, und dann die Glaubenden der ersten Stunde, sein eigenes Geschick als Pessach verstehen lassen: als Stunde, in der für Menschen bis zum letzten Grunde sichtbar wird, was es bedeutet, dass Gott der Ich-bin-da-für-euch ist und für alle sein will.

Auch die Abendmahlsstunde damals war das Jetzt der Pessachnacht, und unser Tun zu seinem Gedenken jetzt ist eins mit jenem Jetzt damals. Denn am Abend, an dem er ausgeliefert wurde und sich aus freiem Willen dem Leiden unterwarf – das ist heute…– hat Gott sein großes, unwiderrufliches ICH gesprochen: Ich bin’s. Ich tu’s. Für Dich, damit Du lebst.