Hervorgelockte Geschichte

Ostermontag C: (Lk 24,13-35 + Apg 2; 1 Kor 15; Offb pass.)

I.

Gestern Nacht haben wir das Osterfest begonnen. Jetzt feiern wir. Lange. Anderswo dauern Hochzeiten manchmal heute noch sieben Tage, in Sizilien zum Beispiel. Wir nehmen uns für Ostern sieben mal sieben Tage lang Zeit, mit gestern zusammen fünfzig. Das gönnen wir der Seele. Sie braucht es auch. Freuen kann man sich nicht auf Befehl. Freude muss wachsen können. Vor allem diejenige, dann auch dann noch trägt, wenn einem das Lachen vergehen will – und um diese Freude geht es ja an Ostern.

II.

Die Emmausgeschichte aus dem heutigen Evangelium, berühmt und Vielen vertraut seit langem, erzählt genau von diesem Hervorkommen der Osterfreude, dem Hineinwachsen in sie. Darum hat sie uns Lukas als eine Art Osterschule aufgeschrieben. Man braucht dem Erzählten nur etwas aufmerksam nachzuspüren, der ganzen Szenerie, den Akteuren, dem, was geschieht.

III.

Tut man das, so fällt einem auf, dass in der Emmausgeschichte andauernd vom Erzählen die Rede geht: Die beiden Jünger, Kleopas und der andere, der namenlos bleibt, unterwegs weg von Jerusalem, dem Ort des Unglücks und der zerstörten Hoffnungen, zurück nach Hause wahrscheinlich: Sie sprachen miteinander über all das, was sich ereignet hatte. Sie tun, was man allein noch tun kann, wenn es weh tut und einem die Trauer tonnenschwer auf die Seele drückt. Sie erzählen sich gegenseitig, was gewesen ist. Nicht, weil sie sich gegenseitig informieren müssten. Sie wissen ja, was war. Sie erzählen vielmehr, weil sie so dem nahe sind, den sie verloren haben – erstes Erzählen.

Als dann unterwegs der Fremde zu ihnen stößt, stört sie das gar nicht. Im Gegenteil: Seine Frage, worüber sie dann da reden, gibt ihnen erst recht Anlass zu erzählen, von vorne wieder – zweites Erzählen: Weißt du nicht, was passiert ist? Und dann erzählen sie im Telegrammstil vom Auftreten Jesu angefangen über das Todesurteil und das Kreuz bis zum leeren Grab, mit dem sie nichts anfangen können. Sie listen sozusagen alles auf, was ihrer Trauer Recht gibt. Da ist nichts mehr, was sie darin beirren könnte. Sie haben abgeschlossen. Was soll denn auch noch kommen. Sie haben sich buchstäblich eingesperrt in ihre Geschichte.

Das ist übrigens ein Phänomen, das auch anderswo auftritt, wenn es jemandem reicht und er oder sie mit etwas Schwierigen zu einem Ende kommen will. Der englische Dichter Evelyn Waugh erzählt davon einmal mit etwas britischem Humor in seinem vergessenen Meisterroman "Wiedersehen mit Brideshead": Da ist ein junger Mann, Typ verwöhnter Dandy, nach längerem Überlegen zum Katholizismus konvertiert, weil das die einzige Chance ist, die junge Frau, in die er sich unsterblich verliebt hat, überzeugte Katholikin aus entsprechender Familie, heiraten zu können. Er nimmt die Konversion durchaus ernst. Aber dann muss es auch gut sein. Der Pfarrer möchte ihn ein bisschen verunsichern, weil ihm das neue Gemeindemitglied gar zu glaubensgesichert kommt: Angenommen, sagt der Pfarrer, angenommen, der Papst schaut zum Himmel hinauf, bemerkt eine Wolke und sagt: "Es wird regnen" – müsste das dann auch geschehen? – O ja, Hochwürden! – Aber, so der Pfarrer, nehmen wir an, es regnet dann nicht! – Er dachte einen Augenblick lang nach und sagte: Dann würde es sozusagen geistig regnen, nur wären wir zu sündhaft, es zu sehen. – Da hat einer dicht gemacht. Nichts darf mehr stören. Da wird geistig der Riegel vorgeschoben, verblüffungsfest am Bestehenden festgehalten, komme was wolle.

So ähnlich muss der Unbekannte in der Emmausgeschichte die beiden Erzähler empfunden haben, wie seine Reaktion zeigt: Er wundert sich über sie. Er korrigiert sie nicht einfach und bringt auch nichts Neues ins Spiel. Er fängt stattdessen selber zu erzählen an von Dingen, die ihnen wohl vertraut sind – drittes Erzählen: Ausgehend von Mose, also den ersten fünf Büchern der Bibel, und allen Propheten, das steht für den ganzen Rest, schließt er ihnen auf, wie die ganze Bibel, ihr geliebtes Glaubensbuch, das auch das Glaubensbuch Jesu war, von nichts anderem als von ihm, dem Gekreuzigten, spricht – dass das, was da geschehen ist und sie so schockierte, in Gottes guten Händen geschah und sich ganz und gar der großen Geschichte der Verheißung seit Abraham und Isaak bis zum Gottesknecht einschreibt und sie bestätigt – was natürlich auch bedeutet, dass der Gekreuzigte ganz in die Geschichte des Gottes hineingehört, der sich auf Schritt und Tritt in der Geschichte und selbst noch in deren Nächten als der Treue erwiesen hat und also auch für diesen Jesus dieser Treue ist, der ihn niemals fallen ließe. Aber das sagte der Unbekannte gar nicht ausdrücklich dazu. Er erzählt ihnen nur die biblische Gottesgeschichte sozusagen als behutsame Aufschließgeschichte gegen ihre Zusperrgeschichte.

IV.

Das haben die beiden auch irgendwie gemerkt, und es hat sie angerührt, wohl ohne dass sie es hätten so direkt sagen können. Deshalb lassen sie den Fremden nicht weitergehen, als sie Emmaus erreichen. Dass sie ihn drängen, bei ihnen zu bleiben, deutet an, dass auch noch etwas anderes schon im Spiel war als nur die erzählte Geschichte: Sie hatten den unbekannten Erzähler auf dem gemeinsamen Weg lieb gewonnen. Der israelische Erzähler David Grossmann bringt das, was da passierte, auf den Punkt, wenn er schreibt: Wenn du jemanden liebst, willst du ihm deine Geschichte erzählen. Und du willst mit ihm zusammen sein, nicht nur damit du deine Geschichte erzählen kannst, sondern damit die Art, wie er dich anschaut, eine neue Geschichte in dir weckt, etwas anderes aus dir hervorholt. Dafür lieben Menschen. […] echte Liebe ist, wenn du spürst, dass dieser Jemand – dieser Mitmensch – dir über dich selbst sogar noch eine andere Geschichte erzählen kann. Genau das hat der Unbekannte getan.

In dieser Atmosphäre der Vertrautheit braucht es nur noch ein winziges Erinnerungszeichen, das Brotbrechen, und es fällt ihnen wie Schuppen von den Augen, dass Jesus nicht unterging, weil er in der Gottesgeschichte, die der Unbekannte erzählt hatte, gar nicht untergehen kann. Sonst hätte die Geschichte nicht von Gott gehandelt, sondern von irgendetwas anderem. Und wer – so denken sie im Rückblick – hätte sie so glaubwürdig, so bezwingend erzählen können, dass sie den Kerker ihrer verlorenen Hoffnung sogar aufsprengt, wenn nicht er selbst! Das, was er erzählte, war es, das sie von innen her veränderte und in ihrem Bild von der Welt und dem, was gewesen war, das Oberste zu unterst kehrte: Brannte uns nicht das Herz, als er uns unterwegs den Sinn der Schrift erschloss?

Das ist ungefähr so, wie wenn wir ein Sechseck anschauen, über dessen Seiten einer immer mehr Dreiecke zeichnet und über deren Seiten wieder Dreiecke usw., so dass es immer mehr und mehr Ecken werden, bis einer ruft: Ah ja, das wird ja ein Kreis! Eine winzige Kleinigkeit – und es leuchtet aus dem Bisherigen auf einmal das Neue auf. Das Brotbrechen, dieses Sinnbild und Inbild gütigen Miteinanders im Namen Jesu, eingebettet in die Geschichten der Lebensverheißung des gütigen und verlässlichen Gottes löst das österliche Öffnen der Seele aus, dieses geistliche Aha-Erlebnis, das das Gewesene und Geschehene umzuschaffen beginnt jenem neuen Schöpfungsmorgen entgegen, der als großes Versprechen Gottes über allem Leben steht.

V.

Kein Wunder darum, dass die apostolische Predigt und dann auch die niedergeschriebenen Evangelien so sehr betonen, dass Tod und Auferweckung Jesu "gemäß der Schrift" geschehen ist. Das ist Paulus’ stehende Rede in seiner Osterverkündigung. Man kann beides – Kreuz und Ostermorgen – überhaupt nur als das, was sie wirklich sind, im Licht aller biblischen Gottesgeschichten seit Abraham erkennen und begreifen. Weil Gott Gott ist, war es unmöglich, dass Jesus vom Tod festgehalten wurde, sagt auch Petrus in seiner Pfingstpredigt und beruft sich dabei auf Psalmenverse, die für gläubige Juden aus dem Mund des Dichter-Königs David stammen. Das gehört auch zum "gemäß der Schrift". Und kein Wunder schließlich, wenn darum in dem Stück des Neuen Testaments, wo der Ostersieg Christi in Hoffnungsbildern durch alle Bedrängnis hindurch sozusagen hinausgedacht wird bis ans Ende von Welt und Zeit, in der Offenbarung des Johannes, – wenn da mehr als irgendwo sonst in der Bibel von "Brief" und "Buch" und "Schriftrolle", von "schreiben" und "lesen" die Rede ist, ab nächsten Sonntag wird uns das in den Lesungen begegnen. Das sind die Mittel, buchstäblich die Medien, die dafür sorgen, dass die Kette der Geschichten und ihrer Erzähler nicht abreißt, sondern vielmehr wir selbst in sie eingegliedert werden, weil durch nichts anderes und nirgendwo anders Ostern Wirklichkeit wird.

Als der große evangelische Neutestamentler Rudolf Bultmann 1960 im Gange einer Jesusdebatte den Satz prägte "Jesus ist ins Kerygma, also das Verkündigungsgeschehen hinein auferstanden", da gab das viel Wirbel unter den Theologen. Manche lasen sogar heraus, er würde damit Ostern leugnen. In Wahrheit hatte er nur mit der Emmausgeschichte und all den anderen Schriftzeugnisses ganz ernst gemacht, für die sich Wort und Wirklichkeit im Fall von Ostern gar nicht mehr trennen lassen und dadurch Botschaft und Medium ineinsfallen. Wie auch anders: Wenn Ostern wahr ist, dann muss ja die neue Schöpfung mitten in der alten Platz greifen können – und das geschieht genau dadurch, dass Worte Wirklichkeit verändern. Wenn das menschliche Wörter schon können, wie jedes Liebesbekenntnis und jedes Versprechen belegt, um wie viel mehr die Wörter, die wir Gottes Wort nennen, weil wir glaubend gewiss sein dürfen, dass hinter den Menschenwörtern, in denen es sich ausspricht, Gott selber steht.

In Emmaus ist das offenbar geworden. Auf also nach Emmaus! Das Oster-Emmaus ist immer dort, wo das Wort verkündet und das Brot gebrochen wird. Emmaus liegt also auch an der Salzstraße.