Um das wahre Bild von Gott

Jes 52,13 – 53,12: Karfreitag C

I.

Gestern vor drei Wochen startete in Deutschland Mel Gibsons Film "Passion". Seit der Premiere in den USA wird über ihn heftigst diskutiert – mit seltsam verqueren Fronten zumeist. Da macht ein Rechtsaußen-Katholik, der mit dem II. Vatikanischen Konzil nichts zu tun haben will, einen Film über die Leidensgeschichte, investiert dazu 30 Millionen Dollar privat, liefert einen bluttriefenden Actionfilm mit nichtjugendfreien Folterszenen ab, in dem die Schauspieler aramäisch und lateinisch sprechen: Die Leute stürmen die Kinos, 27 Millionen Dollar werden allein am ersten Tag eingespielt. Filmfachleute sprechen von Kitsch, von Brutalität, die an ein Massaker-Video erinnert mit Nahaufnahmen, die man so noch nie gezeigt hat. Konservative Kirchenkreise, meist evangelikale, aber auch katholische Bischöfe, sonst gern in erster Reihe bei Warnrufen vor Jugendgefährdung, empfehlen das Werk. Einig aber sind sich vor jedem Urteil alle darin, dass das Werk durch seine Wirkung Filmgeschichte schreibt – und das, obwohl der Film gerade durch die Drastik seiner Bilder vom malträtierten Menschenleib zur geistlichen Innenseite der Passionsgeschichte, also zur Frage, was Jesu Leiden mit Gott zu tun hat, im Grunde nichts zu sagen hat.

II.

Zu dieser Innenseite wird eher vordringen, wer sich von den biblischen Geschichten gleichsam an der Hand nehmen lässt, die wir in diesen Tagen lesen. Eine besondere Rolle fällt dabei den alttestamentlichen Lesungen zu. Wir dürfen ja als Christinnen und Christen nicht vergessen, dass die Evangelien ein Kommentar – für uns der wichtigste, aber eben ein Kommentar – zum Alten Testament sind und dass dessen Geschichten in höchst komplexer Weise aufeinander bezogen sind. Darum erschließt sich uns auch die Innenseite der Passionsgeschichte und das Geschick Jesu von der heutigen alttestamentlichen Lesung her und dadurch, dass wir achten, woraufhin uns diese Verse aus dem Propheten Jesaja verweisen.

III.

Vielleicht nimmt man es nicht gleich beim ersten Hören wahr, aber ein wenig Verweilen reicht, um zu entdecken: Diese Lesung, das vierte sogenannte Gottesknechtlied des Zweiten Jesaja, nimmt genau das Thema der Geschichte von der Pessachnacht aus dem Exodus-Buch auf, die gestern Abend unsere erste Lesung war. Da hatten wir gehört, wie sich Israel, gleichsam in Brand gesetzt durch Gottes geheimnisvollen Dornbuschnamen "Ich-bin-der-ich-bin-da" klopfenden Herzens auf das Abenteuer der Befreiung einlässt und Gott zutraut, sein kleines Volk gegen die Übermacht des Pharao durchzubringen.

Jetzt, Jahrhunderte später, eine ähnliche Situation: Israel hatte Land und Tempel verloren, sitzt in der babylonischen Gefangenschaft – da fangen die Propheten mitten im Exil an, wieder von einem Exodus, einem neuen Auszug zu träumen. Die Repräsentanten Gottes, die Gottes Gegenwart im Volk hätten vergegenwärtigen und den Glauben hätten lebendig halten sollen, der König, die Priester und amtlichen Propheten, waren Generation um Generation hinter dem zurück geblieben, wofür sie eigentlich standen und was sie hätten wirken soll. Und ihr Schuldigbleiben hatte das Volk sich schuldig machen lassen, indem es seinem Gott nicht mehr traute. Aber wenn Gottes Name "Ich-bin-der-ich-bin-da" wirklich meint, was er sagt, wenn er wirklich eine Verheißung ist, eine unwiderrufliche, die immer wieder noch einmal eingelöst wird selbst dort, wo alles dagegen spricht – wie ja auch in Ägypten damals, dann darf und kann die Hoffnung nicht verlöschen, dass Gott auch noch über den Grabenbruch der Schuld hinweg, der im Exil zur schmerzhaften Erfahrung wurde, der Gott-mit-uns, der Befreier ist und bleibt. So fängt die messianische Hoffnung der Propheten an, ein glutvolles Sehnen, dass Gott ihnen wieder einen senden möge wie einst den Mose, der sie führt.

Alles wird dabei sozusagen noch um eine Drehung aufgeladener, wunderbarer, traumhafter erzählt als die Geschichten vom Auszug aus Ägypten es tun – und klar auch, warum: Weil Gott jetzt, wenn er es tut, nicht mehr nur Israel und sein Durchkommen zu seiner Sache machen muss wie damals in Ägypten, sondern auch noch das, was sein Volk ins babylonische Verhängnis geführt hatte – sein Schuldigwerden. Auch das noch wird gleichsam Gottes persönliche Sache, die er sich aufladen muss. Alles Äußere tritt davor in die zweite Reihe. Der gegnerische Herrscher damals, Pharao, der begegnet in der Exodusgeschichte als widerspenstiger Gegner, der niedergerungen werden muss. Der Machthaber jetzt in Babylon, König Kyros, der kann, wenn sich denn Gott persönlich so in die Bresche wirft für seine verlorenen Kinder, nur noch ein Werkzeug in der Hand dieses Gottes sein, weshalb der Zweite Jesaja in geradezu heiliger Unverschämtheit ihn von Gott selbst als "mein Hirt" tituliert werden lässt.

Die zentrale Rolle bei diesem neuen Exodus aber fällt einem zu, den Gott im Herzen unseres Propheten mit "mein Knecht" anredet – was so viel meint wie: mein engster Vertrauter, mein Sachwalter, der, der meinem Innersten am nächsten steht. Gerade so, als nähme Gott die Aufgabe des Mose damals noch mehr in seine Hand und damit die Angst, den fliegenden Puls der Israeliten – aber nicht nur den Moseauftrag, sondern auch all das Schmerzliche, Leidvolle, Verwundende, das mit ihm einhergeht. Fast so, als sei er selber gewissermaßen der ganze Auszug mitsamt Israel und Ägypten zusammen in eigener Person. Genauso redet der Zweite Jesaja von diesem Gottesknecht. Das ist einer, der von Gott in Dienst genommen, mit seinem Geist beseelt ist und in der Behutsamkeit der Liebe jeden, der sich von Gott abgesondert und ihn so verloren hat, an der Hand nehmen wird, um ihn zurückzuführen. Und: der seinem Auftrag auch dann noch treu bleiben wird, wenn die Erkenntnis der Verfahrenheit und der Widersprüchlichkeit eines Daseinsentwurfs ohne Gott umschlagen in Wut, die in Gewaltausbrüchen Gottes Neuanfang noch einmal und jetzt erst recht zurückweist. Um diese Möglichkeit wissen die Propheten des Exils in ihrer Kenntnis des Menschlichen. Deshalb schauen sie in ihren Visionen ahnungsvoll den Gottesknecht gezeichnet von Leiden. Als einen, in dem Gott sich alles - auch das Schlimmste - antun lässt, weil einzig und allein so noch der Teufelskreis der verfahrenen Geschichte des immer wieder siegreichen Misstrauens aufgebrochen werden kann. Gerade wie bei zwei Menschen, zwischen denen Böses vorgefallen ist: solange der eine beschuldigt und der andere sich rechtfertigt, solange der eine urteilt - obwohl dies zu Recht - und der andere verurteilt wird, solange bleibt das Zerwürfnis der Schuld in Geltung. Erst in dem Augenblick, da der eine dem anderen absolut vergibt, auf die Durchsetzung seiner Rechte verzichtet ohne Zweck und Vorteil für sich, erst in diesem Moment eröffnet sich beiden wieder die Möglichkeit, über die Barriere geschehener Schuld hinweg neu zueinander zu finden. Und genau so nur - das ahnen die Propheten zutiefst - kann es auch sein zwischen Gott und Mensch.

Deuterojesaja sagt nicht, wer das sein wird, dieser Vertraute Gottes, der Knecht - weil er ja nicht die Zukunft voraussagt; sondern aus der glaubenden Tiefenschau der gegenwärtigen Wahrheit Gottes ergibt sich, dass es einen solchen Gottesknecht um der Menschen willen geben muss - wenn Gott wahr ist. Jesaja weiß aber von daher, wie dieser Gottes Knecht nur sein kann - als Sinnbild aus Fleisch und Blut für den Gott, der den Propheten an anderer Stelle einmal von sich sagen ließ, dass er sein Israel trotz allem schleppen und retten, sich für es buchstäblich zum Esel machen werde, damit es ihm die Wahrheit seines Namens glaube. Darum heißt es vom Gottesknecht:

Er schreit nicht und lärmt nicht ...
Das geknickte Rohr zerbricht er nicht,
und den glimmenden Docht löscht er nicht aus
(Jes 42,2-3).

Ja, Sinnbild und Gleichnis Gottes ist er auch noch darin, dass er sich alles gefallen lässt, was ihm angetan wird, ohne zurückzuschlagen:

Viele haben sich über ihn entsetzt,
so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch ...
Verachtet war er und von den Menschen gemieden,
ein Mann voller Schmerzen,
mit Krankheit vertraut (Jes 52,14; 53,3).

Doch genau damit wird er sein von Gott aufgetragenes Werk für uns vollbringen - den neuen Exodus verwirklichen: nicht mehr handelnd wie Mose einst, sondern - leidend: Nicht aus Lust am Leiden, sondern weil er so auch noch in der Situation der extremsten Verfassung, in die ein Mensch geraten kann, während eines aggressiven Hassausbruches gegen Gott die Wesensart des grenzenlos geduldigen Ich-bin-der-ich-bin-da-für-euch beglaubigen kann. Und nicht nur beglaubigen: Indem er leidet, hält er der aggressiven Absonderung von Gott entgegen, wie überflüssig sie doch eigentlich ist gegen einen Gott, der absolut nichts für sich, aber alles für sein Geschöpf will. Und eben dadurch wird das Geschick des Gottesknechtes die Absonderung von Gott - die Sünde - entmächtigen. Dieses einzig entscheidenden Werkes in der Geschichte wegen wird Gott ihn ehren über alle:

Er hat unsere Krankheiten getragen
und unsere Schmerzen auf sich geladen
... er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen,
wegen unserer Sünden zermalmt.
Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm,
durch seine Wunden sind wir geheilt.
Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe,..
jeder ging für sich seinen Weg.
Der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen.
Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen
Knecht, er rettet den, der sich als Sühnopfer
hingab. Denn er trug die Sünden von vielen
und trat für die Schuldigen ein (Jes 53,4-12 pass.).

Mit diesem schlechthin unausdenkbaren Bild von Gott und dieser Hoffnung auf den Gottesknecht im Herzen machte sich Israel nach 70 Jahren aus dem Exil auf den Weg in seine weitere Geschichte. In der nachexilischen Zeit haben Propheten und Seher diese Hoffnung fortgeschrieben in der Gestalt des Messias bzw. des Menschensohnes und der von diesem heraufgeführten neuen Schöpfung. Strenggläubige Juden warten bis heute auf diesen Messias und seinen Tag.

IV.

Diejenigen, die getroffen waren von dem, was Jesus predigte, was er tat und wie er war, die fingen nach dem Karfreitag an zu entdecken, dass sein Auftreten samt seinem entsetzlichen, sinnlosen Tod eine ganz eigentümliche Stimmigkeit bekommt, wenn man es zusammenliest mit den prophetischen Gottesknechtliedern und diese umgekehrt auf einmal ganz nahe kommen, ja einem auf den Leib rücken, wenn man bei ihnen an den Gekreuzigten denkt, so als ob die bestürzende Zusage Gottes - dass er uns schleppt und rettet um absolut jeden Preis - dass diese Wahrheit erfahrbare Wirklichkeit geworden ist mitten in der Geschichte. Das ist der Glaube derer, die sich Christen nennen. Die Selbstkundgaben Gottes in den Wundern der Geschichte und die kühnste Sehnsucht der Propheten treffen sich für sie in dem Jesus, der am Kreuz hängt. Darum zeichnet ihn Matthäus in seinem Evangelium als den Messias und König, der Hebräerbrief als den Priester schlechthin, Lukas als den Propheten überhaupt, der Erste Petrusbrief als den Knecht, wie er im Buche steht.

Der tote Jesus am Kreuz ist für sie das wahre Bild von Gott: Wie er sprach, wie er tat, wie er litt, wie er war, so ist der Ich-bin-da-für-euch. So sehr bin ich da, dass ich mich auch blutig schlagen lasse, mich zerreißen lasse, mich hinauswerfen lasse aus der Welt. Auch noch die vernichtende Gewalt eurer Angst, die euch von innen her zerfrisst, lasse ich sich austoben an mir. Damit sie ihr todbringendes Gift verliert, nehme ich sie in mich hinein. Mehr kann ich nicht mehr tun, als mich zu nichts machen zu lassen und immer noch dazusein für euch. Glaubt ihr jetzt, dass ich euch liebe, dass es mir einzig um euch geht? Glaubt ihr jetzt, dass ich eures Vertrauens würdig bin?

Kann da einer - hat er noch ein Herz im Leib - anderes sagen im Angesicht dieses Gottes als: Ecce homo - und damit meinen: Ecce Deus: Welch ein Gott? Und wenn ein Mensch - bestürzt über diesen Gott - so sagt: Ecce Deus, und dann niederfällt unter einem Kreuzbild und das Gerinne seines Lebens ausschüttet davor, dann hat er getan, was sich Jesus zutiefst seiner irdischen Lebtage lang von jedem ersehnte: Dann ist er eins geworden mit Jesus. Denn in der Bewegung des Niederfallens anerkennt er Gott als Gott und sich selbst als den, der der Liebe und des Erbarmens dieses Gottes bedarf. So niederfallend aber fällt alle Entfremdung von ihm, alles, was sein Dasein schwergemacht und niedergedrückt hat. Im Niederfalen selbst wird es deshalb und sein Leben wieder aufgerichtet, vermag es so zu werden, wie es gemeint ist, spürt einer Boden unter den Füßen, der ihn trägt, gelobtes Land, wo er daheim ist - die Geborgenheit, die er schon immer gesucht. Die im Niederfallen unter dem Kreuz einbeschlossene Aufrichtung des Lebens, dieser Aufstand des Daseins wird alles neu machen. Er ist der Vorschein der Auferweckung aus der Verschlossenheit des Todes, auf den wir zuleben, weil wir - wenn denn Gott wirklich so unbedingt da ist für uns - mitsamt unserem Sterben in seinen Händen gehalten sind. Ostern fängt am Kreuz droben an. Das feiern wir heute und morgen jubeln wir darüber.