Der gefährliche Hunger

17. So B: Joh 6,1-15

I
Sprache hat so ihre Tücken. Die deutsche Sprache ist berüchtigt dafür: Zum Beispiel ist eine jüngere Dame nicht jünger als eine junge Dame, obwohl die Steigerung von „jung“ „jünger“ heißt. Vielmehr möchte der, der von „jüngerer Dame“ spricht, beschönigen, dass es sich bei der von ihm Gemeinten unübersehbar um ein älteres Baujahr handelt. – Oder: Man spricht von gefallenen Mädchen und gefallenen Männern. Bei ersteren hat das „gefallen“ mit Bett und Moral zu tun; bei Letzteren mit Krieg und Tod.

II
Ein und dasselbe Wort – aber es meint zwei Dinge, wie sie verschiedener nicht sein könnten, wenn es nicht – wie beim „jung-jünger“–Beispiel gleich das Gegenteil von dem meint, was es dem Wortlaut nach sagt. Diese Doppeldeutigkeit verschont auch die Wörter nicht, mit denen wir über Gott und den Glauben reden – gerade die nicht. Der große Meister im Aufdecken solcher Doppeldeutigkeiten und der Missverständnisse, die sie nach sich ziehen, ist der Evangelist Johannes. Ein nicht geringer Teil seiner Geschichten über Jesus dient der Kritik der großen Wörter, mit denen das Kommen und Tun Jesu schon zu seinen Lebzeiten zu fassen gesucht wurde – und man muss hinzufügen: heute auch noch zu fassen gesucht wird.

III
Besonders drastisch geschieht das im heutigen Evangelium, der Geschichte von der Brotvermehrung, mit der Johannes eines seiner ganz großen Jesus-Portraits eröffnet. Eine große Menschenmenge folgt Jesus. Sie war beeindruckt davon, dass er Kranke geheilt hatte. Dass ihm darum Menschen nachgehen, hat einen einfachen Grund: Sie hoffen, dass auch für sie etwas von dem Guten abfällt, das offenkundig von ihm ausgeht. Sie empfinden sich als bedürftig, dass ihnen einer Gutes tut. Wer verstünde das nicht! Sind wir anders?

Jesus versteht sich tatsächlich dazu gesandt, den Menschen Gutes zu tun, ihr Bedürfen zu stillen und zu heilen. Aber ein im Grunde banaler Anlass deckt auf, dass das Heilsbedürfnis, das Menschen ihm entgegenbringen, viel zu kurz greift, verglichen mit dem, was er unter Heil versteht. Da haben Sie diese Doppelung wieder: Ein Wort, aber zwei Bedeutungen, die so verschieden sind, dass sie einander regelrecht ausschließen.

Da ist eine Menschenmenge und keiner hat an ihre Verpflegung gedacht. Hunger ist nicht etwas Nebensächliches. Hunger bringt umstandslos das Innerste vom Menschen ans Licht, weil es kaum ein anderes Gefühl gibt, in dem es einem so sehr um sich selber ginge wie eben darin, dass einer genug zu essen bekommt. „Erst das Fressen, dann die Moral“, hat Brecht einmal formuliert – und das war gar nicht zynisch, sondern ist wahr. Den Hunger stillen ist der Grundakt unserer Selbsterhaltung. Auch die Bibel weiß darum und erzählt davon in ihren Geschichten.

Eine solche Situation nimmt Jesus, so erzählt Johannes, um aufzudecken, dass das, was er von Gott zu bringen hat, sich eben nicht darin erschöpft, elementare Bedürfnisse zu stillen. Darum fragt er zum Schein seine Freunde, was sie denn nun mit den Hungernden zu tun gedenken. Was ihm Philippus und Andreas zu antworten wissen, ist nichts anderes als gesammelte Ratlosigkeit: Der eine bemerkt nur, dass selbst eine erkleckliche Geldsumme, eine, über die der Jesuskreis mit Sicherheit nicht verfügte, nicht reichen würde, um genug Brot für alle zu kaufen. Und der andere überspielt seine Verlegenheit, indem er darauf hinweist, dass ein Kind da sei, das fünf Brote und zwei Fische besitze.

Genau mit diesem Wenigen aber macht Jesus die Menschenmenge satt, wie Johannes erzählt. Es bleibt sogar noch reichlich übrig. Und dann kommt das Wichtige an der Sache: Die Leute sind heilfroh über das, was er getan hat. Und sie denken praktisch: Sie nennen ihn Prophet, also Gottesboten, und möchten ihn zum König machen – anders gesagt: Sie wollen das Wunder der Brotvermehrung auf Dauer stellen. Was ja auch das Einfachste wäre: Der, der für Bedürfnisbefriedigung sorgt, wird zur Autorität gemacht. Aber genau dem entzieht sich Jesus.

Selbstverständlich ist ihm das Bedürfnis der Menschen, auch ihr leibliches, nicht gleichgültig: Denn er ist es, der die Jünger überhaupt auf das Problem hinweist. Und er ist es, der der Menge zu essen gibt. Aber die Art, wie er es tut, deckt auf, dass es damit nicht sein Bewenden haben kann. Genau besehen hat er damit, dass er zuerst Brot gibt und sich dann weigert, daraus eine Dauerversorgung zu machen, den Hunger erst recht verstärkt und überhaupt bis zum Grunde aufgedeckt. Genau das aber wollte er. Hunger reicht unvergleichlich weiter, als dass er sich mit Brot allein stillen ließe. Hunger richtet sich darauf, endlich satt zu sein im tiefsten Sinn des Wortes, also so, dass einem nichts mehr fehlt, dass man mit sich zufrieden und seiner selbst als Mensch genug sein kann. Aber den Hunger stillt kein Brot. Den stillt nur, was groß genug ist dafür: Gott. Dass der – Gott – so wichtig und nötig ist wie das tägliche Brot und dass man als Mensch das tägliche Leben nur bestehen kann in der Kraft, die von Gott kommt; das zu bringen, weiß sich Jesus gesandt. Darum hat er mit dem Wunder der Brotvermehrung nicht Bedürfnisse gestillt, sondern das eigentliche Bedürfen des Menschen geweckt und ineins damit aufgedeckt, worin seine falsche Beruhigung bestünde.

IV
Die Geschichte von der Brotvermehrung war der frühen Kirche ungeheuer wichtig. Nicht weniger als sechsmal wird sie deshalb in den Evangelien erzählt. So bedeutsam ist sie wohl zunächst einfach dadurch geworden, dass sie eindrücklich zur Sprache bringt, dass Gott – wie Jesus ihn verkündet – kein höheres Wesen im Jenseits ist, sondern ein naher Gott. Ein Gott, der auch eingeht auf die elementaren Bedürfnisse, die uns Menschen am Leben erhalten. Ein Gott, der nicht nur bei den Grenz- und Sonderfällen des Daseins eine Rolle zu spielen beginnt, sondern immer auch zu tun hat mit dem durchschnittlichen, banalen gelebten Leben. Unsere Geschichte der Brotvermehrung bewahrt dabei die Erfahrung, dass das, was zum Leben da ist – das Wenige – , dass das dennoch für alle reicht unter den Händen Jesu. Der ängstliche Urtrieb des Geizes wird aufgehoben durch Jesu Nähe. An die Stelle der Habsucht tritt die Atmosphäre der Liebe, die teilen und schenken lässt – so sehr, dass das Wenige sich in Wirklichkeit als Überfluss erweist, wenn er der Gastgeber, also die Mitte ist.

V
Dass es so etwas gibt, ist wirklich ein Wunder, etwas, worauf Menschen von selber wohl nie kämen. Mit Jesus haben Menschen genau dies erlebt. Und später durften die ersten Christinnen und Christen in der Kraft ihres Jesusvertrauens diese Erfahrung in der Gemeinde wiederholen – dass das Wenige für viele reicht. Die Apostelgeschichte legt beredt davon Zeugnis ab: sie hatten alles gemeinsam. Und: seht wie sie einander lieben, heißt es dort von den Christen. All das war nun schon so etwas wie eine wenigstens zeichenhaft anhebende Veränderung der Welt zum Guten hin.

Nur eben: Formalisieren lässt sich das nicht. Als sie dies versuchen, entzieht sich Jesus den Menschen – er, der ihnen sonst nicht nahe genug sein kann. Er muss sich entziehen weil sie ihn restlos missverstanden haben, in dem, was er tat. Er widerruft damit nicht sein – also Gottes – Engagement für das Leben, das irdisch-leibliche, weil das die eine Hälfte unseres Daseins ausmacht. Er sättigt die Menschen, weil sie ein ureigenes Recht darauf haben, ihr Leben zu erhalten. Welt und Leben zu verändern, wo Not ihnen das Gepräge gibt, das gehört wesentlich und untrennbar zu Gottes Anliegen, dem Jesus sich gänzlich verpflichtet weiß.

Aber: er verweigert sich, wo Menschen sich begnügen, durch ihn sich ihr irdisches Leben sichern und garantieren zu lassen. Er tut das und muss das tun, weil es bei Jesus Christus um mehr geht als die Befriedigung unserer Lebensbedürfnisse, auch der legitimen. Denn in dem, was er tut und sagt, geht es nicht nur um alles. Es geht um das Ganze. Um das, was den Menschen erst zum Menschen macht jenseits all dessen, was ich habe, was ich bin und brauche. Weil wir uns in aller Regel auf dies beschränken in unserem Sinnen und Treiben, deshalb ist es auch gar nicht so einfach, dieses Ganze jenseits von allem zu benennen. Die Sprache unseres Glaubens versucht das mit dem Namen „Heil“ und „ewiges Leben“. Gewiss kommt dieses Heil anschaulich vor in unserem Leben – in Zeichen und Spuren. Aber: es lässt sich dinglich nicht einfangen, nicht materialistisch reduzieren und auch nicht politisch beschreiben. Es geht dabei eben nicht um äußerliche Zustände in einer veränderten Welt, sondern um das, was uns allererst befähigt, alles Sichtbare, Materielle und Politische menschlich zu leben und zu bestehen. Es geht um das Geistliche unseres Glaubens, das in der Einsamkeit des Herzens mit seinem Gott geschieht. Oder noch einmal anders: es geht um die Gegenwart Gottes in uns, die unser Leben über jede natürliche Erfüllung hinaus radikal verwandelt. Diese Gegenwart Gottes in uns ist es, was Jesus uns vor allem bringen will durch sich. Weil wir sie vor allem anderen brauchen, um ganz die und der zu sein, die wir von Gott her sein können.

Mit seiner Geschichte von der Brotvermehrung will Johannes uns genau dies so tief wie irgend möglich einprägen: dass Christsein sich nicht in einem Programm tätiger Menschlichkeit erschöpft, obwohl die Menschlichkeit immer den Ernst bezeugt, mit dem ein Christ wirklich ein Christ ist. Christsein heißt stattdessen: ein Leben von Gott her und auf Gott hin entwerfen, so wie Jesus es getan hat. Heißt: mein Leben vom Standpunkt Gottes aus anschauen, verstehen und deuten. Denn nur so nehme ich das Ganze meines Daseins wahr und bin ich nicht bloß Täter oder Opfer der Geschehnisse. Und nur dieses Ganze ist das Wahre.