Was der gute Hirte weiß

4. Oso B: Joh 10, 11-18

I
Wo immer Menschen etwas darzustellen suchen, was ihnen wichtig ist, suchen sie Bilder zu schaffen. Bilder, die Eindruck machen, die Größe und Würde ausstrahlen, Ehrfurcht und nicht selten auch Furcht wecken sollen. Bei den Christen war das ganz am Anfang auf seltsame Weise anders. Sie stellten Jesus nicht dar als Herrscher, Lehrer oder Richter, sondern als Hirten – meist als Hirten, der ein Schaf auf den Schultern trägt, eines wohl, das sich verlaufen hat, das nun erschöpft ist und das er, der Hirte, darum sich auflädt und heimträgt.

II
Anlass, ihren Herrn so darzustellen, als guten Hirten, gab den frühen Christen das Evangelium unmittelbar selber, wie wir vorhin gehört haben. Aber von dort hätten sie auch andere Bilder schöpfen können, z.B. den auf den Wolken des Himmels thronenden Richter, wie das später ja auch geschah. Aber das erste Bild war das vom guten Hirten. Da war ihnen, wie es scheint, das Erste und Wichtigste, was sie über Jesus kundtun wollten. Doch etwas anderes kommt noch hinzu: Bilder vom guten Hirten gab es schon längst, bevor Christen mit ihnen Jesus darstellten. Vorher galten sie einem anderen: dem griechischen Gott Hermes. Hermes war so etwas wie ein Götterbote. Er hatte die Aufgabe, Nachrichten vom Himmel zur Erde zu bringen und den Menschen zu übersetzen, was die Götter ihnen mitteilen wollten. Ganz am Anfang errichtete man ihm kleine Denkmäler, die immer dort standen, wo sich Wege gabelten oder einen ungewohnten Verlauf nahmen, damit die, die unterwegs waren, sich nicht verirrten. Wegweiser also war Hermes, Wegweiser aber nicht nur vom Ort A zum Ort B, sondern Wegweiser in einem tieferen Sinn: dorthin, wohin man unbedingt kommen musste mit dem Leben, Einweiser ins Geheimnis.

III
Wenn Christen auf das Hermesbild des guten Hirten zurückgriffen, um zu sagen, was ihnen Christus bedeutete, dann wollten sie damit sagen: Für uns ist Jesus Christus das, war ihr von Hermes glaubt: Er richtet uns aus, was Gott uns zu sagen hat. Er übersetzt Gottes Willen in eine Sprache, die wir verstehen. Das meint das Evangelium, wenn es Jesus die Worte in den Mund legt: Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne. Jesus ist damit vertraut, wie es ist, ein Mensch zu sein: Er kennt die Fragen, die Sorgen, die Versuchungen, auch die Freude, die Trauer, die Angst. Selbst das Geheimnis des Bösen ist ihm nicht fremd, gerade ihm nicht, weil er sein Leben lang nichts anders tat, als es zu entlarven und zu besiegen. Er kennt den Menschen bis zum Grund.

Aber genauso sehr ist er mit Gott vertraut. Mit Gott vertraut sein bedeutet nicht, über ein Geheimwissen zu verfügen, das andere nicht haben, sondern: Sich jeden Augenblick des Lebens Gott nahe wissen und so handeln, wie es solcher Nähe entspricht. Das war es ja, was Jesus seine durch nichts in Frage gestellte Sicherheit gab, wenn er von Gott sprach oder wenn er handelte – selbst dann, wenn er mit seinem Reden und Tun im Widerspruch stand zu dem, was Menschen sonst von Gott sagten oder wie sie sich verhielten.

Wenn er den Vater kennt, wie der Vater ihn kennt, und er zugleich uns kennt, wie wir ihn kennen, dann verwebt sich in ihm gleichsam dieses doppelte Vertrautsein. Und das bedeutet: In ihm und durch ihn können wir Menschen Gott selbst auf menschliche Weise kennen. Wie er war, so ist Gott. Was er tat, wie er lebte, was er sagte, verrät, wer Gott ist und was er will. So ist uns Jesus Bote von Gott und sein Übersetzer für uns und damit der, der Sorge trägt, dass es gut ausgeht mit uns – guter Hirt eben.

IV
Wenn im Evangelium viermal vom "Kennen" die Rede ist – er uns, wir ihn, der Vater ihn, er den Vater –, dann klang für alle der biblischen Sprache, also des Hebräischen, Mächtigen, aber auch noch für die frühen griechisch sprechenden Christen etwas mit, was wir in unserer Sprache ausdrücklich dazusagen müssen: "Kennen" hatte etwas mit "lieben" zu tun – weshalb die Bibel ja auch die Begegnung von Mann und Frau mit "Sie erkannten sich" bezeichnet. Man kann, heißt das, etwas oder gar jemanden niemals kennen, wenn ich ihm nicht ein Stück Sympathie, ein durch nichts getrübtes Ihm-gut-Sein entgegenbringe. Dann erst kann ich wissen, wer er wirklich ist, dann erst verstehe ich ihn. Das ist auch Voraussetzung dafür, dass ich den, der der gute Hirt ist, als guten Hirten erkenne.

Freilich: bei der Liebe muss immer einer den Anfang machen. Jesus hat ihn schon längst gemacht, auf eine Weise, die keiner, der Augen im Kopf hat, übersehen kann: Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Das ist sein Erkennungszeichen. Jesus hat sein Leben gegeben. Er hat sich nicht geschont, um das, was er uns von Gott auszurichten hatte, absolut unverfälscht weiterzusagen, in eigenes Fleisch und Blut zu übersetzen. Die Botschaft von Gott, die er so weitergibt, heißt: So viel bist du mir wert! Und weil Jesus so war, wie ich bin, kannst du dem Weg trauen, den er dir weist. Je mehr du ihn kennst, kennst du mich und wirst du erkennen, dass sein Weg der wahre ist.

Der Anfang mit dem Kennen, das aus Liebe besteht, ist schon gemacht und unwiderruflich. Bekennt ein Mensch: „Ich bin Christ“, dann heißt das soviel wie: Diesen Anfang lasse ich nie mehr los. Und ich mache weiter damit.