Wie Jesus seine Rolle findet

6. Sonntag B: Mk 1,40-45

I.
Wenn die Anekdote nicht wahr ist, wäre sie gut erfunden. Sie handelt von dem Kölner Domkapitular Alexander Schnütgen, einem Kunstexperten bis in die Haarspitzen, dessen Name bis heute durch das nach ihm benannte Museum lebendig geblieben ist. Schnütgen lag auf dem Sterbebett. Es ging dem Ende zu. Da hielten ihm die Angehörigen, wie in katholischen Familien damals üblich, ein Kruzifix ins Blickfeld. Da öffnete der Kunstliebhaber noch einmal die Augen, sagte: „Ah, 14. Jahrhundert“, schloss die Augen und verschied.

II.
Ich will jetzt nicht Kollegenschelte treiben (oder wenigstens nicht zu viel) – aber manchmal kommt es mir vor, einige Exegeten gehen mit der Bibel nicht unähnlich um. Und zwar besonders auffällig dort, wo es darum geht, sich über das Auftreten Jesu zu äußern. Sie schauen gleichsam durch das, was die Evangelisten sagen, hindurch, reden von Historie und von Texten, deren Formen und Strukturen. Das ist natürlich legitim, manchmal auch interessant. Aber geht es nur um Historisches und Texte?

III.
Liest man die Verse des heutigen Evangeliums und ihr Umfeld mit dieser Brille, dann bleibt nicht viel. Darum sind die meisten Kommentatoren der Ansicht, da, in diesem ersten Markus-Kapitel, seien halt ein paar Notizen über das anfängliche Wirken Jesu zusammengestellt, eher unbeholfen, ohne größere literarische oder gar theologische Ambition des Evangelisten. Anders freilich, wenn man stattdessen davon ausgeht, dass uns Markus das Leben Jesu so erzählen will, wie es der Frage von jemandem entspräche, der noch nicht allzu viel oder gar nichts von diesem Jesus weiß – und also erst herangeführt werden muss an das, worum es da eigentlich geht.
Fängt man ein kleines Stück vor unserem Evangelium mit solchem Hinhören an, dann erfährt man zuerst, dass Jesus zunächst weder in der Art seines Auftretens noch mit dem Inhalt seiner Predigt besonders auffällt. Seine Botschaft unterscheidet sich im Grunde nicht von der des Täufers Johannes. Was ihn von diesem und den Schriftgelehrten unterscheidet, ist, dass ihm bei seinem ersten Auftritt in der Synagoge von Kafarnaum etwas passiert, was er nicht vorhergesehen, geschweige denn geplant hatte: Er kommt, ergreift das Wort zum Lehren, wie das jeder erwachsene Jude tun durfte. Aber wie er lehrt, das macht die Menschen betroffen. Und dann schreit einer auf, weil Jesu Predigt sein Innerstes offenkundig dermaßen erschüttert hatte, dass alles, was ihm sein Leben zusammen hielt, zerbarst. Das Evangelium spricht von „unreinem Geist“, von „Besessenheit“ und meint damit: Da ist ein Mensch derart seiner selbst entfremdet, steht einer derart unter dem Diktat von Zwängen und Ängsten, dass er gar nicht mehr er selbst ist. Aber in der Begegnung mit Jesus und seiner Predigt vom Gottesreich fühlt sich diese innere Sklavenmacht so provoziert und in die Enge getrieben, dass sie sich selber verrät.
Das ist das erste Wunder Jesu. Eigentlich hat gar nicht er es gewirkt. Es passierte ihm geradezu, widerfuhr ihm. Aber zugleich bestimmt es alles weitere unmittelbar: Sein Ruf verbreitet sich wie ein Lauffeuer, etwas Ähnliches wiederholt sich bald im Haus des Petrus mit dessen kranker Schwiegermutter – und schon stehen Kranke und Besessene in Scharen an, um durch ihn befreit zu werden von ihrer Not und ihren Gebrechen. Alle suchen dich, heißt es bei Markus. Aber natürlich: Sie suchen den Wunderheiler. Man merkt förmlich, wie Jesus damit fertig werden muss. Er sucht die Einsamkeit des Gebetes. Und dort fällt die Entscheidung für etwas, woran er so zuvor wohl gar nicht gedacht hatte: Er verlässt seine angestammte Heimat und wird Wanderprediger. Auf Feinheiten bedacht, nennt Markus darum auch erst ab jetzt die Begleiter Jesu, die er zuvor nur mit Namen erwähnt hatte, als Jünger.
Unter diesen Vorzeichen kommt es zu der Begebenheit, die uns das heutige Evangelium vor Augen stellt: die Begegnung mit dem Aussätzigen. Allein die Art des Leids, das da vor Jesu Augen kommt, ruft für den Schriftkundigen schon ein ganzes Netzwerk von Anspielungen auf, die so etwas wie die Grundierung der Szene bilden: Ist doch Aussatz im Alten Testament Symptom höchster Bedrohung für die menschliche Gemeinschaft des Volkes, für die Zusage des Fortbestands, der zur Mitte der Gottesverheißungen an Israel gehört. Und noch gewichtiger: „Reinigung“ ist das Leitmotiv der Liturgie des großen Versöhnungstages, die im Kap. 16 des Buches Levitikus beschrieben wird. Dieses Kapitel steht genau in der Mitte des Levitikusbuches und dies wiederum in der Mitte des Pentateuch, also der ersten fünf Bücher der Bibel – was zusammengenommen so viel heißt wie: Das ist das Zentrum, darum geht es in schlichtweg allem, was von Gott erzählt wird – die große Versöhnung zwischen ihm und Israel, Himmel und Erde.
Und genau das intoniert Markus hier in seiner Erzählung des Lebens Jesu und sagt damit: Was da mit Jesus geschah und geschieht seit dem Wunder in der Synagoge von Kafarnaum, stellt ihn ins Kraftfeld der innersten Mitte des jüdischen Glaubens. Umso schärfer ist damit natürlich zugleich die Frage nach Jesus selbst, nach seiner Rolle und – modern gesprochen – nach seinem Selbstverständnis aufgeworfen: Ob es um ihn als Wunderheiler oder als Gottesboten und damit um ihn, oder um Gott geht.
Die Antwort, die Jesus selbst gibt, lässt nichts im Unklaren: Er schickt den Geheilten weg zu tun, was gemäß Gesetz und Tradition vorgeschrieben ist, d.h. er hält das Wunder flach, macht so wenig wie möglich um es her, damit die Aufmerksamkeit nicht auf ihn gelenkt werde. Nur von daher versteht sich, warum von Jesus gesagt wird, er habe den vom Aussatz Gereinigten weggeschickt und ihm eingeschärft, niemand etwas von dem Geschehenen zu erzählen. Übersetzte man sehr buchstäblich, müsste es sogar heißen: Jesus habe den Geheilten angeschnaubt und hinausgeworfen. Doch der hält sich nicht an den Schweigebefehl. Im Gegenteil tratscht er geradezu – menschlich verständlich – überall herum, was passiert ist und dass das mit Jesus zu tun hat. Nur von Gott und seinem Reich, von dem, worum es Jesus geht, sagt er nichts. Darum muss Jesus selbst eingreifen: Der weitere Fortgang des Evangeliums (schon am nächsten Sonntag) wird uns Jesus beim Zeugnis für sich selbst zeigen: Wie er prophetischen Anspruch erhebt und das wunderbar Heilende, das zugleich von ihm ausgeht, in den Dienst der Beglaubigung dieses Anspruchs stellt. Oder anders gewendet: Wir werden sehen, wie er lernt, dass er die Botschaft vom Gottesreich, von der großen Versöhnung, nicht ausrichten kann, ohne dass auch von ihm in Person die Rede ist.

IV.
Genau das ist der urbiblische Anfang dessen, was die Theologen später Christologie nennen und worum alle einschlägigen Konzilsentscheidungen in ihrer manchmal für uns so schwierigen Sprache der Metaphysik und auch der mehr dem Schweigen als dem Reden verpflichteten negativen Theologie gerungen haben. Ohne Zögern würde ich behaupten, dass auch die großen christologischen Dogmen eher unbeholfene, von der Armut unserer Sprache gezeichnete Versuche sind, das geschichtlich Unableitbare, das von anderswo Kommende des Auftretens Jesu ein wenig zu erhellen. Also das, was hinter dem steckt, das Jesus selbst widerfuhr in den ersten Wundern. Und warum sollte uns das leicht fallen, wenn er selbst nach Überzeugung des Evangelisten Markus eben dieses Andere an sich, das dennoch zugleich seine innerste Mitte ausmacht, lernen musste?!

V.
Mir scheint alles andere als beiläufig, dass Markus am Ende dieser Begebenheit mit dem Aussätzigen von Jesus sagt, ab jetzt habe er sich nur noch außerhalb der Städte an einsamen Orten aufgehalten. Das war vielmehr der einzig mögliche Lernort für die Einübung jener Gratwanderung, bei der Gottesreichpredigt und Prediger ineinsfallen, ohne sich gegenseitig überblenden zu dürfen. Vielleicht braucht es eine theologische Grenzgängerin wie Madeleine Delbrel, jene Mystikerin der Straße, um das zu verstehen. Sie schrieb einmal:

Wahrhaft einsam zu sein heißt für uns, an Gottes Einsamkeit teilzuhaben.
Er ist so groß, das er nichts und niemanden sonst Raum lässt, es sei denn in ihm.

Allein sein
heißt nicht, die Menschen hinter sich gelassen
oder sie verlassen zu haben;
Allein sein heißt wissen, dass du groß bist, o Gott,
dass du allein groß bist
und dass kein nennenswerter Unterschied besteht
zwischen der Unendlichkeit der Sandkörner
und der unendlichen Zahl menschlichen Lebens…

Das Holz, das im Feuer brennt, kümmert sich nicht um
die Landschaft.
Wir leben in einer verschwenderisch heißen Glut.
Sengt sie uns nicht, dann, weil unsere Füße daneben
sind,
denn an Holz fehlt es nicht.

Was macht es aus, welchen Ort wir in der Welt haben,
ob er voller Menschen ist oder öde;
wo immer wir sind, sind wir „Gott mit uns“,
wo immer wir sind, sind wir „Emmanuel“.

Hat Gott eine Seele völlig für sich gewonnen, dann ist sie so verwandelt, dass er sie völlig frei und allein lässt, das ihre zu tun. Aber was sie dann tut, ist schlichtweg Gottes. Das ist das Geheimnis, das die Menschen von Kafarnaum spürten, als sie sich fragten, was das zu bedeuten habe, dieses Vollmächtige, betroffen Machende an seiner Rede.
Der einzige Weg, dem wirklich nahe zu kommen und den Jesus des Evangeliums zu verstehen, wie die Delbrel und andere hinter ihm her wenigstens manche kleine Weile in die Glut dieser Einsamkeit Gottes einzutauchen. Unsere Art, das Leben zu führen, macht das nicht leicht. Umso nötiger ist es.