Der bekannte Gott

5. Fastensonntag B: Jer 31,31-43 (+ Joh 12,20-33)

I.
Schon länger macht der Amerikaner Andrew Vachss von sich reden. Vachss hat zwei Berufe: Er ist Anwalt und er ist Schriftsteller. Als Anwalt hat er fast ausschließlich mit Jugendlichen aus den Slums amerikanischer Großstädte zu tun. Und als Schriftsteller schreibt er in Erzählungen und Romanen nieder, was er in seinem Beruf so erlebt. So versucht er, wie er selbst sagt, mit dem Entsetzen über das fertig zu werden, was Menschen einander antun.
Vor einiger Zeit erschien von Vachss ein Kinderbuch. Darin kommt ein Kind aus der Bronx vor. Eines Tages trieb es sich in einem Hinterhof herum. Da entdeckte es eine Katze mit einer Hand voll Jungen. Das Kind ging näher hin. Da stellte sich die Katze schützend über die Kleinen und fauchte. Das Kind starrte fassungslos auf das Tier. Und dann sagte es wie vor den Kopf gestoßen zu einem Streetworker, der gerade vorbeikam: Mister, Mister, haben Sie gesehen? Die Katze tut ihren Kindern nicht weh! Sie hilft ihnen!

II.
Dieses Kind entdeckte da anscheinend das erste Mal in seinem Leben, dass ein Großes seine Kleinen nicht misshandelt und quält. Es hatte dies bisher selbst nie erlebt. Es ist ganz verwirrt, dass es das auch gibt, beschützt zu werden und nicht getreten zu werden. Wie zerstört muss eine Kinderseele schon sein, wenn sie von diesem Erlebnis, dass ein Tier seine Jungen schützt, wie schockiert ist! Aber selbst noch unter den Verschüttungen der offenkundig als normal erfahrenen Gewalt in der eigenen Familie sogar hatte sich unausrottbar eine Ahnung, ein leises Gespür in diesem Kind erhalten, dass es im Leben eigentlich anders sein müsste. Sonst wäre ihm das Verhalten der Katze ihren Kleinen gegenüber nicht so bestürzend aufgefallen.

III.
Diese Begebenheit in der Miniatur dieses Kinderlebens ist so etwas wie ein Gleichnis für das, was im Großen geschieht zwischen Mensch und Gott: dass Menschen ganz oft erleben und handeln, wie wenn es keinen Unterschied zwischen gut und böse mehr gäbe, dass sie Unrecht, Leid, Gewalt, Lüge mehr oder weniger selbstverständlich hinnehmen und für normal halten. Und dass sie trotzdem manchmal für einen Augenblick lang ahnen, dass es nicht so sein darf, weil ihnen der Unterschied zwischen gut und böse unauslöschlich in den Grund ihrer Seele geschrieben steht.
Davon redet die heutige Lesung aus dem Buch des Propheten Jeremia. Gott hatte sein Volk beim Auszug aus Ägypten in die Freiheit eines menschenwürdigen Lebens geführt. Und um dieses Geschenk zu schützen, hatte er ihnen am Sinai die Zehn Gebote geschenkt – nicht als ein Gatter, das sie in eine neue Gefangenschaft sperrt, sondern als Geländer sozusagen, das den Israeliten hilft, nicht von dem Weg abzukommen, auf dem allein sie das Geschenk ihrer Befreiung und des neuen Lebens bewahren konnten. Sie kennen die Zehn Gebote:
Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!
Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen!
Du sollst den Sabbat heiligen!
Ehre Vater und Mutter!
Du sollst nicht morden, nicht die Ehe brechen, nicht stehlen, nicht lügen usw. Gebote, nach Überzeugung der Israeliten von Anfang an, leicht zu halten, Gebote, die Menschen helfen, miteinander auszukommen und vor Gott zu bestehen mit dem, was sie tun und lassen. Und trotzdem erzählt die Bibel, wie Israel oft und oft und oft die Gebote bricht. Irgendwie konnte sich immer wieder die Versuchung breit machen, die Gebote als von außen kommend, als aufdiktiert zu betrachten und als etwas, das von einem Stück Leben aussperrt.

IV.
In einer Situation, da dieser Irrtum wieder einmal seinen bitteren Preis gefordert hatte, wird dem Propheten Jeremia aufgetragen, einen neuen Bund anzukündigen: Beim Alten Bund vom Sinai waren die Gebote auf Steintafeln geschrieben und Mose musste das Volk über Gott und seinen Bund belehren – beides Ausdruck dafür, dass sich Israel die Weisungen nicht selbst ausgedacht und zurechtgelegt hat. Jetzt aber, von dem neuen Bund, sagt Gott durch den Mund des Propheten: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Das bedeutet: Obwohl nicht selbst gemacht, kommen die Gebote dennoch nicht von außen, sondern von innen, weil sie dem Wesen und Fühlen des Menschen zutiefst eingeschrieben sind. Um zu wissen, was gut und böse, recht und unrecht ist, braucht der Mensch eigentlich nur auf das zu achten, was er selbst ist. In seinem eigenen Herzen, seiner Mitte findet er den Maßstab zum rechten Handeln und erahnt an diesem Maßstab zugleich, wer sein Gott ist.
Diesen Neuen Bund kennzeichnet also eine atemberaubende Unmittelbarkeit zwischen Gott und dem Einzelnen. Jede und jeder steht mit ihm auf Du und Du. Wer Gott ist und was es mit ihm auf sich hat, findet, wer in sein Inneres geht und dort die Gottesschrift, seine Signatur sozusagen, wahrzunehmen vermag. Das sagte Jeremia im sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Grob gesprochen ein Jahrtausend später treibt genau dieser Gedanke den größten Theologen der frühen lateinischen Kirche um: Augustinus. Und noch einmal 1300 Jahre später bewegt er einen der größten philosophischen Geister deutscher Sprache, den Königsberger Immanuel Kant. In unserem Jahrhundert faszinierte der Gedanke den Theologen Karl Rahner – und auch gegenwärtig wagen sich einige in die Spuren, die die soeben Genannten gelegt haben. Was sie alle so faszinierte an der Idee einer Gotteskompetenz nicht nur der Profis, die den theologischen Slang beherrschen, sondern aller, der Großen und Kleinen, biblisch gesprochen, war und ist, dass sich das, was Jesus von Nazaret sagte, tat und war, bis ins Detail als Erfüllung dessen verstehen lässt, was Jeremia in prophetischer Utopie verheißen hatte:

V.
Es sind die Kleinen, die Armen, die Kinder, die zu allererst etwas von Gott verstehen, verkündet er. Seine Botschaft richtet er nicht in Lehrsätzen, sondern in Gleichnissen aus – in Gleichnissen geschöpft aus der Welt des familiären Haushalts, der Bauern und Fischer. Mehr noch: Um Gott zu begegnen, braucht es für ihn keine Opfer, keine Priester und Hierarchien, also Heilige Herrschaften. Und erst recht natürlich keine Monsignori, Kanoniker, Prälaten, Protonotare und was es sonst an katholischer Folklore geben mag, denn: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen – und nicht erst dort, wo die Gottesgegenwart amtlich dekretiert wird. Und der da in erster Person spricht und darum „ich“ sagt, ist sich gewiss, dass sich in dem, was er tut, auf menschliche Weise spiegelt, wie Gott ist: dass er Hungernden zu essen gibt, Kranke gesund macht, auf die Sünder von sich aus voraussetzungslos zugeht und ihnen damit einen neuen Anfang schenkt. Ein Mensch aus Fleisch und Blut als lebendiges Gleichnis Gottes. Und er ist das dazu, dass wir werden, wie er war. Das ist der Kern des Evangeliums und genau Verwirklichung jenes Neuen Bundes, von dem Jeremia kündete.

VI.
Nun könnte jemand natürlich unschwer einwenden, dass eine solche Gottunmittelbarkeit einer und eines jeden der Willkür Tür und Tor öffnet. Macht sich denn, wenn jede und jeder Gott zu allererst im Innersten ihrer und seiner selbst begegnet, nicht jeder seinen und ihren Gott? Die Gefahr bestünde in der Tat, wenn dem nicht das Evangelium selbst vorgebeugt hätte – und zwar dadurch, dass es immer wieder das Jenseitige, oder besser Inseitige, ans Diesseitiges bindet, manchmal so rabiat, dass es einem die Sprache verschlägt. Auch im heutigen Evangelium geschieht das, wenn Jesus das Sterben als Bedingung des Fruchtbringens benennt, oder anders gesagt: dass sich das Ewige, das Bleibende eines Menschenlebens daran bemisst, wie viel davon eine oder einer nicht für sich behalten, sondern hergegeben hat. Das Gericht ist christlich gesehen ein Standgericht, hat Franz Kafka einmal gemeint. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Wir machen es uns selbst, das Gericht. Auch das gehört zur Gottunmittelbarkeit, die Jeremia verheißen und die Jesus heraufgeführt hat. Und zugleich trägt dieses Ineinander von Jenseits und Diesseits in das Erstpersönliche der Gottunmittelbarkeit eine Bestimmtheit hinein, wie sie unbedingter nicht sein könnte.

VII.
Ein dem Namen nach unbekannt gebliebener Jesuit schrieb in einem Nachruf auf den Gründervater seines Ordens, den Hl. Ignatius von Loyola, dieser habe sich vom Größten nicht bezwingen und dennoch vom Kleinsten einnehmen lassen: von Gott das Kühnste zu denken und zugleich in Augenhöhe zu bleiben mit dem gelebten Leben, mit seinen Banalitäten und Trivialitäten oft, also empfindsam zu sein für Glück und Not des anderen – die Spannung zwischen beidem auszuhalten und das Größte mit dem Kleinsten behutsam zu versöhnen und umgekehrt: das ist so etwas wie die Verwirklichung von Jeremias‘ Neuem Bund unter christlichem Vorzeichen.

VIII.
Wir dürfen gewiss sein: Gott traut uns zu, aus uns selbst das Rechte zu tun und in der Wahrheit zu sein, weil er uns beides unauslöschlich in die Seele geprägt hat. Wir stehen auf Du und Du mit ihm. Wenn wir das Böse tun und uns im Irrtum verstricken, dann darum, weil wir unser selbst nicht achten – und darum auch Gott nicht. Das ist immer der Anfang der Sünde.
An solche Selbstmissachtung kann man sich so gewöhnen, dass sie einem selbstverständlich scheint. Dann ist, was Gott in uns gelegt hat, wie verschüttet. Aber auch darunter noch bleibt es. Darum kann es wieder freigelegt werden. Schon vor zweieinhalb Jahrtausenden hat das der Prophet Jeremia getan. Was er sagte, gilt immer noch. Wir alle wissen schon längst, was das Gute und das Richtige ist. Wir tragen es in uns. Wenn einer Mut hat, einmal wirklich in sich hineinzuhören und sich nichts vorzumachen, dem kann freilich passieren, von Gott und sich selber genauso getroffen zu werden wie das Bronx-Kind von der Katzenmutter. Aber das wäre Umkehr.