Unmittelbarkeit

5. Fastensonntag B: Jer 31,31-34 + Joh 12,20-33

I.

Zu den großen Dichtern des geistlichen Liedes im 20. Jahrhundert gehört der evangelische Pfarrer Jochen Klepper. Advent und Weihnachten waren ihm besonders wichtig. Aber zugleich war er überzeugt, dass man nicht zeitenhoben Gott lobsingen kann. Darum darf nicht verwundern, dass auch seinen Weihnachtstexten die Kollision zwischen Biographie und Zeitgeschichte zwischen die Zeilen geschrieben ist, die sich seit 1933 für ihn von Jahr zu Jahr verschärfte. Der Grund: Seine geliebte Frau war Jüdin. Das führte zunächst dazu, dass er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde, also Berufsverbot erhielt. Eine kleine Sondergenehmigung war ihm nur unter der Auflage verstattet, für jede literarische Arbeit, selbst die kleinste, eine Druckerlaubnis zu beantragen. Für sein Weihnachtskyrie, eine seiner bekanntesten Dichtungen, erhielt er diese nach monatelangem Warten kurz vor Silvester '37. In dem Lied heisst es unter anderem:

Die Welt ist heut voll Freudenhall.
Du aber liegst im armen Stall.
Dein Urteilsspruch ist längst gefällt,
das Kreuz ist dir schon aufgestellt.
Kyrie eleison!
Die Welt liegt heut im Freudenlicht.
Dein aber harret das Gericht.
Dein Elend wendet keiner ab.
Vor deiner Krippe gähnt das Grab.
Kyrie eleision!

Und Klepper schließt mit der Strophe:

Wenn wir mit dir einst auferstehn
Und dich von Angesichte sehn,
dann erst ist ohne Bitterkeit
das Herz uns zum Gesange weit!
Hosianna!

II.

Wohl passierten solche Zeilen noch eine Weile die Zensur. Dann erhöhten die Nationalsozialisten den Druck auf Klepper. Sie verlangten, er solle sich von seiner Frau scheiden lassen. Am 8. Dezember schrieb Klepper in sein Tagebuch: Gott weiß, dass ich es nicht ertragen kann, Hanni und das Kind in diese grausamste und grausigste aller Deportationen gehen zu lassen. Er weiß, dass ich ihm dies nicht geloben kann, wie Luther dies vermochte: Nehmen sie Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, lass fahren dahin. Leib, Gut, Ehr – ja! Gott weiß aber auch, dass ich alles von ihm annehmen will an Prüfung und Gericht, wenn ich nur Hanni und das Kind notdürftig geborgen weiß.

Als Jochen Klepper schließlich sieht, dass er seine Familie nicht bewahren kann, gehen die drei am 10. Dezember 1942 gemeinsam aus dem Leben. Die letzten Sätze im Tagebuch lauten: Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott. Wir gehen heute Nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in diesen letzten Stunden das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben. –

III.

Vielleicht kann man sagen, dass Jochen Klepper mit seiner Dichtung und seinem Geschick zu den zeitgenössischen Nachfahren des Propheten Jeremia gehört, jenes Jeremia, dem sein Prophetenamt von Anfang an mehr Last als Ehre war. Sohn einer priesterlichen Familie des Stammes Benjamin, wird er jung – zu jung nach eigener Überzeugung – zum Propheten, wörtlich genommen: zum Hervor-Sager der Wahrheit über das Verhältnis von Gott und Israel – berufen, erfährt gegen seinen Einsatz für die Treue zum Gottes Bundes erbitterten, hasserfüllten Widerstand bis zu Gewalttätigkeit und Lebensbedrohung, muss das bittere Eintreten seiner Warnung – den Verlust von Tempel und Land – erleben, wird selbst ins babylonische Exil verschleppt. Wie hätte er da nach zum Sänger der Klagelieder werden sollen, die man ihm zuschrieb, zum Unheilspropheten:

Täglich tönte ich von neuen Nöten,
die Du, Unersättlicher, ersannst,
und sie konnten mir den Mund nicht töten,
sieh Du zu, wie Du ihn stillen kannst... -

so fasst kein Geringerer als Rainer Maria Rilke das Geschick des Exilspropheten zusammen. Trotzdem hält er fünfzig Jahre durch – und kämpft sich mitten in dieser Katastrophe zu einer Neuentdeckung durch: der geistlichen Einsicht, dass, wenn denn an Gott überhaupt etwas daran ist, auch das gegenwärtige Unglück und ihre menschlichen Verursacher nicht außerhalb, sondern in Gottes Hand stehen, stehen müssen. Und dass darum dieser Gott auch nach tausend Bundesbrüchen nicht von seinem Volk lassen, es nicht aufgeben wird. Dass Tempel, geschriebene Tora und Opfer dahin gehen mögen, weil Gott sein Gesetz den Seinen immer schon ins Herz geschrieben habe, auf Du und Du von Herz zu Herz zu ihnen stehe. Und dann brauchten sie sich nicht mehr gegenseitig zu belehren, sondern alle – groß und klein gleichermaßen – würden Gott erkennen. So mischt sich ein Hauch von Evangelium in Jeremias Klagelieder.

Diesen Neuen Bund kennzeichnet eine atemberaubende Unmittelbarkeit zwischen Gott und dem einzelnen. Wer Gott ist und was mit ihm auf sich hat, findet, wer in sein Inneres geht und dort die Gottesschrift, seine Signatur sozusagen, wahrzunehmen vermag. Das sagte Jeremia im sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Grob gesprochen ein Jahrtausend später treibt genau dieser Gedanke den größten Theologen der frühen lateinischen Kirche um: Augustinus. Und noch einmal 1300 Jahre später bewegt er einen der größten philosophischen Geister deutscher Sprache, den Königsberger Immanuel Kant. In unserer Epoche faszinierte der Gedanke den Theologen Karl Rahner – und gegenwärtig wagen sich einige wenige, aber die um so engagierter, in die Spuren, die die soeben Genannten gelegt haben. Was sie alle so faszinierte an der Idee einer Gotteskompetenz nicht nur der Profis, die den theologischen Slang beherrschen, sondern aller, der Großen und Kleinen, biblisch gesprochen, war und ist, daß sich das, was Jesus von Nazaret sagte, tat und war, bis ins Detail als Erfüllung dessen verstehen läßt, was Jeremia in prophetischer Utopie verheißen hatte:

Es sind die Kleinen, die Armen, die Kinder, die zu allererst etwas von Gott verstehen, verkündet er. Seine Botschaft richtet er nicht in Lehrsätzen, sondern in Gleichnissen aus – in Gleichnissen geschöpft aus der Welt des familiären Haushalts, der Bauern und Fischer. Mehr noch: Um Gott zu begegnen, braucht es für ihn keine Opfer, keine Priester und Hierarchien, denn: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen. Und der da in erster Person spricht und darum "ich" sagt, ist sich gewiß, daß sich in dem, was er tut, auf menschliche Weise spiegelt, wie Gott ist: daß er Hungernden zu essen gibt, Kranke gesund macht, auf die Sünder von sich aus voraussetzungslos zugeht und ihnen damit einen neuen Anfang schenkt. Ein Mensch wie wir aus Fleisch und Blut als lebendiges Gleichnis Gottes. Und er ist das dazu, daß wir werden, wie er war. Das ist der Kern des Evangeliums und genau Verwirklichung jenes Neuen Bundes, von dem Jeremia kündete.

IV.

Diese prophetische Kunde von der Gottunmittelbarkeit ist nicht zuletzt deswegen so wichtig, weil man nur von ihr her bestimmte Passagen der Evangelien angemessen verstehen kann, gerade solche, die im Gang ihrer Wirkungsgeschichte so etwas wie Kennmelodien des christlichen Glaubens geworden sind. Zu ihnen gehört auch der Spitzenvers des heutigen Evangeliums vom Weizenkorn, das nur Frucht bringt, indem es stirbt, andernfalls allein, also unfruchtbar bliebe. Natürlich kann man mit Blick auf dieses Wort aus der letzten Rede des johanneischen Jesus vor der Passion, also aus seinem Vermächtnis, davon sprechen, dass da mit dem Prinzip Schenken ist Beschenktwerden ein Gesetz des Lebens formuliert werde, dem das Gesetz der Liebe entspreche. Aber was heisst das schon! Und wie gross die Gefahr ist, aus solchen Herrenworten die Grundnorm einer Opfermoral zu schmieden, - der Belege dafür aus der Geschichte nicht nur der älteren Katechese und Verkündigung ist Legion!

Entgehen kann dem nur, wem beständig vor Augen bleibt, dass Worte wie das vom Weizenkorn – vom Leben hingeben und Leben bewahren – tief in ein intimes Du auf Du zwischen Jesus und seinem Gott eingebettet sind. Darum ist es ja auch, als antworte Jesus im heutigen Evangelium gar nicht auf die durch die Jünger an ihn herangetragene Bitte der frommen Griechen, sondern führe Zwiesprache mit dem, den er seinen Abba nennt. Erst wenn man das Weizenkornwort als Poesie eines liebenden Du-auf-Du hört, entfaltet es seine Strahlkraft.

V.

Und es ist diese Intimität der Unmittelbarkeit auch das Geheimnis eines Jeremia und eines Jochen Klepper. Ohne sie ließe sich nicht mehr begreifen, wie Menschen in ihrer Situation einer Regung des Trostes und des Tröstens anderer fähig sind, ohne ihr Elend wegzulügen – es sei denn man unterstellte ihnen, sie redeten einfach zynisch oder aus dem Ressentiment der Schwachen. Wie Jeremia im versklavenden Exil von einem neuen Herzensbund künden; wie Klepper hinter der Krippe das Kreuz aufgerichtet, das Grab schon gähnen sehen und trotzdem mit Hosianna schließen; über der aus Verzweiflung selbst gesuchten Todesstunde immer noch den segnenden Christus sehen können, der um ihn und seine Lieben ringt – das vermag nur noch das Klammern an einen Gott, der so sehr schon immer da ist und für immer da bleibt, dass jeder Abgrund und jedes Dunkel, die sich zwischen ihn und sein Geschöpf drängen möchten, immer schon zu spät kommen. Jeremia und Jochen Klepper sind darum so etwas wie österliche Propheten, weil sie etwas versinnbilden von jener Innenseite des Karfreitags, die der Welt seit Golgota unauslöschlich eingestiftet ist. Nächste Woche werden wir dieses Geheimnis feiern.