Von den Zeichen des Lebens

Allerseelen: Klgl 3, 21-24 + 2 Kor 5,1. 6-7. 9a

I
Heute – am Tag nach Allerheiligen – feiern wir Allerseelen und beten für unsere Toten. Auch der Sonntag verdrängt dieses Gedenken nicht, im Gegenteil: Dieses kleine Osterfest des Herrentages mit dem Halleluia vor dem Evangelium stellt die Gedanken an Grab und Tod erst unter jenes besondere Vorzeichen, mit dem der christliche Glaube auf das Lebensende eines Menschen schaut.

II
Gewiss ist uns mehr oder weniger selbstverständlich, dass eines Menschen Dasein einmal zu Ende geht. Und doch gräbt sich jedes Mal unvergesslich in unsere Erinnerung, wenn der Tod einen Menschen fortnimmt, mit dem wir unser Leben – oft Jahrzehnte lang – geteilt haben und er mit uns: die Freude und die Trauer, die Hoffnung und das Bangen. Von einem Augenblick auf den anderen ist das Vergangenheit. Wo geht das Gelebte eines Menschen hin? Bleibt etwas davon für immer? Oder verliert es sich mit jedem Tag mehr im endlosen Mahlstrom der Zeit? So fragen wird, wenn wir Abschied nehmen müssen von einem unserer Lieben.

III
So fragen wir auch heute. Und an dieser Frage merken wir schmerzlich, dass wir dieses scheinbar so Selbstverständliche eines Menschenlebens, sein Enden, nicht verstehen. Er fügt sich nicht ein in den Reim, in das geordnete Ganze, als das wir unser Dasein verstehen möchten. Der Tod ist stumm. Und er macht stumm. Das gerade ist ja für uns das Schlimme an ihm, dass er einen solchen Abgrund auftut zwischen uns – den Lebenden – und denen, die nicht mehr sind. Über diese Kluft hinweg zu tragen vermag – wenn überhaupt – nur etwas, das nicht von uns selber kommt und vom Menschen ausgedacht ist: Worte oder Zeichen also, die von jenseits unserer Verfügungen stammen und die wir uns nur schenken lassen können.

IV
Eines der sprechendsten dieser Zeichen ist die Erde, die wir bei jedem Begräbnis über den Sarg streuen mit den Worten: „Von der Erde bist Du genommen und zur Erde kehrst Du zurück. Der Herr aber wird dich auferwecken.“ Mehrfach ist mir bei Begräbnissen passiert, dass mich Angehörige vorher baten, darauf zu achten, dass man nicht das dumpfe Fallen der Erdklumpen auf den Sarg hören müsse. Solche Beklemmung verrät, wie tief dieses Zeichen trifft. In ihm kommt auf nicht mehr zu verleugnende Weise zum Ausdruck, dass alles, was ein Menschenleben ausmacht, vergänglich ist. Was eine oder einer sein wollte und geleistet hat, was ein Mensch zu erreichen suchte und gewesen ist – das alles hat ein unwiderrufliches Ende. Eine Weile noch lebt es weiter in der Erinnerung der Lebenden. Und später, wenn auch die, die darum wussten, nicht mehr sind, da versinkt es im Dunkel der Vergangenheit – als ob es nie gewesen wäre. Von der Erde bist du genommen und zur Erde kehrst Du zurück. Nichts, was wir tun, nichts, was wir sind, entzieht sich dem Vergehen. So erfahren wir unser Dasein Tag für Tag – und unentrinnbar an einem offenen Grab.

Der Glaube weicht dieser Wahrheit nicht nur nicht aus. Er bekennt sich zu ihr im symbolischen Bedecken des Verstorbenen mit der Handvoll Erde. Aber er sagt auch hinzu, dass das noch nicht die ganze Wahrheit ist. Darum verbindet er das Zeichen mit dem Versprechen der Auferweckung. Wie kommt der Glaube zu diesem Wort? Er spricht es im Blick auf seinen Ursprung Jesus Christus. Dieser Jesus hatte sein ganzes Leben aufs Innigste mit Gott gelebt. Er war auch dann noch Gott treu geblieben, als man ihm dafür das Leben nahm – in der Gewissheit, dass ein Gott, der sich so sehr als der Nahe zu erfahren gibt, innerster als das Innerste eines Menschen selbst, – dass dieser Gott einen auch im Sterben nicht wird fallen lassen. Und dass darum der ganz an Gott sich anheim Gebende gar nicht untergehen kann. Wir sagen in unbeholfener Sprache dafür: Gott selber hat den Getöteten auferweckt und ihm neues, unzerstörbares Leben geschenkt. Und wir meinen damit: Gott bekundet und bezeugt, dass dieser Jesus sein Leben so gelebt hatte, dass es gültig war vor ihm. Vor Gott gültig sein aber heißt: endgültig sein.

Gültig vor Gott lebt ein Mensch sein Leben dort, wo er es menschlich lebt. Das ist nichts Selbstverständliches. Denn menschlich leben heißt: Liebe suchen und noch mehr Liebe schenken; heißt: lieber versöhnen als Zwietracht zu säen; heißt: Fehler verzeihen, aber mehr noch um die Vergebung eigener Verfehlungen bitten können, wo das Not tut; heißt: eingedenk bleiben, welcher Platz im Leben Gott gebührt. Und das ist auch der Quellpunkt alles anderen, der an Jesus auf einzigartige Weise sichtbar geworden ist: Denn er hat in Wort und Tat kund gemacht, dass letzter Grund und Halt für ein menschlich gelebtes Dasein nicht Besitzstand, nicht Ansehen, nicht Macht sein kann, sondern Gott allein: Auf ihn zu vertrauen, das reicht, um alle Prüfungen des Schicksals zu bestehen und die glücklichen Augenblicke nicht zu übersehen. Auf Gott zu vertrauen, das genügt, um übereingekommen sein zu können mit sich selbst und frei von allen Zwängen, die andere oder wir selbst meinen, uns aufladen zu sollen. Und darum war sich Jesus auch gewiss: Wenn Gott in allem, was mein Leben ausmacht, zu mir steht, dann wird er mich auch im dramatischsten Augenblick dieses Lebens, wenn es an sein Ende kommt, nicht fallen lassen. Dann wird er auch in dieser Stunde mich auffangen und für mich sein. Mein Leben samt meinem Sterben ist in seiner Hand geborgen.

Im Maße solcher Menschlichkeit reift in einem Menschenleben eine Innenseite, die an das Ewige rührt. Alles, was gültig war an einem irdischen Leben, weil es menschlich war, bleibt in Gott bewahrt. Das macht auch den Ernst unseres Daseins aus – und seine Würde. So groß hat uns Gott gewollt: Wir selber dürfen darüber befinden, was wir werden wollen und was von uns bleiben soll.

V
Freilich heißt das nicht, der anderen und unser eigenes Leben einmal ließen sich am Ende so einfach als Siegergeschichten erzählen. Dem steht entgegen, dass sich in das menschlich Geglückte unseres Daseins immer auch Zerbrochenes, Verfehltes und Verschuldetes mischt. Darum trägt die christliche Hoffnung das Siegel des Kreuzes. Das Kreuzzeichen steht für die Hoffnung, dass Gott auch aus den Bruchstücken gelebten Daseins bei sich ein gutes Ganzes zu machen vermag. Darum tragen wir genauso wie bei jeder Prozession und jedem festlichen Einzug beim Gottesdienst auch beim Begräbnis das Kreuz dem Verstorbenen voran. Wir richten das Kreuz noch über dem offenen Grab auf und zeichnen dann dieses Grundbild unseres Glaubens auf die Grabmäler unserer Gottesäcker. Es drückt nicht aus, dass das Leben nur Plage und Mühsal bereit hält für uns, sondern es ist ein Erinnerungszeichen an Gottes Treue, die sich dafür verbürgt, dass nichts, was wir im Vertrauen auf ihn gesagt, getan, gelebt und gelitten haben, vergeblich gewesen sein wird.

VI
So erinnert es uns an das Ostergeheimnis, das uns fähig macht, in der Trauer, die gewiss menschlich ist, dennoch in Frieden Abschied zu nehmen von unseren Lieben. Und zugleich gemahnt uns das Kreuz, unsere eigenen Erdentage, die uns noch geschenkt sind, im Vertrauen auf Gott zu leben, damit wir im Frieden mit uns selber einmal diese Welt verlassen können, um mit allen, die uns nahe waren, in Gott wieder vereint zu sein „am jüngsten Tag“, wie wir in der Sprache des Bekenntnisses sagen.

VII
Auch in der Zeit bis dahin bleiben wir mit den Verstorbenen verbunden in dem einen Gott, der der Lebendige, der Gott der Lebenden und der in Menschenaugen Toten ist, die in ihm leben. Diese Verbundenheit über das Grab hinweg ist es auch, was unserem Beten für die Toten seinen tiefen Sinn gibt: Wir nehmen sie in unser Wichtigstes, unser Sein mit Gott hinein, schenken ihnen davon etwas, menschlich gesprochen. Und bekanntlich ist Geschenk etwas am meisten dann, wenn der Beschenkte die Gabe gar nicht braucht und sie darum als Zeichen der ihm wohl wollenden Güte verstehen darf.

Umgekehrt aber gibt es, wenn solche todübergreifende Gemeinschaft mit den Verstorbenen besteht, auch etwas, was sie, die Toten für uns übrig haben: Der große Origenes hat es einmal mit Berufung auf den Apostel Paulus in einer Predigt so gesagt: „[…] auch die von hinnen scheidenden Heiligen erhalten nicht sogleich den vollen Lohn ihrer Verdienste, sondern sie warten auf uns, auch wenn wir verzögern, auch wenn wir träge bleiben. Nicht haben sie volle Freude, solange sie wegen unserer Irrungen unsere Sünden betrauern und beklagen. […] Und das wird – so Origenes – dann auch von uns selber gelten, wenn wir einmal ganz in Gott angekommen sind:
„[…] Du wirst also zwar Freude haben, wenn Du als Heiliger aus diesem Land scheidest; dann aber erst wird deine Freude voll sein, wenn dir kein Glied mehr fehlt. Warten wirst nämlich auch du, wie du selbst erwartet wirst. Wenn es aber dir, der du Glied bist, keine volle Freude scheint, solange ein Glied fehlt, um wie viel mehr muss unser Herr und Heiland, der das Haupt und der Urheber des Leibes ist, es für keine volle Freude ansehen, wenn er noch immer gewisse Glieder seines Leibes entbehrt? […] Er will also nicht ohne dich seine volle Glorie empfangen, das heißt, nicht ohne sein Volk, das sein Leib ist und seiner Glieder. […]“ (Origenes, 7. Homilie über Leviticus).
Solche Rede vom Warten der Verstorbenen und Heiligen auf uns mag sehr bildhaft sein, gleichwohl eignet ihr etwas zutiefst Menschliches, weil sie uns an den inneren Zusammenhang von Zeit und Ewigkeit, von Geschichte und Vollendung erinnert. Und wer diesen Zusammenhang ernst nimmt, wird vielleicht irgendwann sogar ein Gespür gewinnen können für etwas, das zahllosen Generationen vor uns tief vertraut war, aber unserem diesseitssatten Bild vom Leben so völlig fremd geworden ist: dass man sich freuen kann auch auf die Ewigkeit.