Gottes Sprachlehre

Dreifaltigkeitssonntag A: Ex 34, 4b. 5-6. 8-9


I
Etliche Jahre war ich Seelsorger in einem Gefängnis. Nicht nur das Zuhören und einfach Dasein ist dort wichtig, sondern genauso – und das überrascht Außenstehende oft – die Verkündigung. Die Leute dort hören meist sehr genau zu bei der Predigt. Sie wollen wissen, ob der da vorne was zu sagen hat, was sie angeht, wenn er denn schon redet. Und sie sind unbestechlich. Anfangs hatte ich besonders vor bestimmten Festen ein flaues Gefühl. Werde ich „rüberbringen“, was es da zu sagen gilt? Auch am Dreifaltigkeitssonntag ging es mir beim ersten Mal so. Aber dann war ich überrascht. Denn ich merkte, dass sich gerade die Auslegung alttestamentlicher Passagen besonders zu eignen schienen, deutlich zu machen, was denn das christliche Bekenntnis zum dreifaltigen Gott zuinnerst bedeutet. Was unsere älteren Glaubensgeschwister, auf deren Schultern wir stehen, an Gottesweisheit überliefern, lässt einen manchmal beinahe spielerisch nachvollziehen, wie ein Mensch aus Fleisch und Blut unabdingbar in das Geheimnis des unbegreiflichen Gottes hineingehören kann – denn das meint ja die Rede vom dreifaltigen Gott. Und wie dieses einmalige Ineinander von Himmel und Erde zum Heute „gleichzeitig“ werden kann zumindest für die, denen das Wort „Gott“ überhaupt noch etwas bedeutet. Diesen Weg möchte ich heute auch mit Ihnen beschreiten.

II
Wer ist Gott? Vielleicht haben Sie schon lange nicht mehr so gefragt. Aber mit dieser Frage fängt letztlich der Glaube an. Wer ist Gott? Juden wie Christen halten sich, vor diese Frage gebracht, an die Bibel. Gleichzeitig wissen sie, dass nicht einfach über Gott Bescheid weiß, wer dieses Buch kennt. Gott ist größer als das, was in menschlichen Worten in der Heiligen Schrift gesagt wird. Daher kommt übrigens auch, dass in der Bibel Dinge stehen, die sich widersprechen. Da ist menschliche Sprache im Sprechen über Gott an ihre Grenzen gestoßen und kann nur noch gleichsam sich selbst durchstreichend auf das Größere hinausweisen. Die Juden halten das in zwei Merksätzen fest, die mit dem Alphabet zu tun haben. Sie sagen: Das erste Wort der Bibel heißt „bereschit - im Anfang“. „Bereschit“ fängt mit „B“ an, also dem zweiten Buchstaben des Alphabets. Das „Aleph“, das „A“, ist Gott vorbehalten. - Oder sie sagen: Gott hat einen einzigen Buchstaben gesprochen - das „Aleph“ -, und die ganze Bibel ist das Echo davon. Unser Denken und Sprechen faßt Gott nicht, heißt das, und dennoch teilt sich in den menschlichen Worten der Bibel etwas von seinem Geheimnis mit.

III
Auf ganz einzigartige Weise gilt das von den paar Zeilen der heutigen Lesung aus dem Buch Exodus - eine denkwürdige Stelle: Gott hat seinem Israel die Gebote geschenkt und mit ihm einen Bund geschlossen. Doch noch ehe Mose mit den Bundestafeln vom Sinai zurückkehrte, war das Volk schon abgefallen von Gott und hatte sich den Fruchtbarkeitsgöttern der umliegenden Völker zugewandt - die berühmte Geschichte mit dem goldenen Kalb. Mose zertrümmerte aus Verzweiflung die Tafeln. Doch Gott verstieß sein Volk nicht, sondern rief Mose zu sich, um den gebrochenen Bund noch einmal zu erneuern. Das ist die Szene, die wir gehört haben. Mit jedem einzelnen Vers, beinahe mit jedem Wort leuchtet in ihr etwas von Gott auf.

IV
Mose steigt auf, hoch auf den Berg. Trotzdem muss Gott gleichzeitig herabsteigen. Das Hinaufsteigen auf den höchsten Berg, den es für Israel gab, reicht noch lange nicht, um zu Gott zu kommen. So groß ist er, so sehr menschlichem Messen entzogen. Er von sich aus kommt uns nah. Sonst wüssten wir nichts von ihm. Aber auch als Nahegekommener bleibt er der Verborgene - darum begegnet er Mose in einer Wolke. Keiner kann sich seiner bemächtigen. Und wiederum ein „trotzdem“, denn: Der unserem Blick Entzogene stellt sich – heißt es – neben Mose. Inmitten der Unerreichbarkeit stehen Gott und Mensch gleichsam auf Du und Du.

In diesen Widerspruch von Widersprüchen hinein ruft Mose Gottes Namen an. Und der Herr ging an ihm vorüber, wird erzählt, wir heute würden sagen: Mose hat eine Gotteserfahrung gemacht. In seiner durch die menschlichen Widersprüche aufgesprengten und empfindsam gewordenen Seele teilt Gott etwas von sich mit:

Barmherzig ist er, sagt Gott als Erstes von sich. Das hebräische Wort dafür – „rechamim“ – kommt von „rechem“, das heißt Mutterschoß: Wie eine Mutter ihr Kind im eigenen Leib birgt und schützt und nährt - so ist Gott. In sich gibt er seinen Geschöpfen Raum, auch wenn das für ihn Mühe, ja sogar Last bedeutet – was „Last“ meint, hatte ja soeben die Geschichte mit dem goldenen Kalb mehr als deutlich gemacht.

Und auch gnädig nennt sich Gott: Gnädig ist, wer einem andern wohlwollend begegnet und großzügig; wer seine Position nicht ausnutzt, um sein Gegenüber auszubeuten und zu versklaven, sondern es beschenkt. Lateinisch heißt Gnade „gratia“, davon kommt unser Wort „gratis“. Gnädig ist, wer umsonst – ohne Vor- und Gegenleistung – etwas tut oder gibt. Umsonst hat er uns geschaffen. Umsonst schaut er uns an. Umsonst wird er uns einmal wieder in seiner Hand bergen, wenn unser Leben an sein Ende kommt. Was auch hätten wir zu geben, was dies alles aufwiegen könnte? Aber wir brauchen auch nichts - außer, dass wir wir sind, die, als die Gott uns gemeint hat. Alles gratis. „Umsonst“ ist einer der Ur-Namen Gottes.

Aber das ist nicht alles. „Langmütig“ heißt Gott auch. Langmütig meint wörtlich „lang in seinem Zorn“. Gott ist geduldig und wartet zu, gewährt Aufschub und noch einmal und noch einmal, wo nach Recht und Gesetz und menschlichem Ermessen der untreu gewordene Mensch seinen Gott schon längst als Richter hätte erfahren müssen. Wie oft hat Israel das erlebt auf seinem Weg von Ägypten ins gelobte Land hinüber, wie oft in seiner späteren Geschichte! Wie oft hat die Kirche es erlebt in ihrer so oft von Zwielicht gezeichneten Geschichte! Wie oft erleben wir es selbst, was unser eigenes kleines Dasein betrifft? Im Blick auf andere, die Böses tun, fragen wir manchmal: Warum schlägt Gott nicht drein? – Weil er langmütig ist. Keinen gibt er auf, keinen bis zum letzten Augenblick. Den Sünder schon gar nicht. Und seien wir nicht missgünstig darum! Wir leben selber davon.

Gerade darum heißt Gott schließlich auch noch „reich – wörtlich: gewaltig - an Huld und Treue“. Gewaltig sein geht bei Menschen immer mit Macht und Triumph einher, und das hat immer für andere etwas von Beherrschtwerden und Niederlage an sich. Gottes Gewaltigsein besteht darin, dass er sich uns zuwendet in Güte und unbeirrbar als der Treue erweist, der zu uns steht, was immer geschieht. Dort, wo diese Zuwendung Zurückweisung erfährt, offenbart sich Gottes Treusein am tiefsten – als Vergebung. Als ein Vergeben, das letztlich darin besteht, dass Gott selbst das Böse trägt, den Schaden, den der Sünder anrichtet, sich auflädt, damit der an ihm nicht zugrunde geht.

V
Was Gott dem Mose auf dem Sinai da von sich mitteilte, ist eigentlich nichts anderes als eine kleine Sprachlehre: Barmherzigkeit, gnädig, langmütig, gewaltig an Huld und Treue bin ich, sagt Gott. Jedes dieser Wörter muss vertieft, geweitet, ins Ursprüngliche übersetzt, aufgesprengt werden. Für Mose geschah das dadurch, dass sich ihm aus seiner eigenen und seines Volkes Geschichte mit diesem Gott die Wörter füllten. Wir lernen von Gott recht reden, indem wir im Licht der biblischen und unserer eigenen Lebensgeschichten jene Menschenwörter hören und deuten, in denen nachhallt, was Gott im Uranfang sprach.

VI
Eines freilich unterscheidet die Christen von Mose, etwas, was uns das Verstehen dessen, was Gott sagt, und das rechte Reden von ihm leichter macht, obwohl es im ersten Augenblick alles zu verkomplizieren scheint. Jesus hat durch sein Tun und Leben bestätigt, daß Gott so ist, wie Mose es erfuhr. Er ist sozusagen Gottes persönliches Siegel in Menschengestalt auf das Barmherzig-, das Gnädig-, das Langmütigsein und darauf, wie viel an Zuneigung und Treue Gott für uns übrig hat.

Bei einem Brief, der ein Siegel trägt, gehört dieses Siegel selbst zum Inhalt dazu. Es macht ihn erst eigentlich glaubhaft und wichtig. So verhält es sich für uns Christen mit Jesus und dem, was wir von Gott zu sagen vermögen. Das ist der Grund, warum für uns Jesus untrennbar zu Gott, besser in Gottes Geheimnis hineingehört. Schon die frühen Christen suchten das auf sehr persönliche Weise auszudrücken. Darum sagten sie: Er ist der Sohn des Gottes, den er Vater nannte. Beide stehen zueinander wie Vater und Sohn - und sind doch zugleich noch einmal ganz anders, unvergleichlich verbundener, als das menschliche Väter und Söhne sind. Auch diese Wörter „Vater“ und „Sohn“ müssen geweitet, vertieft, gesprengt werden. Die frühen Christen wussten das sehr wohl. Wenn man es vergisst wie heute manchmal, kommen lauter Missverständnisse heraus.

Wenn wir mit unseren kleinen Wörtern vom unfassbaren Gott zu reden suchen, sind wir im Reden schon immer über das hinaus, was unsere Worte meinen. Indem man von Gott spricht, ist etwas im Spiel, was dieses Mehr bewirkt und uns über die Grenzen unserer Sprache hinweg trägt. Dieses seltsame Geschehen gehört also auch wesensmäßig zu Gott – und betrifft zugleich ganz persönlich jede und jeden, die von Gott sprechen. Schon die ersten Christen, vielleicht sogar Jesus selbst bereits, haben diesem Verbindenden, weil es so wichtig ist, einen eigenen Namen gegeben: Geist; Heiliger Geist. Dieser verbindenden Kraft verdanken wir, dass in unserem Sprechen von Gott, dem Vater, und Jesus als seinem Sohn, etwas vom innersten Geheimnis des unfassbaren Gottes laut wird. Und weil das alles – jene Kraft, Gott und Jesus – so eng zusammengehören, nennen wir den einen Gott „dreifaltig“. Einmal mehr streichen sich unsere menschlichen Wörter dabei gegenseitig durch - und schaffen gerade so in unserer Seele den Raum für den, den man eigentlich nur im Schweigen anbeten kann.