Im Segen geborgen

Jahresschluss A: Num 6,22-27

I.
Vor acht Tagen haben wir die Heilige Nacht begangen. Genau dann, wenn im Kreise des Jahres die Nacht am längsten ist, wenn alles in winterlicher Todesstarre harrt, feiern Christen, was Gott für den Menschen übrig hat: Einen neuen Anfang. Und Gott selber markiert diesen Anfang gleichsam, indem er sich ohne Vorbehalt auf die Seite des Menschen, ja geradezu an die Stelle des Menschen stellt. Wenn die Botschaft von der Menschwerdung kein Unfug ist, dann bedeutet sie ja genau ebendies. Und sie will sagen: Wenn sich selbst Gott an deine Stelle traut, was vergibst dann du dir, wenn auch du zu sein wagtest, was du bist?

II.
Heute Nacht fangen wir ein neues Jahr an. Solche Zeitschwellen lassen uns wie von selbst innehalten und Bilanz ziehen. Was war, wo stehe ich, was wird kommen? Wir dürfen dabei nicht zu oberflächlich fragen, nach Glück oder Pech halt. Die Frage heißt vielmehr: Was habe ich aus mir gemacht? Wozu bin ich bestimmt? Wer sich nichts vormacht, wird sich eingestehen müssen: Im Vergleich zu dem, was ich sein könnte, bin ich mir etwas – und vielleicht manches – schuldig geblieben. Aber zugleich darf ich mir sagen: Es ist doch Weihnachten gewesen! Weihnachten auch für mich! Und wo, wenn nicht jetzt, da ich nach mir frage, hat jener Neuanfang seinen Ort, den mir die Heilige Nacht verspricht.

III.
Gar nicht so wenige stellen sich diese Fragen eindringlicher, als dass sie den Jahreswechsel nur als Anlass zu einer ausgelassenen Feier nehmen. So manche und mancher wird sich wohl, wenn er oder sie auf das vergangene Jahr zurückblickt, in der letzten Strophe eines Gedichts von Marie Luise Kaschnitz wieder finden können:

Schwarzer Kalender,
Oh, wieviel Zeit vertan
Frühlinge übergangen
Knospen geringgeschätzt
Wieviel kostbare Zeit vertan
an den Strohkönig Tod.

Schwarzer Kalender: Das Naheliegende übersehen, auf das falsche Pferd gesetzt, dem Großartigen nachgejagt und entdeckt, dass es nur ein Trugbild war; das Unscheinbare verachtet, obwohl es mich getragen hätte – wer heute so oder ähnlich Bilanz ziehen muss, dem kann die Seele bitter werden, und das, was vor ihm liegt, das neue Jahr, zur quälenden Last.

IV.
Wenn es Ihnen heute so oder ähnlich gehen sollte, dann möchte ich Ihnen an diesem ersten Tag des neuen Jahres ein gutes Wort sagen:

Der Herr segne dich und behüte dich.
Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten
und sei dir gnädig.
Der Herr wende sein Angesicht dir zu
und schenke dir Heil.

Das ist ein Segenswunsch aus dem Alten Testament. Die Bibel erzählt, Gott selber habe ihn formuliert, indem er dem Mose, seinem Mittelsmann zu Israel, auftrug, die Priester des Volkes zu lehren, mit diesen Worten das Volk zu segnen. Ein Segenswort also, das von Gott selbst kommt. Im Mund der Segnenden erklingt das Wort als Wunsch. In Wahrheit ist es eine Bitte, dass Gott das Versprechen wahr mache, das er mit diesen Worten gegeben hat.
Diesen Segen hat Gott in sein Wort hineingelegt. Indem es gesprochen wird, macht es den Segen wahr. Es ist, was es sagt. Freilich muss der Gesegnete das Wort hören, denn nur als gehörtes ist das Wort wirklich Wort. Und „Hören des Wortes“ meint nicht nur: Die paar Silben der Sprache vernehmen, aus denen der Segenswunsch besteht. Die gläubigen Juden sind bis heute überzeugt, dass Gott nicht viele Worte, sondern nur ein einziges, genauer noch, einen einzigen Ton gesprochen habe, den Beginn des Buchstabens Aleph, „A“, und dass alles andere, alle Worte der Schrift, nur dessen Echo seien. Ein bestimmtes Wort Gottes hören, heißt darum soviel wie: Alles hören, was Gott gesagt hat: Das Wort der Liebe, das uns geschaffen hat, das Wort des Erbarmens, das uns erlöst, die Gebote, die uns in der Gemeinschaft mit Gott bewahren. Und auch das Wort in Menschengestalt, das Jesus heißt, durch das Gott uns bis zum Grunde sagt, wer er selber ist. Alles hören, was Gott gesagt hat, ganz Ohr sein für ihn – das ist unser Segen.
Die Segensbitte aus dem Buch Numeri deutet ein wenig an, worin der Segen besteht: Der Herr segne dich und behüte dich: Behüten kommt von hüten, von dem, was ein Hirte tut, und sagt: Gott ist mit dir. Er geht mit dir und bleibt bei dir. Du bist nicht allein.
Der Herr lasse sein Angesicht leuchten: Nicht finster schaut er, sondern strahlend. Das Gesicht unseres Gegenübers verrät immer, was der andere über uns denkt und gegenüber empfindet. Gottes Gesicht strahlt, wenn er uns sieht: Er freut sich über uns, dass es uns gibt.
Und schließlich: Der Herr wende sein Angesicht dir zu. Zuwendung ist etwas ganz und gar Persönliches. Wenn sich jemand mir zuwendet, meint er oder sie mich. Er schaut mich an. Das heißt: Ich habe buchstäblich Ansehen bei ihm. Und es gibt nichts im Leben, was uns Menschen wichtiger wäre, als dass wir angesehen sind, geschätzt einzig deshalb, weil wir wir sind. Gott tut das. Wer sein Wort hört, entdeckt, welches Ansehen er bei Gott hat. Das heißt: gesegnet sein.

V.
Gott allein segnet so. Aaron und seine Söhne, die Priester, sollen diesen Segen über Menschen ausrufen, dass er menschlich hörbar und darin wirksam wird. Christlich ist eben das dem Papst, den Bischöfen, Priestern, Diakonen und in der Seelsorge tätigen Laien aufgetragen. Das Segnen ist das erste priesterliche Wort und die erste priesterliche Geste, nicht das Urteilen, Maßregeln oder Rechthaben. Das war zu Aarons Zeiten so. Das ist auch noch heute so. Ich tue es jetzt:

Der Herr segne und behüte dich.
Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und
sei dir gnädig.
Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir
Heil.

Sie sind Gesegnete. Darum kann ich Ihnen wahrhaft ein gesegnetes neues Jahr wünschen.