Quellgrund der Sünde

1. Fastensonntag A: Gen 2, 7-9; 3, 1-7 + Mt 4, 1-11

I
Die heiligen vierzig Tage haben begonnen. Zeit der Umkehr, Buße und Reinigung möchte diese heilige Zeit uns werden, dass wir an ihrem Ende an Leib und Seele bereitet in das Fest des Ursprungs unseres Glaubens eintreten. Zu dieser Einkehr ins Wesentliche gehört allem voran, dass wir uns auf rechte Weise vor Augen bringen, was wir an Ostern feiern werden. Um es einmal zuerst ganz steil, gleichsam von weit oben her kommend und damit für viele Ohren von heute wohl auch fremd zu sagen: Ostern ist der Dank dafür, dass das Böse, die Sünde, nicht das letzte Wort über uns behält. Wir sind ihm nicht ausgeliefert.
Davon erzählte die Geschichte aus dem Evangelium vorhin. Auch Jesus, der Gott so kennt und ihm derart nahe ist, dass man Gott ohne ihn gar nicht denken kann, - auch er kennt das, diesen Kitzel, den wir Versuchung nennen: Steine zu Brot machen, also das, was da ist, dem eigenen Nießnutz zu unterwerfen, sich von der Tempelzinne stürzen, also eine Show abziehen und Menschen in Bann schlagen, und für einen Augenblick des berauschenden Geschmacks der Macht buchstäblich seine Seele verkaufen, wie man so sagt. Der Philosoph Hegel erkannte in den Versuchungen Jesu den dreifach elementaren Drang des Menschen auf das Haben, das Gelten, das Herrschen – und er lag, denke ich, richtig damit. Denn Alles davon zielt auf nichts anderes als das Urtümlichste, das sich im Menschen regt: dass wir uns unseres Daseins versichern. Was ist daran schlimm? Ganz einfach: Wir können es nicht. Um wenn wir es trotzdem versuchen, bricht das Böse hervor. Denn des Daseins versichern, es von A bis Z in der Hand haben, über sein Kommen und Gehen verfügen, das ist Gottes, nicht des Menschen. Und nicht Mensch sein wollen, sondern als Mensch wie Gott tun, das ist die Sünde. Das Absondern, wörtlich sich abschneiden vom Ursprung, den wir nicht haben und der wir nicht selber sind, sondern dem wir uns verdanken, das heißt unser Herkommen, also die Schöpfung zu widerrufen und damit das Tohuwabohu der Ordnung vorzuziehen. Darum ist der Sieg über die Sünde, das Böse, nichts Geringeres als eine neue Schöpfung. Und das ist der erste Name für den Ostermorgen.

II
Dieses Fascinosum und Tremendum des Bösen hat die Menschen umgetrieben, seit es Menschen gibt: In den Versen der Alten schon wird es klopfenden Herzens umkreist, um für immer die Seelen der Dichtenden und Denkenden zu bedrängen. Und quer durch beinahe alle Kulturen und Epochen reden sie von ihm im Sinnbild der Schlange oder des Meerungeheuers. Was sich dahinter verbirgt, hat Jean Paul in seinem erschütternden Text Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei geradezu beklemmend ins Wort gebracht: Da träumte ihm, erzählt er, wie er mitternächtlich über einen Gottesacker geht, die Toten aufstehen und wie Schatten umhergehen. Und dann kommt Christus dazu, aber nicht, um die Toten zu erlösen, sondern um ihnen zu sagen, dass es keinen Gott gebe, dass sie und er mit ihnen nichts als einsame Waisen seien, weil da kein Morgen komme, keine heilende Hand und kein unendlicher Vater sei, wie er mit strömenden Tränen sagt. Entsetzen packt die Toten und den Träumer. Er sieht das Weltgebäude mit seiner Unermesslichkeit an sich vorbei sinken – und mitten darin erblickt er die Riesenschlange der Ewigkeit, die sich um das Weltenall gelagert hatte. Dann, erzählt er, wand sie sich tausendfach um die Natur – und quetschte die Welten aneinander – und drückte zermalmend den unendlichen Tempel (der Welt) zu einer Gottesacker-Kirche (also einer Friedhofskapelle) zusammen – und alles wurde eng, düster, bang – und ein unermesslich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern… als ich erwachte.
Das ist es: Eng, düster, bang – die Schlange ist eine Ikone der Angst. Angst kommt ja von Enge – dass mich etwas zusammendrückt wie die ringelnde Weltschlange das All, dass es mir eng wird und den Atem nimmt. Und nichts ängstigt uns mehr als der Tod, die eigene Endlichkeit. Jede Versuchung, die den Menschen im Leben anfällt – die Habsucht, der Stolz, das Begehren nach Macht, Geld oder Geschlecht – ist nichts anderes als ein Widerwort gegen das Sterben, ein Protest gegen die Endlichkeit. Und wer die nicht annehmen mag, muss sich zu Gott erklären.

III
Genau mit dieser Sinnspitze redet auch die Bibel vom Bösen im Symbol der Schlange von der ersten Seite an, der ersten Lesung von vorhin, bis in die Evangelien hinein: Die Schlange pflanzt ihrem Gegenüber, der Eva, den Keim der Angst in die Seele, der ihr geschenkte Gottesgarten könnte zu wenig, Gott nicht ein Gönner, sondern ein Geizkragen sein. Darum greift die Frau buchstäblich nach dem Letzten noch, dem Baum, der eigentlich nur Erinnerungszeichen der Unverfügbarkeit ihres Daseins hatte sein sollen – und beide, Mann und Frau, essen, also verleiben sich dieses Letzte auch noch ein – und sie erkannten, dass sie nackt waren, heißt es, sie entdecken ihre ganze Armseligkeit in dieser misslungenen Gottesattitüde.
Ähnlich begegnet uns dieses Symbol wieder im Untier Behemot, von dem das Buch Ijob 40, 15-24 erzählt, und gegen das der Mensch machtlos ist. Auch beim Leviathan, in der Regel als Seeungeheuer wiedergegeben, handelt es sich um eine Manifestation der alten Schlange, wie Jes 27,1 den kanaanäisch-phönizischen Namen korrekt übersetzt: Als Ungeheuer in der Tiefe des Meeres verkörpert er die Tiefe, den Abgrund, also das Chaos selbst. Er ist das Nichts, das allein schon durch seine Präsenz den Menschen Entsetzen einflößt oder – in der Situation unerträglichen Leids – herbeigewünscht wird: Ijob 3,8 schreit, dass jene die Nacht seiner Geburt verfluchen sollen, "die es verstehen, den Leviathan zu wecken"; er will, dass alles aus ist. Auch Ps 104,26 erwähnt den Leviathan: Dort wird das Meer als Werk Gottes besungen, das Meer, "so groß und weit", auf dem "die Schiffe dahin ziehen" und "auch der Leviathan, den du geformt hast, um mit ihm zu spielen." Letzteres eine Proklamation der absoluten Souveränität Gottes - sogar noch über das Nichts -, wie sie Israel erst nach dem babylonischen Exil gewagt hat und eigentlich wagen musste: Denn nach dem Totalverlust von Land und Zukunft konnte der Glaube nur bewahrt werden, wenn Gott nicht nur der Gott Israels, sondern der aller Völker, der ganzen Schöpfung und eben auch noch Herr des Nichts war.
Sehr nahe, nur ins Persönliche gewendet, steht dem der Auftritt der Schlange als großer Fisch, der den Propheten Jona verschluckt. Der personifizierte Chaosrachen, der den Propheten auf den Abgrund des Meeres zieht, dient Gott und muss den Jona auf Gottes Geheiß wieder freigeben. Darum liegt in dem Jona 2 festgehaltenen Gebet eine vorjesuanische Ostergeschichte vor: „Du holtest mich lebendig aus dem Grab herauf, Herr mein Gott“, heißt es da (Jona 2,7b). Schon dies lässt erkennen, dass frühchristlich das Jona-Symbol nicht zufällig zum verbreitetsten Osterbild geworden ist, wie die Ikonographie der Katakomben belegt. Im Gegenteil drückten die frühen Christen damit aus, dass sie Ostern und die Auferweckung nicht wie manche Theologen und viele Christen bis heute als spektakulären Eingriff Gottes und Wunder aller Wunder begriffen, sondern als definitiven Austrag des Dramas zwischen Vertrauen und Angst: Wer selbst im unmittelbaren Angesicht des Todesabgrunds so unbeirrbar an Gott festhält wie Jesus, der hat Gott so unbedingt für sich, dass er niemals verlorengehen kann. Und Gottes Freude über diese im radikalen Sinn unbedingte Treue verherrlicht Jesus und macht ihn (in den Ostererscheinungen) zum einmaligen Zeugen seiner - Gottes - Treue für alle.

IV
Bei Johannes schließlich, dem spekulativen Theologen, blitzt an einer Stelle dieser Zusammenhang zwischen dem Urdrama mit der Angst und dem Ostergeschehen wörtlich auf: Im Gespräch mit Nikodemus umreißt der johanneische Jesus das Ziel seiner Sendung mit dem Satz: "Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder der (an ihn) glaubt, in ihm das ewige Leben hat“ (Joh 3, 14). Der Vers schlägt dabei den Bogen zurück zu der Exodus-Episode, die im Buch Numeri 21,1-9 erzählt wird: Israel hatte wieder einmal den Mut verloren und lehnte sich gegen Gott und Mose auf: Warum habt ihr uns aus Ägypten herausgeführt? Anders gesagt: Wozu die ganze Plage mit der verfluchten Freiheit? Sterben hätten wir in Ägypten genauso gut können! – Da schickte, heißt es, Gott Giftschlangen unters Volk. Klar: Die Angst, das Misstrauen gegen Gott, vergiftete ihnen das Leben. Zur Rettung derer, die bereuen, fertigt Mose auf Gottes Befehl eine kupferne Schlange und hängt sie an einer Signalstange auf. Jeder, der gebissen wurde und zu dieser Schlange aufschaut, also der Angst buchstäblich ins Gesicht schaut, wird gerettet, also dem lähmenden Sog der Angst entrissen, und kann den Exodus ins gelobte Land der Freiheit fortsetzen. Für Johannes ist das ein Vorausbild der Erlösung durch das Kommen Jesu: Jeder, der zum Gekreuzigten aufschaut und an seiner Treue zu Gott sozusagen Maß nimmt, gewinnt eine Freiheit zum Leben, die an diesem Leben nichts ängstigt, nicht einmal das Ende.

V
Die – verglichen mit den biblischen Auftritten – jüngste Wiederkehr der Schlange, des Untiers, begegnet in einem jiddischen Lied der Hoffnung auf das Kommen des Messias, das der Rabbi im Frage-Antwort-Spiel mit den Kindern inmitten der bittersten Not in den Stetln Osteuropas sang und das bis heute erhalten blieb: "Sug schoin Rebbenju":

„Sag, lieber Rebbe, was wird sein, wenn der Messias kommt?
Wenn der Messias kommt, werden wir ein großes Fest feiern.
Sag, Rebbe, wer wird für uns Musik machen bei dem Fest?
Mose wird für uns singen und spielen!
Sag, Rebbe, wer wird für uns tanzen bei dem Fest?
Mirjam wird für uns tanzen!
Sag, Rebbe, was werden wir trinken bei dem Fest?
Wein werden wir trinken!
Sag, Rebbe, was werden wir essen bei dem Fest?
Den Schurrabah - Kindername für: Behemot - werden wir essen.“

Also: Wenn der Messias kommt, wird das Untier der Angst verspeist. In Anspielung auf den Titel eines berühmten Films von Rainer Werner Faßbinder gesagt: Da setzt eine Gegenbewegung ein zum "Angst essen Seele auf". Was da ein jüdischer Gottespoet formulierte, hat zugleich eine eineinhalb Jahrtausende alte Parallele bei den Kirchenvätern. Denn die hatten vielfach davon gesprochen, dass die Wunde, die das Essen vom Paradiesbaum der Menschenseele geschlagen hatte, durch ein anderes, ein neues Essen geheilt würde: das Essen von der Frucht des Kreuzbaumes, also der Eucharistie. In diesem heiligen Mahl vom Gründonnerstagabend und jedem Sonntag kommt die geängstigte Seele zur Ruhe, weil sie bis in die leiblichen Sinne hinein verspüren darf: Gott ist für dich da - immer. Du kannst von ihm leben wie vom täglich Brot. Nichts ist ihm zu viel für dich. Alles gibt er dran. Er selber stillt deinen Hunger, den Lebenshunger. Und er kann das, weil er groß genug dafür ist. Denn nur das Unendliche reicht für das, was unsere Seele sucht. Der Kampf zwischen dem Vertrauen in den Gott Jesu und der Angst um uns selbst, das ist der Stoff dieser 40 Tage – und das Finale ist der Ostermorgen. Dessen Glück freilich wird nur empfinden, wer zuvor jenen Kampf gewagt hat.