Ja-Sagen und Ja-Tun

26. So A: Mt 21,28-32

I
Der große Roman-Schriftsteller Julien Green – geboren im Jahr 1900 – erzählt aus seiner Kinderzeit eine Begebenheit, die er niemals mehr vergessen konnte. Seine Mutter, so Green, sagte immer zu ihm: Es gibt eins, das darf man niemals: lügen. Man muss die Wahrheit sagen. Ich hatte fünf Schwestern, erzählt Green. Wenn meine Mutter eines von uns sechsen beim Lügen ertappte, dann öffnete sie uns den Mund, nahm Schmierseife und wusch uns den Mund damit aus.

II
Diese Erziehungsmethode war drastisch. Greens Mutter wollte eines mit ihr erreichen: Ihren Kindern fühlbar klarmachen, dass die Lüge keine Bagatelle, kein Kavaliersdelikt ist, obwohl sie so wenig kostet und so praktisch scheint. Gerade weil das so ist, weil das Lügen so leicht fällt, bedarf es wohl der Drastik, um aufzudecken, was die Lüge eigentlich anrichtet.

III
Kein Wunder darum, dass Jesus sozusagen doppelt drastisch redete, als es einmal um den Zusammenhang von Lüge und Glauben ging. Er wandte sich dabei an die Hohenpriester und Schriftgelehrten, die also, die schon länger mit Argwohn verfolgt hatten, was er über Gott und das Leben behauptete. Was meint ihr? Er zieht sie vom ersten Wort an in die Sache hinein: Sie sollen entscheiden. Nehmen wir folgenden Fall an, sagte er – ein Gleichnis also:

Ein Mann hatte zwei Söhne: Er bittet den einen, er solle in den Weinberg zum Arbeiten gehen. Der sagt ja, geht aber nicht. Er bittet den zweiten. Der antwortet: Ich mag nicht. Dann aber tat ihm das leid, und er geht doch. Wer von beiden – fragt Jesus seine Zuhörer – hat den Willen des Vaters erfüllt? So klar die Antwort ausfallen muss, – und von Jesu argwöhnischen Zuhörern auch gegeben wird – so verwickelt ist, was hinter der doppelten Anfrage des Vaters, den verschiedenen Reaktionen der Söhne und den zu den Antworten nochmals quer stehenden Reaktionen steckt.

Der erste Sohn sagt ja, geht aber nicht in den Weinberg. Er sagt ja und tut nein. Er belügt den Vater. Das entscheidende Problem dabei: Der Tatbestand der Lüge lässt sich durch nichts und niemanden mehr aus der Welt schaffen. Ein Ja war gesagt. Das entscheidende Tun blieb aus. An diesem Widerspruch lässt sich nicht mehr rütteln. Und er richtet von selbst, in seinem Gesetzt werden, den, der ihn erzeugt hat. Sie wissen ja, wie das schon im rein Menschlichen ist und sich anfühlt, wenn jemand der Lüge überführt wird.

Der zweite Sohn im Gleichnis nun sagt geradeheraus auf des Vaters Bitte „nein“; dann tut es ihm leid, und er geht doch zur Arbeit in den Weinberg. Er sagt nein und tut ja. Das schaut genauso aus wie das Verhalten des ersten Sohnes – bloß seitenverkehrt. In Wirklichkeit ist es unvergleichlich anders. Der erste hatte gelogen und damit einen Tatbestand geschaffen, der sich nie mehr verändern lässt. Der zweite war ehrlich gewesen. Dann hatte er gemerkt, dass es falsch war, was er gesagt hatte. Und er konnte den Fehler korrigieren. Den ersten hat der Unterschied zwischen Sagen und Tun als Lügner entlarvt. Beim zweiten hat derselbe Unterschied zwischen Sagen und Tun aufgedeckt, dass er trotz seiner anfänglichen Weigerung ein empfindsames Herz hatte.

IV
Das Entscheidende bei der ganzen Geschichte: Im Fall der Lüge bleibt für immer alles, wie es ist. Unveränderbar. Kein Wunder, dass viel später die großen Philosophen der Freiheit, ein Kant und ein Fichte zumal, die Lüge zum Paradebeispiel wählten, wenn sie verdeutlichen wollten, was im Moralischen „unbedingt“ bedeutet. Im zweiten Fall aber macht Jesu Gleichnis die Vorgeschichte des Sohnes zur Vergangenheit. Es schafft also Platz für Neues. Und auf diesen gravierenden Unterschied kommt es unserem heutigen Evangelium an. Zöllner und Dirnen, Leute, von denen die öffentliche Meinung das geradezu kategorisch ausschließt, – die kommen eher ins Himmelreich als ihr frommen Schriftgelehrten, sagt Jesus. Klar, warum: Zöllner und Dirnen tun gewiss, was vor Gott nicht bestehen kann. Aber sie können das ändern. Können umkehren. Morgen, besser heute, jetzt sofort. Bei den andern, den offiziell Frommen, liegt die Sache genau umgekehrt. Selbstverständlich ist Frömmigkeit etwas Gutes, etwas sehr Gutes sogar. Frommsein heißt ja nichts anderes als Gott für Gott halten und ihm die Ehre geben. Aber fromm tun, doch es in Wahrheit nicht sein, das führt in die Sackgasse. Ausweglos wie die Lüge – es sei denn, der, die Betroffene wechselte die Seite und stellte sich selbst in die Reihe der Sünder.

V
In diesem Sinn stehen die Sünder, die wissen und eingestehen, wie es um sie steht, Gott näher als Fromme, die so tun, als sei alles in Ordnung. Unser Evangelium schlägt mit dieser Botschaft einen Ton der Warnung an. Mehr noch aber tröstet es zur gleichen Zeit. Es sagt allen, die ehrlich genug sind und sich nichts vormachen: Zum Umkehren ist es nie zu spät. Darum konnte Martin Luther mit Blick auf unser Gleichnis – wiederum drastisch – sagen: Es fahren mehr Christen vom Galgen gen Himmel als vom Kirchhof.

Genau darin macht sich zugleich geltend, dass den christlichen Glauben ein Überschuss prägt, der über das Moralische hinaus reicht. Worin dieser Überschuss besteht, lässt sich gar nicht so einfach sagen – und doch zieht es Spuren im ganzen Neuen Testament. Spuren freilich, die eher als Stolpersteine denn Wegzeichen anmuten. Besonders dicht begegnen diese Spuren innerhalb der Bergpredigt in Gestalt der von Jesus bis zum Exzess verschärften Gebote der jüdischen Tradition – die berüchtigten Antithesen: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch, Jedem, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein“ (Mt 5, 21-22a). Oder: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen“ (Mt 5, 27-28).

Ich erinnere mich, wie wenn es heute gewesen wäre: Religionsunterricht in der vierten Klasse der Grundschule. Die Bergpredigt ist dran. Nach erster Einführung werden gemeinsam die Verse gelesen, wie sie im Religionsbuch stehen. Nach der Antithese zum Ehebrechen meldet sich eine Schülerin spontan und sagt: „Herr Kaplan, dann hat mein Vati schon oft die Ehe gebrochen.“ Vermutlich Erfahrungen im Kopf mit dem, was der Vater vor dem Bildschirm oder auf der Straße über Frauen an Bemerkungen losließ, hatte das Kind treffsicher ausgesprochen, worauf Jesu Verschärfung des alten Gebotes in Wirklichkeit zielt: dass es mit dem Einhalten eines Gebotes überhaupt nicht getan ist, solange sich einer sozusagen unterhalb seiner äußerlichen Verletzung ein Schlupfloch offenhält. Nur: Wer könnte von sich wirklich sagen, so etwas – egal wo – noch nie getan zu haben? Anders gesagt: Jesu Verschärfung der Gebote ist nur ein scheinbare. Sie ist vielmehr die Bankrotterklärung der Gebots- und Verbotsmoral. Wer wirklich gerecht, wirklich gewaltlos, wirklich treu sein will, vermag das nur dadurch, dass sie oder er mehr als gerecht, gewaltlos und treu ist. Legion ist der Zeugnisse, dass zutiefst ungerecht handeln kann, wer unbedingt gerecht sein will, höchst gewalttätig, wer alle Gewalt verabscheut, treulos, wer das Ideal der Treue hochhält. Ein Leo Tolstoi etwa – fasziniert, geradezu besessen, gemäß der Bergpredigt zu leben – hat seiner Frau das Leben zur Hölle gemacht. Worin aber besteht jenes Mehr, das zugleich solcher Verdrehung wehrt? Es besteht in der Entdeckung und Einsicht, dass das Grundwort christlichen Handelns Lebens nicht heißt „Du musst!“ oder „Du sollst!“, sondern: „Du bist“. Du bist Gottes geliebtes Geschöpf, geborgen in seiner Obhut, am Morgen, am Abend, im Ende noch. Er hat zu Dir gesagt: Ich will, dass Du bist. Darum kann dieses Geschöpf auch „ja“ sagen zu sich, zu den eigenen Stärken und den Schwächen, die Stärken leben, die Schwächen geduldig tragen, begangene Schuld eingestehen – und hoffen, dass es gut ausgeht mit ihm.

VI
Der österreichische Dichter Robert Musil hat, obwohl Agnostiker, in seinem Jahrhundertroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ wohl auch noch diesen Mehrwert der christlichen Umkehr im Blick gehabt, als er schrieb:
"Ich glaube, daß alle Vorschriften unserer Moral Zugeständnisse an eine Gesell¬schaft von Wilden sind... Ein anderer Sinn schimmert dahinter. Ein Feuer, das sie umschmelzen sollte... Die Moral, die uns überliefert wurde, ist so, als ob man uns auf ein schwankendes Seil hinausschickte, das über einen Abgrund gespannt ist... und uns keinen anderen Rat mitgäbe als den: Halte dich recht steif!... Ich glaube, man kann mir tau¬sendmal aus geltenden Gründen beweisen, etwas sei gut oder schön, es wird mir gleich¬gültig bleiben, und ich werde mich einzig und allein nach dem Zeichen richten, ob mich seine Nähe steigen oder sinken macht. Ob ich davon zum Leben erweckt werde oder nicht.“
Lässt sich die Innenseite des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch lebensnaher beschreiben? Aus ihr heraus eröffnet das Evangelium denen, die umkehren, einen neuen Anfang. Freilich gehört dazu, dass jemand, der oder die das erkannt hat, nicht mehr zögert:

Als Rabbi Eliezer einem Schüler riet: Einen Tag vor deinem Tod sollst du umkehren!, da fragte dieser: Weiß denn ein Mensch, wann er sterben wird? – Rabbi Eliezer antwortete: Er soll heute umkehren, weil er morgen vielleicht stirbt: So wird er sei Leben lang in Umkehr erfunden.