Vom rechten Petrusdienst

21. Sonntag: Mt 16,13-20 (St. Anton, Regensburg)

I.

 In Israel erzählt man sich folgendes Märchen über die Wahrheit: Die Wahrheit ging durch die Straßen, ganz nackt, wie am Tag ihrer Geburt. Kein Mensch wollte sie in sein Haus einlassen. Jeder, der sie traf, floh voller Angst vor ihr. Eines Tages ging die Wahrheit wieder in Gedanken versunken durch die Straße. Sie war sehr betrübt und verbittert. Da begegnete sie dem Märchen. Das Märchen war geschmückt mit herrlichen, vielfarbenen Kleidern, die jedes Auge und jedes Herz erfreuten. Da fragte das Märchen die Wahrheit: Sage mir, Freundin, warum bist du so bedrückt und betrübt? Da antwortete ihm die Wahrheit: Es geht mir sehr schlecht, ich bin alt und betagt, und kein Mensch will mich kennen ... Darauf erwiderte das Märchen: Nicht, weil du alt bist, lieben dich die Menschen nicht. Auch ich bin sehr alt, und je älter ich werde, desto mehr lieben mich die Menschen. Siehe, ich will dir das Geheimnis der Menschen enthüllen: Sie lieben es, dass jeder geschmückt ist und ein wenig bekleidet. Ich werde dir solche Kleider borgen, mit denen ich angezogen bin, und du wirst sehen, dass die Leute auch dich lieben werden. – Die Wahrheit befolgte diesen Rat und schmückte sich mit den Kleidern des Märchens. Seit damals gehen Wahrheit und Märchen zusammen, und beide sind bei den Menschen beliebt.

II.

Auch zur Botschaft unseres Glaubens gehören Wahrheiten, die selbst den Gläubigen erschrecken lassen, wenn sie ihnen unvermittelt, nackt begegnen; Wahrheiten, die dem Fernstehenden zum Anstoß werden und den Ungläubigen zu zynischen Bemerkungen reizen. Am allermeisten widerfährt das wohl der Wahrheit, die uns im heutigen Evangelium zugemutet wird: dass es nach dem Willen Jesu in der Kirche für diese Kirche jemand gibt, der letzte Verantwortung dafür trägt, dass diese Kirche ihrem eigenen Ursprung, der Frohen Botschaft des gekreuzigten Auferstandenen, treu bleibt. Der triumphalistische, manchmal hysterische Papstkult, der zu manchen Zeiten Mode ist, ahnt ja im Grunde mit seinem Gebaren gar nichts von dem Ernst und der Tragweite dessen, was er zu feiern meint. Der gegenwärtige Papst Benedikt XVI. weiß das sehr genau – weshalb er sich etwa beim Weltjugendtag in Köln dem emotionalen Überschwang der Masse entzog, ohne den Menschen die Freude am Feiern zu nehmen. Und in der Tat: Müssen wir - auch die Gläubigen - nicht zu allererst einmal getroffen werden davon, welche Verantwortung Gott Menschen aus Fleisch und Blut für sein Herzensanliegen zutraut und auferlegt? Freilich trägt das Evangelium zugleich auch Sorge, dass uns diese Wahrheit nicht zutiefst erschreckt, so dass wir vor ihr davonlaufen müssten. Deshalb begegnet uns die Wahrheit von der letztgültigen menschlichen Mitverantwortung für das Gottesreich gleichsam in Kleidern, die uns nahe gehen. Sie begegnet nach Jesu Willen in und an der Gestalt und Existenz des Fischers Simon vom See Gennesaret.

III.

 Was uns dabei wohl am meisten überraschen muss, das ist die menschliche, manchmal geradezu allzu menschliche Wesensart dieses Mannes, dem Jesus auferlegt, die Treue der Glaubenden zu schützen. Dieser Simon Petrus nämlich zeichnet in keinerlei Hinsicht etwas Besonderes aus: kein brillanter Denker, kein mitreißender Redner, auch nicht überdurchschnittlich fromm - ja, nicht einmal in seinem Verhältnis zu Jesus sticht er besonders hervor. Genauso wie die anderen auch befällt ihn immer neu der Kleinglaube: Denken Sie an die Geschichte vom Seesturm. Genauso wie die andern begegnet er den Hinweisen Jesu auf die kommende Passion voller Unverstand - so sehr, dass Jesu ihn anherrscht: Weg mit dir, Satan! Sogar verleugnen wird dieser Petrus seinen Herrn, wenn es ernst wird. Und später nach Ostern, da die ersten Gemeinden entstehen und Streit ausbricht, ob man auch als Christ die alten jüdischen Gesetze und Regeln einhalten muss, da drückt er sich davor, seine innerste Überzeugung auszusprechen und muss sich deshalb schärfste Kritik aus dem Mund des Paulus gefallen lassen. All das verschweigt das Neue Testament nicht, obwohl ihm so viel an der Gestalt des Petrus gelegen ist. Einen ganz normalen, durchschnittlichen Menschen mit Schwächen und Fehlern also beauftragt Jesus mit einem besonderen Dienst. Und auch durch diese Beauftragung wird Petrus kein Supermann. Er bleibt der Alte. Doch gerade diesen begrenzten Menschen aus Fleisch und Blut nennt Jesus "Fels". Gerade ihn braucht er. Doch wozu braucht er ihn überhaupt? Den besonderen Ruf an Petrus spricht Jesus in unmittelbarem Zusammenhang einer Frage an, der sich die ersten Christen genauso stellen mussten wie wir heute und alle Christen nach uns: Für wen haltet ihr mich? Wer bin ich euch? Und Petrus antwortet: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes. Du bist der von uns ersehnte Bote, der in Gottes Vollmacht spricht und handelt; der uns Gottes Heil bringt, wenn wir ihm trauen. Das sagt Petrus. Und Jesus preist ihn selig dafür – wie keinen anderen der Apostel. Selig, weil er durch dieses sein Bekenntnis bereits Gottes Heil empfangen hat. Jesus aber fügt gleich hinzu: Nicht Fleisch und Blut haben dir das geoffenbart, sondern mein Vater im Himmel, also: Dieses Glaubensbekenntnis ist keine Eigen- und Sonderleistung des Petrus. Dieses Bekenntnis selbst ist stattdessen ein Geschenk der Gnade Gottes – dessen, dem es einzig um das Heil der Menschen, aller Menschen geht. Und das heißt: Petrus hat dieses Geschenk nicht für sich bekommen, sondern er hat es bekommen für die anderen. Alles, was das Besondere des Petrus ausmacht – dass er "Fels" heißt, dass er die Schlüssel des Himmelreiches erhält, dass er bindet und löst, das alles ist streng bezogen auf dieses von Gott geschenkte Christuszeugnis des Petrus. Mit allem, was er ist und tut, soll Petrus diesem Zeugnis dienen. Und deshalb ist Petrus für sich gar nichts, obwohl – nein, weil er Fels ist, d. h. Fundament: Er hat einzustehen für das absolut Unaufgebbare des Evangeliums; er hat der suchenden Frage: Wer ist denn dieser Jesus von Nazareth? – dieser Frage hat er Halt zu geben, dass sie ihre Antwort finde. Darin besteht der Petrusdienst. Dass Jesus der Sohn ist, der Mensch der untrennbar in die innerste Mitte des Geheimnisses Gottes hineingehört, und dass er unser Heil wirkt – dieses Bekenntnis soll Petrus mit seinem Dienst lebendig halten. Die Schlüssel des Himmelreiches verwaltet er und binden und lösen soll er, das bedeutet: Er hat das Zeugnis für Christus nach außen der Welt gegenüber und nach innen den Gläubigen gegenüber zur Geltung zu bringen derart, dass dieses Zeugnis geschützt bleibt vor aller Verfälschung und Verzerrung. Dieser Dienst ist groß – mit Gebärden der Macht aber wird er nie zu tun haben können, weil er immer Dienst bleibt. Mehr noch: Ein Dienst im Zeichen der Demut wird er sein müssen – das ist Petrus seiner Vergangenheit schuldig und jeder Petrusnachfolger seiner menschlichen Unzulänglichkeit. Und auch ein Dienst wird es sein müssen, den der Lebensatem Christi, also die Liebe beseelt; denn nur so kann dieser Dienst dem Heil der Menschen dienen; d. h. dem Evangelium entsprechen – und das muss er. An dem so verstandenen Petrusdienst hängt dann die große Verheißung Jesu an seine Kirche: Die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Er will damit sagen: Der Petrusdienst ist der Kirche eingestiftet, das Bekenntnis zu Christus hochzuhalten und alle die zusammenzuhalten, die diesen Christus bezeugen. Und beides bewahrt die Kirche davor, mit dem, was sie sagt und tut, ins Leere zu laufen. Die Mächte der Unterwelt, des Todes also, des ärgsten Feindes allen Lebens, dieses Totsein wird die Kirche nie erledigen – nicht einmal die vielen Tode der Anpassung, der diplomatischen Mauscheleien, der Egoismen und der Herzenshärte. Solange sich die Kirche ernsthaft zu ihrem gekreuzigten und auferstandenen Herrn bekennt, wird sie trotz allen Versagens – auch noch trotz des Versagens der Petrusse selbst – ichren Auftrag erfüllen: dem Gottesreich den Boden zu bereiten. Dass die Kirche keiner Todesmacht unterliegen wird, gibt uns selbst beileibe keinen Anlass, aufzutrumpfen und die Kirche, wie sie ist, für die bestmögliche – am Ende durch unser Verdienst – zu halten. Wahrlich nicht. Diese Verheißung Jesu schenkt uns vielmehr ein tröstliches Wort der Hoffnung: dass wir als Glaubende nicht scheitern, auch wenn wir noch so viel falsch machen, solange wir uns zu Christus bekennen, demütig und um Vergebung bittend für unser Versagen. So wie er den schwachen, fehlenden, sich verfehlenden Petrus immer wieder gerettet hat, weil der sich doch immer noch einmal an seine Herrn klammerte – wie damals auf dem See. Dazu – zur Hoffnung – hat Jesus für uns die unfehlbarste Gewissheit, die er zu geben hatte, an einen fehlbaren Menschen gebunden.

IV.

 So etwas kann sich auch nur einer trauen, der selbst in grenzenlosem Gottvertrauen eingewurzelt ist. Nur so lässt sich das menschliche Versagen mancher Petrusse in der Kirchengeschichte überhaupt ertragen. Die bösen Entgleisungen in Handeln und Urteil zu Zeiten Bonifaz VIII. oder Pius IX. etwa haben der Kirche schwer geschadet. Und auch in diesem Jahrhundert behandelte Rom manchmal Menschen in einer Weise, die nichts mehr mit Dienst und Liebe zu tun hat, sondern mit Machtrausch und erkalteten Herzen. Aber gerade auch in unserer Epoche leuchtete in mancher Papstgestalt der Petrusdienst so auf, wie ihn der Herr uns zugedacht hatte. Die Liebenswürdigkeit eines Johannes XXIII. etwa gehören wohl zu diesen lichten Zeichen der Kirchengeschichte. Und auch, dass Papst Paul VI. das Symbol des nicht mehr zu überbietenden päpstlichen Machtanspruchs, die Tiara, abgelegt hat und dafür den Kreuzstab in die Hand nahm – beim jetzigen Papst taucht die Tiara nicht einmal mehr im Wappen auf. Nur im Festhalten am Wort vom Kreuz und seinem Geheimnis kann ein Mensch den Petrusdienst ausüben. Den Gekreuzigten stets vor Augen – das allein wird ihm die Demut und Liebe zuwachsen lassen, die er für das Binden und Lösen braucht, und wir ihn beständig erinnern, dass er nicht Erbauer und Herr der Kirche ist, sondern bloß Fundament – Fundamente sieht man bekanntlich nicht einmal, aber gerade sie erfüllen ihre Aufgabe. Petrus selbst hat am Ende seines Lebens genauso das bezeugt, als er bei seiner Hinrichtung darauf bestand, mit dem Kopf nach unten gekreuzigt zu werden, damit er keinem dem Herrn zu ähnlich erscheine. Vielleicht hat Petrus mit dieser Art zu sterben vollendeter als je sonst in seinem Leben seine Berufung erfüllt. So wird es auch mit der Kirche sein. Gerade dort, wo sie menschlich gesehen machtlos bleiben und so ihren Herrn nicht verdecken und verdrängen tun sie am meisten, was ihnen aufgetragen ist. Das ließe auch die unbegreiflichste Wahrheit noch den Weg in Menschenherzen finden.