Von der Inwendigkeit

Aufnahme Mariens in den Himmel: Lk 1,39-56 (St. Anton, Regensburg)

I.

Vor mehr als einem halben Jahrhundert wurde in der katholischen Kirche die uralte Überzeugung der Christen von der Aufnahme Mariens in den Himmel zum festen Bestandteil des Glaubens der Kirche erklärt. Es war kein Zufall, dass das genau zu jenem Zeitpunkt geschah: 1950 lag der Zweite Weltkrieg gerade ein paar Jahre zurück. Ein Gemetzel, das alles in allem wohl 60 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Und kaum war das vorbei, zählte schon wieder nur der materielle Wiederaufbau und fing man auch schon wieder an, neue Waffen zu schmieden und aufzurüsten. Gegen diesen Wahnsinn rief die Kirche im Sinnbild der in den Himmel aufgenommenen Gottesmutter in Erinnerung, dass der Mensch eine Würde besitzt, die mehr ist als was einer hat, und die nicht einmal von der Gewalt außer Kraft gesetzt werden kann. Mariä Himmelfahrt ist im buchstäblichen Sinn doxologische Anthropologie, die besagt: Der Mensch ist vom Wesen bei Gott daheim. Darum macht auch die schiere Vernichtung auf Erden den Menschen zu keinem Nichts. Vor Gott bleibt er. Und darum bleibt auch sein Anspruch gegen den, der ihm Gewalt antat. Gott selbst ist so der Anwalt aller Opfer. Er garantiert, dass keines vergessen wird. So wie es aussieht brauchen wir die Erinnerung daran heute mindestens so dringlich wie damals. Diejenigen, die heute das Fest der Himmelfahrt Mariens feiern, halten diese Erinnerung lebendig. Indem sie das tun, geben sie Gott die Ehre dafür, dass er uns so nah bei sich gewollt hat, und tun sie den Menschen einen Dienst, der unverzichtbar ist. Das ist sozusagen die Außenseite des heutigen Festes. Es besitzt aber auch eine Innenseite. Und vielleicht ist es gar nicht so schwer, an sie heranzukommen

II.

Vor einiger Zeit besuchte ich ein Konzert des Klezmer Giora Feidman. Klezmer sind jüdische Hochzeitsmusikanten, die auf der Klarinette spielen. Die Juden sagen bis heute zu ihnen nicht: Klezmer, spiel die Klarinette, sondern: Klezmer, sing die Klarinette. Das Instrument wird zur Stimme, die Freude, Hoffnung, Liebe, Trauer in Töne fasst und ohne Worte erzählt. Wer Feidman eine kleine Weile zuhört, merkt, dass es das wirklich gibt. Und manchmal scheint es, dass die Töne aus der Klarinette genauer treffen als Worte das vermögen. Feidman erzählte auch einmal in einem Interview, wie er das Klezmerspiel gelernt hat: Sein polnischer Lehrer ließ ihn stundenlang mit der Klarinette Zeitungsnachrichten kommentieren. Seine Kunst besteht darin, das Inwendige der Worte hörbar zu machen, das, was sie in sich tragen, ohne es sagen zu können. Wie klingt Freude, wie Wehmut, wie Trauer, wie Glück? Gelingt dem Klezmer diese Übersetzung, rührt er seine Hörer in der Seele an.

III.

Ganz ähnlich muss man sich das bei vielen Dingen unseres Glaubens vorstellen: Es gibt Worte für Gott und Glaube, für Gnade, Sünde, Barmherzigkeit. Aber ihr Inwendiges! Vielleicht muss man sie auch vorsichtig in Töne, wenigstens innere Töne und Melodien übersetzen, um zu verstehen, wovon sie eigentlich sprechen. In besonderer Weise gilt das wohl gerade von dem, was wir heute feiern: Die Aufnahme Mariens in den Himmel oder „Mariä Himmelfahrt“, wie der Tag im Volksmund heißt. Bliebe einer bei diesen Worten stehen, bei dem, was sie mit ihren Buchstaben sagen, hat er sich im Grunde schon verlaufen, versteht vom Geheimnis dieses Festes nichts und fängt eines Tages vielleicht sogar zu spötteln an, was denn die Katholiken für einen Unsinn zusammenglauben. Auf das Inwendige der Worte aber kommt es an! Maria ist mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen. Das Besondere an Maria war: Sie hat sich und ihr Leben ganz Gott zur Verfügung gestellt, hat der Stimme des Engels, also dem, was Gott mit ihr vorhatte geglaubt, hat sich führen lassen von dem, was ihr Lebensgeschick ausmachte – alles im Glauben, in all dem von Gott gehalten zu sein. Ein Leben aber, das so ganz Gott zur Verfügung steht, wird von ihm ganz durchflutet, wird mit ihm so eins, dass nichts mehr Trennendes zwischen diesem Menschen und Gott besteht. Wenn ein Menschenleben so sehr Gott entspricht und zu ihm gehört, ändert daran auch das irdische Ende, das Sterben dieses Menschen nichts mehr. Er bleibt mit seiner ganzen Lebensgeschichte, mit dem, was er durch seinen Leib auf Erden gewirkt und getan hat, bei Gott bestehen. Nach biblischen Verständnis ist der Leib nicht einfach ein Ding neben anderen, sondern eher so etwas wie ein Schwamm, der vieles von dem, was ringsum geschieht, in sich aufnimmt, davon geprägt wird und selber wieder in sein Umfeld zurückwirkt. So zieht jeder Mensch in der Welt und der Geschichte gleichsam eine Spur, die unauslöschlich ist und unwiderruflich, auch wenn alles, worin sie sich sichtbar und greifbar zeigt, vergeht und zerfällt. Alles, was ein Mensch jetzt tut und ist, wird einmal gewesen sein und bleibt als solches für immer und unverlierbar. Darum sagen wir aus der Sicht unseres Glaubens zu Recht, dass wir mit Leib und Seele, also ganz, vor Gott treten werden und dann bei ihm bleiben dürfen, auch wenn der irdische Körper zerfällt. Ein Leben, das ganz – mit Leib und Seele – im Angesicht Gottes gelebt ist, findet auch ganz, mit allem, was dazu gehört, für immer Platz bei diesem Gott.

IV.

Man erzählt: Als fromme Christen eines Tages den Sarg Mariens öffneten, hätten sie darin nicht den Leichnam, sondern frische blühende und duftende Blumen gefunden. Eine Legende selbstverständlich, Worte, die mit Bildern auszudrücken suchen, was eigentlich gemeint ist, so ähnlich wie bei Feidmans Klezmer-Spiel die Töne das tun. Die Legende will andeuten: Wer auf Gott hin und für ihn gelebt hat, erlebt selbst noch sein irdisches Ende nicht als Vernichtung, sondern als ein blühendes Neuwerden. Er lebt sogar in dem noch, wo man – von außen gesehen – nur toten Staub erwarten würde.

V.

 Das feiern wir heute, weil dieses Lebendigbleiben in Gott nicht auf Maria beschränkt ist. Von ihr dürfen wir es schon mit Gewissheit glauben. Zugesagt aber ist es allen, die sich Gott verbinden. Also uns auch. Vielleicht sind andere – z. B. solche, die wir Heilige nennen – auch schon ganz bei Gott. Oder auch noch andere, von denen das keiner bis heute weiß. Das ist auch zweitrangig. Um das Dabeisein geht es. Und das steht uns genauso offen. Je mehr wir uns an Gott hängen und offen halten für das, was er uns zudenkt, desto näher rücken auch für uns der Himmel und die Erde zusammen. Indem wir glauben, sind wir schon unterwegs dorthin, wo Maria lebt. Als Maria einmal selbst davon sprach, was Gott tut und für sie bedeutet, hat sie das nicht mit normalen Worten getan, sondern ein Lobgebet gesprochen, eine Art Gedicht. Es ist das „Magnificat“, das bis heute zur Vesper, dem offiziellen Abendgebet der ganzen Kirche gehört. Wenn Christinnen und Christen es nachbeten, singen sie es zumeist. Die Töne lassen uns dabei das Inwendige ahnen – welches Glück es ist, mit Gott so eng auf Du und Du zu sein wie Maria. Es wird gut sein, dass wir manchmal das Magnificat einfach auch so beten oder singen, damit wir nicht vergessen, was auf uns wartet.