Sakrament des Anfangs

Osternacht: Gen 1,1-2,2 + Röm 6,3-11

I.
Bereschith. En arche. In initio. Im Anfang. Das war das erste Wort der Schrift, das wir in das Dunkel dieser Nacht hineingesprochen und gehört haben, nachdem das Osterlicht entzündet und das Lob dieser Kerze gesungen war.

Bereschith. En arche. In initio. Im Anfang! Was für ein Anfang! Wir rufen den Anfang unseres Glaubens aus. Rufen ihn aus mit den Osterglocken in die ganze Welt. Denn wir können nicht für uns behalten, was uns hält. Die Schläfer stören wir auf. So wichtig ist, was wir zu verkünden haben. Dass Gott in Jesus Christus mit uns einen neuen Anfang gemacht hat. Einen Anfang, noch anfänglicher als jener Anfang einst, mit dem er, der jenseits aller Anfänge west, gesagt hat zu uns allen vom Wurm bis zu den Sternen hinauf: Ich will, dass du bist. Ihr dürft sein. Ein Anfang, der tiefer noch als alle Gräber gräbt und über das Vergängliche selbst den Glanz des Herrlichen gießt.

Denn Jesus, der Gekreuzigte, hat an sich selbst uns offenbar gemacht: Gott müsst ihr nicht fürchten, nicht müsst ihr bangen, dass er klein euch halten wollte, um selber groß zu sein. Was bist du, Menschlein, doch deinem Schöpfer wert! Ein ganzes Universum, darin zu leben, zu schaffen und zu lieben nach deines Herzens Freude. Und dann die Krone seines Werkes: Der Sabbat, Tag des Festes und Freiheit bar aller Mühen. Gott selber kommt an ihm zur Ruhe, damit du selber ruhen kannst in ihm. Wie neugeborenes Leben an der Brust der Mutter, still geborgen mit dem tiefen Fühlen: Ja, es ist gut.

II.
Auch alles, was uns von Jesus gesagt wird, ist gleichsam in zwei Anfänge eingespannt: Arche tou euaggeliu Iesou Christou heißen die ersten Worte des ältesten Evangeliums, dem von Markus: Anfang des Evangeliums von Jesus Christus. Und en arche en ho logos: Im Anfang war das Wort, und das Wort wurde Fleisch, hat unter uns gewohnt, damit es uns Kunde bringt von der Herrlichkeit des Vaters. So geht es an im Johannesevangelium. Das ist der erste Anfang. Und der letzte, der ist heute, wenn die Sabbatnacht zu Ende geht: Spät aber am Sabbat, beim Aufleuchten des ersten Tages, des Anfangs der Woche – so fing unser Evangelium gerade an.

Wenn einer so wie Jesus mit dem, was er uns von Gott zu bringen hat, buchstäblich von Anfang bis Ende ein einziger Anfang ist, dann kann gar nichts anderes geschehen, als dass jede und jeder, die mit ihm in Berührung kommen, selber in dieses Neue, in diesen Anfang hineingezogen werden. So ein wirkliches Anfangen durch und durch, das ist für uns Menschenkinder wie ein neu Geborenwerden, ein Augenaufschlagen und Auftauchen in die Helle des Tages und der Welt.

III.
Darum ist das sinnliche und sichtbare Zeichen des Neuanfangs mit Gott in Christus gleich am Anfang der Kirche die Taufe geworden. Untertauchen in der Flut, Verschwinden – und Auftauchen. Alles abgewaschen, gereinigt, Platz gemacht – ein Neuwerden, das einem in die Seele hinein gut tut. So gut wie niemand von uns hat seine oder ihre Taufe selbst bewusst erlebt. Auch das Dabeisein, wenn andere getauft werden, ersetzt das nicht. Aber hineinversetzen können wir uns ein wenig, wenn wir dieses Bild von der Wasserflut, vom Ein- und Auftauchen, in seiner Eigenbotschaft nachzuträumen wagen.

IV.
Den ersten Anhalt dabei gewährt einer, von dem man das kaum er-warten würde und dies auf eine Weise, über die sich wohl zuerst einmal trefflich der Kopf schütteln lässt. Eine der kühnsten Gestalten der christlichen Geschichte ist der Heilige Thomas von Aquin. Er lebte im 13. Jahrhundert. Gegen Ende seines Lebens schrieb er ein theologisches Lehrbuch für Anfänger, die „Summa de theologiae“, in Wirklichkeit eine Kathedrale des Denkens und der Gelehrsamkeit. In diesem Werk mitten in der Moraltheologie steht ein Kapitel über „Das Schlafen und das Baden“.  Wie um alles in der Welt kommt dieses Thema in ein theologisches Lehrbuch und Meisterwerk? Eigentlich sehr direkt:

Der Gang des Leben, sagt Thomas, wird durch das Erkennen und Wollen des Menschen bestimmt und durch seine „passiones animae“, die Leidenschaften der Seele. Zu diesen zählen z.B. Liebe und Hass, Verlangen, Freude, Zorn usw. Um sein Leben recht zu gestalten, muss der Mensch nicht nur das Wahre erkennen und das Richtige wollen, sondern er muss nach dem Maßstab des Wahren und Richtigen auch mit seinen Leidenschaften umgehen, was konkret bedeutet: Die einen der Leidenschaften wird er stärken, z.B. die Liebe, die anderen zähmen müssen, z.B. den Hass. Nun beschäftigt sich Thomas mit einer der Leidenschaften so ausführlich wie mit keiner anderen, nämlich mit der Traurigkeit, und er nennt ausdrücklich Heilmittel gegen sie. Das rührt daher, dass Thomas Traurigkeit nicht einfach nur als gelegentliches Gefühl versteht, sondern als etwas, was tief in die Mitte von Mensch und Leben hinabreicht und zur Grundstimmung des Daseins werden kann. Und diese Traurigkeit zählt Thomas erstaunlicherweise zu den sieben Hauptsünden. Wie kommt er dazu?

Traurigkeit ist das Gegenteil von Freude. Freude wiederum gilt Thomas als erste Folge der Freundschaft mit Gott. Freundschaft mit Gott heißt: Ich lasse mir von Gott all das schenken, was er sich für uns Menschen ausgedacht und was er für uns getan hat, um uns aus dem Netz des Bösen und der Schuld herauszuholen. Man könnte auch sagen: Freundschaft mit Gott ist soviel wie unbedingtes Gottvertrauen, so unbedingt, dass ich ihm zutraue, sogar noch über mein Versagen und mein Mich-schuldig-Machen hinweg die ganze Schöpfung und mitten darin mein eigenes Leben zum Guten zu führen. Klar, dass aus solchem Gottvertrauen die Freude als die Grundstimmung christlichen Daseins hervorgeht. Greift jedoch anstelle der Freude die Traurigkeit Platz, dann steckt dahinter nichts anderes als die Aufkündigung des Gottvertrauens. Das Leben als Christ bedeutet wie jeder weiß nicht nur eitel Sonnenschein, sondern sehr handgreiflich immer wieder auch Enttäuschung über mich selbst, meine Schwächen und Fehler, meine Rückfälle und Halbherzigkeiten, Enttäuschung nicht selten dann auch über das Leben und die ganze Welt, dass sie manchmal so kompliziert und schwierig sind. Und darum misstraue ich Gott, dass aus all dem doch noch etwas Rechtes werden kann. Solches Misstrauen ist Abkehr von Gott, also Sünde, und äußert sich in der Traurigkeit als der Grundstimmung des ganzen Daseins.

Wie sich das Innerste des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch über die Leidenschaften bis ins Leibliche hinein fühlbar macht, so gibt es für Thomas auch den umgekehrten Weg zurück: dass das leibliche Fühlen auf das seelische Befinden einschließlich des Innersten, also des Geistlichen zwischen Gott und Mensch einwirkt. Darum nennt er, ganzheitlicher Theologe und Menschenkenner, der er ist, Heilmittel gegen die Traurigkeit, die beim Leibgefühl ansetzen und unter ihnen das erwähnte Schlafen und Baden. Beides, sagt Thomas, hilft dem Leib, einfach gesprochen so beieinander zu sein, wie es gut ist, in „lebensvoller Bewegung“. Traurigkeit steht diesem Zustand entgegen. Wird dieser die leibliche Vitalität aber gestärkt, so lindert das die Traurigkeit. Das leibliche Wohlbefinden fließt auf das Herz über. Dieses wird selbst von Schmerzlichem nicht mehr in den Abgrund der Traurigkeit gestürzt. Das Vertrauen, dass trotz allem alles recht werden wird und das im Innersten nichts anderes als Gottvertrauen ist, bleibt erhalten und wird gestärkt.

V.
So hängen für Thomas das Schlafen und das Baden mit Gott und dem Glauben zusammen. Er hat darum gewusst und von diesem Zusammenhang einen Gebrauch gemacht, der das Menschliche und das Geistliche bruchlos verband. Warum das möglich ist, hat Thomas nicht mehr bedacht. Es genügte ihm, dass es so war. Wir heute wissen auch über das Warum Bescheid und werden, wenn wir uns die Mühe machen, durch dieses Weiterfragen mit einer Antwort auf unsere Ausgangsfrage nach der Taufe belohnt, auf die wir nie gekommen wären, wenn wir uns nicht auf die Geschichte mit dem Schlafen und Baden in der Summa des Hl. Thomas eingelassen hätten.

Warum also tut dem Menschen, gerade dem Traurigen, das Schlafen und Baden bis in die Seele hinein so gut? Die Antwort darauf muss ein wenig ausgreifen und lautet: Weil alles Leben, also auch das von uns Menschen, aus dem Wasser kommt und ihm bis heute diese seine Herkunft ins Innerste seines Wesens eingeschrieben ist. Entstanden ist das Leben in den Urmeeren, dort war es in wunderbarem Austausch mit seiner Umgebung geborgen. Als Jahrmillionen später Lebewesen begannen, das Festland für sich als Lebensraum zu gewinnen, nahmen sie unter Anpassungen, die noch wunderbarer als alles vorher Dagewesene sind, jenen Ursprungszusammenhang mit dem Wasser sozusagen mit. Wenn wir noch einmal die Entwicklung von Jahrmillionen überspringen und gleich auf den Menschen schauen, dürfen wir sagen:

Das Lebewesen, das wir sind, entsteht und wächst heran in dem sozusagen winzigen Urmeer, das für es das Innere der bergende Höhle des Mutterleibes bildet. Auch diese Erfahrung des eigenen Ursprungs wird über die Geburt hinaus wieder mitgenommen. Und so kommt es, dass dem Menschen seit je Wasser und bergende Höhle als Sinnbilder des eigenen Herkommens und Bestehens gelten. Er taucht in Wasser, zieht sich zur Ruhe in schützende Höhlen zurück, um so durch Baden und Schlafen über das Fühlen seines Leibes sich seines Daseins zu versichern. Atemberaubend, wie nah diese modernen Einsichten jenem Kapitel über „Schlafen und Baden“ aus Thomas’ Summa stehen!

Warum aber muss sich der Mensch überhaupt seines Daseins ver-sichern? Weil er es von ersten Augenblick an als bedroht empfindet. Das beginnt schon mit der Geburt: Der Menschenwurm wird mehr oder weniger gewaltsam hinausgestoßen in eine Welt, die mit dem, was ihn bislang umgab, so gut wie nichts mehr gemein hat: Statt vertraut fremd; statt bergend ohne Grenze und Maß; statt warm kalt; statt dunkel von greller Helle. Alles macht Angst. Ein Menschenjunges hält es in dieser unwirtlichen neuen Welt nur aus, weil andere meist die Eltern durch Nähe, Geste und Güte ein wenig von dem zurückgeben, was es jetzt so schmerzlich vermisst. Je mehr das Kind aber heranreift, desto mehr beginnt es zu ahnen, dass die, die für es solchermaßen als Garanten dafür fungieren, dass es gut ist mit dem Leben, daß die selber sich in einer Welt bewegen, in der sie ihrerseits auf Garanten angewiesen sind, die sie in ihrer Sorge und Angst beruhigen. Tritt schließlich das heranreifende Kind durch das Jugendalter hindurch selbst ins Erwachsenwerden ein und lässt sich dabei durch nichts blenden, so merkt es, dass jene Urerfahrung des eigenen Anfangs immer noch gültig ist: Welt und Leben zerbrechlich, gefährdet, in so vielem nicht zu beherrschen, voller Unbekann-tem und es selber mitten darin, allein auf sich gestellt. An dieser Stelle bleibt nur noch eines: diesem Leben, wie es ist, zu trauen oder sich gegen es abzukapseln, weil dieses Ausgesetztsein, die Kälte ringsum nicht mehr zu ertragen sind. Dem Leben trauen kann, wer darauf vertraut, dass hinter allem etwas oder jemand steht, der sich für das Gutsein von allem sogar noch über die Zweideutigkeiten und das Fremde hinweg verbürgt. Kommt es zu diesem Vertrauen nicht, breitet sich unaufhaltsam das aus, was Thomas „Traurigkeit“ nannte und ein Zerfallensein mit sich selbst, mit dem Leben und der Welt im Ganzen meint.

Genau in diesen Zusammenhang gehört auch die Taufe. In ihr kommt zum Ausdruck: Auch nach der Geburt, nach dem Eintritt in die Welt ist trotz allem die Geborgenheit des Ursprungs nicht verloren. Du, Mensch, darfst dir leben trauen. Wie das Wasser dich sanft umgibt und trägt, wenn du dich auch nur ein wenig bewegst, so ist Gott zu dir. In ihm darfst du ruhen, kannst dich fallen lassen und alle Verkrampfung vergessen. Indem du ihm traust, wirst du wie neugeboren sein, jenseits der Angst vor dem Leben. Deine Sinne helfen dir zu finden, was deine Seele sucht. Das hat die Taufe mit allen heiligen Waschungen der Geschichte gemein. Erst wer diese Gemeinsamkeit wahrgenommen hat, kann dann auch das Besondere, ja Einzigartige der Taufe verstehen.

VI.
Zunächst einmal in der Sprache der Urgemeinde gesagt: Taufe ist für Christen Taufe „auf den Namen Jesu, des Herrn“ (Apg 8,16). Das bedeutet: Was an Hoffnung auf Geborgenheit und Sehnsucht nach Leben hinter dem Zeichen des heiligen Bades steht, richtet sich für Christen gänzlich auf Jesus. Er in Person steht dafür ein, dass man es als Mensch aushalten kann in der Welt, dass es mitten in ihr auch etwas von der Wärme gibt, die den Anfang unseres Daseins eingehüllt hat und ohne die kein Mensch Mensch sein kann. Und im persönlichen Gegenüber mit ihm wird spürbar, dass es gut ist dazusein, weil die Macht hinter allem, die alles trägt, mich niemals fallen lässt, selbst dann nicht, wenn ich mich aus welchen Gründen auch immer gegen sie stelle. Was Wasser und Höhle, Baden und Schlafen urtümlich und sinnenhaft bedeuten, dem gibt er durch das, was er tut und sagt und wie er ist, gleichsam ein persönliches Gesicht und macht es zugleich durchsichtig auf den letzten Grund von allem, auf Gott. Sich davon ergreifen lassen und es dar-um im sichtbaren Zeichen besiegeln das meint: Auf den Namen Jesu, des Herrn, getauft werden. Die Innenseite von Wasser und Höh-le, Baden und Schlafen verkörpert Jesus in Person. Wenn das stimmt, versteht sich von selbst, dass dem, was in uns geistlich und aus Glaube geschieht, das Erspüren unserer Sinne zu Hilfe kommt gerade so, wie Thomas das gesehen hat.