Was Ostern wahr macht

Osternacht A: Joh 20,1-18 (Perikope vorgezogen vom Ostertag)

Gemeinsam suchen

Im Monat Elul, da die Menschen ihre Seelen für die Tage des Gerichts bereitmachen, pflegte Rabbi Chaijm Geschichten zu erzählen mit einer Melodie, die alle Hörer zur Umkehr bewegte. Einmal erzählte er: "Einst hat sich einer im tiefen Wald verirrt. Nach einer Zeit verirrte sich ein zweiter und traf auf den ersten. Ohne zu wissen, wie es dem ergangen war, fragte er ihn, auf welchem Weg man hinausgelange. - Das weiß ich nicht, antwortete der erste, aber ich kann dir die Wege zeigen, die noch tiefer ins Dickicht führen, und dann lass uns gemeinsam nach dem Wege hinaus suchen. Gemeinde" - und so schloss der Rabbi seine Erzählung - "Gemeinde, suchen wir also gemeinsam den Weg!"

Selbst finden

Rabbi Chaijm war ein skeptischer Geist. Wenn einer nach seinem letzten Woher und Wohin fragt - will er mit seiner Geschichte sagen -, dann wird er die Wahrheit darüber nicht so einfach finden. Er wird sie auch nicht gesagt bekommen von einem anderen. Kann ihn der andere doch höchstens vor Holzwegen bewahren. Statt über die Wahrheit meines Lebens zu verfügen wie einen Besitz, Stück für Stück zu erfahren, was meine Wahrheit nicht ist, und deshalb Suchender zu bleiben für immer, das ist für uns Menschen die einzige Weise, Wahrheit zu entdecken - irgendwann, mittendrin, unverhofft - einzig getröstet, dass keiner von uns allein suchen muss, dass einer dem anderen auf seinen Wegen und Umwegen zur Seite zu stehen vermag. Finden freilich muss sie ein jeder für sich, will einer zur Wahrheit kommen über Gott und die Welt und sich selbst. Auch und nicht einmal die Wahrheit des Glaubens tut sich auf anderen Wegen uns auf, am wenigsten die Mitte dieser Wahrheit unseres Glaubens, die Botschaft von Ostern. Hielten wir sie für Besitz - in Formeln gebunden -, über den wir nach Bedarf verfügen, wie hätten sie bereits verloren. Nur unablässig suchend werden wir die Osterwahrheit finden. Die Evangelisten begleiten uns dabei, damit wir uns nicht im Dickicht unserer Fragen und Vormeinungen verlieren. Heute gehen wir mit Johannes, und er hilft uns mit seiner Geschichte von der Begegnung zwischen dem Auferstandenen und Maria von Magdala.

Annäherungen

In diese Geschichte von der ersten Begegnung eines Menschen mit Jesus nach dem Karfreitag weist uns der Evangelist in schlichten, gleichwohl tiefgründigen Gesten und Sinnbildern ein, wie die österliche Begegnung mit dem Auferstandenen geschieht und wie uns die Wahrheit dieser Botschaft nahe kommt.

Maria von Magdala hatte - wohl mehr als alle anderen, die ihn begleiteten - an Jesus gehangen. So geht sie nach den schlimmen Tagen in der Früh wieder zum Grab - möchte wenigstens so noch in seiner Nähe weilen. Als sie hinkommt, findet sie die Grabplatte geöffnet, das Grab leer. Sie berichtet den Aposteln, diese vergewissern sich. Maria aber kehrt zurück, steht vor dem Grab und weint. Warum weint sie? Warum jubelt sie nicht auf, dass der Herr wieder lebt? Weil die Wahrheit der Osternacht nicht an der Tatsache eines leeren Grabes hängt. Könnten doch Jesu Freunde heimlich seinen Leichnam beseitigt haben, um dann seine Auferstehung zu behaupten, wie man bald danach den ersten Christen auch vorgeworfen hat. Das ist Johannes’ erster Wink an uns für die Suche nach der Osterwahrheit. Er will uns bedeuten: Der Auferstandene ist nicht ein Faktum im Netzwerk der vielen Fakten unser Lebenswelt - und sei es auch ein so spektakuläres wie ein unverhofft offenes Grab. Was ist es aber dann um die Auferstehung?

Die weinende Maria - erzählt Johannes weiter - beugt sich in die Grabkammer hinein und sieht dort zwei Engel in weißen Gewändern sitzen. Engel versinnbildlichen in der Bibel immer die Welt und Wirklichkeit Gottes. Diese Wirklichkeit nimmt nur wahr, wer nicht sich selbst mit seinen Erwartungen und Vorurteilen zum Maßstab von allem nimmt, sondern - wie Maria - sich beugt, klein macht, indem sie zulässt und anerkennt, dass es noch ganz anderes und Größeres geben kann als das, was sie selbst weiß und überblickt. Die Engel haben dabei auch keine Botschaft für Maria, um sie von außen und oben mit einem für Menschen an sich unzugänglichen Sonderwissen über das Schicksal Jesu in Kenntnis zu setzen. Die Wahrheit von Ostern kann uns kein anderer sagen, nicht einmal ein Engel. Im Gegenteil: die Engel machen mit ihrer Frage - Frau, warum weinst du? - Marias Trauer und Ratlosigkeit erst gänzlich offenbar, kann sie doch nur noch einmal wiederholen, was sie den Jüngern schon sagte: dass man ihren Herrn weggenommen habe und sie jetzt nicht wisse, wo er sei. Wo will sie jetzt noch suchen, da nicht einmal die Engel im Grab ihr Kunde geben?

Gleichsam unter der Last ihrer Ratlosigkeit wendet sich Maria um - sagt Johannes - und sieht Jesus dastehen, weiß aber nicht, dass er es ist. Achten wir auf Marias Bewegung: in der Abkehr vom Grab beginnt die Begegnung mit dem österlichen Herrn. Indem sich Maria herausdreht aus dem Ort des Todes, ist Jesus schon bei ihr - auch wenn noch unerkannt. Ja mehr noch: Maria, die ihn sich eingeprägt hatte mit den Augen der Liebe wie niemand sonst, sie verwechselt ihn sogar mit dem Gärtner, als er sie nach dem Grund ihrer Tränen fragt. Noch einmal kommt in dieser Szene der Unterschied, ja die Fremdheit zur Geltung zwischen dem, was Menschen denken und erwarten, und dem, was an Ostern geschieht. Ostern gehört nicht zu dem, was wir immer schon wissen; es entspringt nicht den Gegebenheiten der Welt. Ostern - will Johannes sagen - liegt nicht nur außerhalb der Welt berechenbarer Tatsachen, es liegt auch noch außerhalb der Welt unserer Vorstellungen.

Wie aber können Menschen dann überhaupt von Ostern ergriffen werden? Das geschieht in einem einzigen Wort, das der Auferstandene zu Maria spricht. Er sagt nicht: Sie haben mich gekreuzigt, doch jetzt bin ich auferstanden; nicht einmal: "Ich bin es", sagt er. Sondern nur: "Maria" - ihren Namen nennt er. Da wandte sie sich ihm zu - erzählt Johannes, und macht uns damit sehen, was allein den österlichen Herrn erkennen lässt: Das vermag, wer sich von Jesus - von seinem Wort und Geschick - persönlich angesprochen fühlt; sich von ihm gemeint glaubt mit dem, wofür sich Jesus sein Leben lang verzehrte; ja nicht bloß gemeint, sondern bis ins Tiefste von ihm verstanden und deshalb geliebt weiß - gerade wie wenn der eine nur noch des anderen Namen auszusprechen braucht so voller Zärtlichkeit, dass dem darin das ganze Glück seines Lebens zuströmt.

Wo einem Menschen in irgendeinem Augenblick seines Lebens Jesu Liebe in ihrer ganzen Tiefe so aufgeht, dann weiß er im selben Augenblick mit unfehlbarer Gewissheit, dass eine Liebe, die so unbedingt und grenzenlos ist, wie das Kreuz offenbar gemacht hat, dass sie nicht einmal im Aufhören der sichtbaren Existenz des Liebenden ans Ende kommen kann, auch darüber hinaus noch in Geltung bleibt, weil sie schon zu Lebzeiten etwas von Gott, etwas ewiges gewesen ist.

Ihren Namen, also ihr innerstes Wesen von der Liebe Jesu durchflutet wahrzunehmen, das hat Maria aus der Fixierung auf die Welt der Gräber gelöst - auf die Welt, die Anfang und Ende hat, die man besitzen und kontrollieren kann. Und diesem innersten Anruf sich öffnend vermag sie dann antwortend zu erkennen, wer sie eigentlich ruft und dass der Rufende in der spürbaren Macht seiner Liebe da ist, gegenwärtig bei ihr. In der bis zum Grund ihrer Existenz gehenden Bekehrung zur Liebe - denn genau das versinnbildet die von Johannes so seltsam doppelt hervorgehobene Gebärde des Sichumwendens -, in der Umkehr zum Vertrauen in die Wirklichkeit und Wirkmächtigkeit der Liebe wird ein Mensch fähig, den Auferstandenen und seine Wahrheit wahr zu nehmen. Außerhalb der Atmosphäre der Liebe bleibt Auferstehung ein zwangsläufig missverstandenes Rätselwort, innerhalb ihrer bezeichnet sie den Anbruch einer neuen, erlösten Welt, in der sogar die radikalsten Opponenten des Lebens - Trauer und Tod - noch der Verwandlung fähig sind.

Kein Wunder, dass Maria den Auferstandenen, den ersten aus dieser Welt, berühren möchte, sich vergewissern möchte, ob es so etwas wirklich gibt. Doch er sagt: "Halt mich nicht fest" - "begreif mich nicht"; die unter Menschen übliche Kontaktnahme taugt nicht für die Osterwirklichkeit. Man kann sich des Auferstandenen und seiner Wahrheit nicht bemächtigen wie einer Sache oder eines Programms, das sich beliebig abrufen ließe zur Tröstung oder Sicherung des eigenen Lebens. Auch jedem geschichtlichen und genauso jedem theologischen Wissen bleibt der Auferstandene unverfügbar. Spürbar gegenwärtig ist er und erkannt wird er einzig dort, wo Menschenherzen in ihrer sehnsüchtigen Suche nach Leben und Glück seine Liebe zu ihnen entdecken, sie für wahr nehmen und erwidern. Wo Menschen so unter den unbedingten Primat der Liebe treten, da ändert, da verwandelt sich ihre Welt, denn da werden Not und Tod nicht mehr als bitteres Verhängnis hingenommen, sondern in der Liebe übermächtigt: die Not handelnd behoben, der Tod getröstet bestanden. Wo immer solches geschieht, ist der Auferstandene darin selbst zugegen, weil es überhaupt erst von ihm her einen solchen ernstgenommenen Vorrang der Liebe gibt, denn: ganz und gar der Liebe trauen und sich ihr überlassen, das vermag nur, wer ganz einsgeworden ist mit seinem Gott, sich geborgen und gehalten und beschenkt weiß von ihm - wie Jesus. Deshalb auch sagt ja der auferstandene Herr am Ende zu Maria: "Geh zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott." Wer Jesus - diesem Gleichnis der Liebe Gottes in Menschengestalt - traut und in seiner Lebenspraxis den Spuren Jesu nachgeht, wird in Jesu eigenes, unbeschädigtes Gottverhältnis hineingenommen, so dass er wie Jesus zu Gott Vater sagen und sich selbst Sohn und Tochter nennen darf - und also auch Schwester und Bruder Jesu - Geschwister des Auferstandenen: denn wer ihm traut und seine Liebe liebend erwidert, wird selbst erweckt. Der Auferweckte ist und bleibt gegenwärtig in den Auferweckten, um durch sie die Welt für das Reich Gottes - die Vollendung dessen, was mit Ostern beginnt - vorzubereiten.

Ostern werden lassen

Die Verheißung der österlichen Botschaft kann deshalb nur erahnen, wer wie Maria sich abkehrt vom Grab, von der Welt des vergänglichen Äußeren, um zu hören, was ihr bzw. ihm persönlich Jesu Wort und Geschick zu sagen haben. Und wenn da ein Mensch - getroffen von der unbegreiflichen Liebe zu ihm, die im Gekreuzigten sichtbar wird - selbst zu lieben beginnt, dann ist er - mit Maria - vorbereitet, dem österlichen Herrn zu begegnen. Er wird seine Gegenwart spüren in seinem eigenen Erweckt werden - zuerst dort, wo auf einmal wider alles Erwarten die Verschlossenheiten seines Lebens aufzubrechen beginnen, indem er fähig wird zu vergeben, ohne nachzutragen; treu und wahrhaftig zu sein, ohne den eigenen Vorteil durchzukalkulieren; hinzugeben, ohne auf Gegenleistung zu warten; mitzuleiden und für niedergehaltenes Leben zu kämpfen, ohne dass es das eigene wäre. Und diese kleinen Aufstände der Liebe, das sind die Vorboten der großen, endgültigen Auferstehung, die unser ganzes Dasein mit Leib und Seele einmal ergreifen wird - und die Jesus schon ergriffen hat, weil er - wie keiner vor ihm - bedingungslos geliebt hat, also ganz Mensch gewesen ist. Dass auch wir einmal mit unseren Gesten der Liebe und mitsamt unseren Kreuzen so wie er eingeborgen werden in Gottes Ewigkeit, das ist die Verheißung der Osternacht. Wo immer wir Liebe schenken, da reicht diese Zukunft von uns selbst schon in die Gegenwart herein und beglaubigt prophetisch das Künftige. An unserem österlichen Leben jetzt hängt deshalb, ob Menschen den auferweckten Herrn erkennen und sich ihm anvertrauen. Ihnen den österlichen Herrn erscheinen zu lassen wie ihn uns Maria jetzt hat erscheinen lassen, das ist unsere christliche Berufung. Lassen wir es Ostern werden füreinander!