Unmoderne Diagnose

10. Sonntag A: Mt 9,9-13

I.

Es mag der binnenchristliche Gewöhnungseffekt sein, dass das Evangelium von soeben einen kaum mehr elektrisiert, wenn es vorgelesen wird. Alles ist ja so klar: Es geht um eine Berufungsgeschichte. Diesmal nicht um die von Fischern, die zu Jüngern werden, diesmal ist es ein Zöllner, Mitglied einer wenig geachteten Berufsgruppe und von geringem öffentlichen Ansehen mithin, weil, wer da an der Zollschranke Dienst tut und sein Auskommen sucht, mehr oder weniger direkt als Kollaborateur der römischen Besatzungsmacht galt und überdies bei solchen Leuten die Versuchung nahe lag, zur Maximierung des eigenen Gewinns die Passierenden auszupressen.

II.

Mit ihm und seinesgleichen - vielleicht im Haus dieses Matthäus - lässt sich Jesus zusammen mit seinen Jüngern zum Gastmahl nieder. Solche Gastmähler hatten damals für alle Beteiligten wie von selbst ein religiöses Gepräge: Miteinander essen ließ zwanglos auf viele Dinge kommen, die mit Gott und seiner Verheißung zu tun hatten in jener Zeit des Hoffens, dass Vieles besser und einmal alles gut sein werde. Und was sollen da Leute wie ein Zöllner und andere Aussenseiter viel mitreden! Es wirft kein gutes Licht, wenn man sich trotzdem zu sehr auf sie einlässt. Eben daher rührt auch der Anstoß, den die Pharisäer aus ihrem Suchen nach rechter Frömmigkeit an Jesu Gebaren nehmen. Dass sich im Evangelium die Kritik der Pharisäer nicht an Jesus direkt, sondern an die Jünger wendet, deutet wohl an, dass diese Frage - wer gehört dazu, wer ist drinnen und wer draussen - auch in der jungen Gemeinde kontrovers war.

III.

Jesu Reaktion schildert der Evangelist lapidar - und kategorisch: Er verbindet den damals geläufigen Spruch, dass nicht Gesunde, sondern Kranke einen Arzt brauchen, mit einem an das Buch Hosea gemahnenden Wort vom Mehrwert der Barmherzigkeit über das rituelle Opfer in den Augen Gottes und bündelt beides zusammen in einem jener für ihn typischen "Ich-bin-gekommen"- Sätze, in denen er die Grundbestimmung seiner Sendung zur Sprache bringt: "Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten."

Die Botschaft der paar Zeilen, damals schon und heute an uns, scheint einfacher und unzweideutiger nicht sein zu können: Auch das Denken des aufrecht religiösen Menschen - denn das waren die Pharisäer - ist nicht einfach von selbst auf der sicheren Seite, lautet sie. Auch bedarf es zur rechten Zeit der Korrektur, um nicht quer zu stehen zu dem, was eigentlich in seiner Absicht steht. Wer Gottes Willen zu entsprechen sucht, muss sich bisweilen zu einer Einsicht befreien lassen, die größer ist als die eigene Überzeugung - am besten nennen wir sie dialektisch in der Sprache von heute: dass Gottesliebe ohne Nächstenliebe nicht zu haben ist - darum geht die Barmherzigkeit dem Opfer vor. Und dass sich Jesus zuerst zu den Sündern gesandt weiß, nicht zu den Gerechten - nicht, weil ihm die ersten mehr und die letzteren weniger wert wären, sondern weil die Angeschlagenen und Verstrickten zuallererst Gottes Sorge auf sich lenken. Darum zieht ihnen das sie von Gott Trennende die Nähe dieses Gottes zu, bis dahin, dass ihnen Gott im Maß ihres Weggehens nahekommt; das ist das Dialektische hier. Und dafür steht Jesus ein.

Eine solche Botschaft ist nicht ohne, auch für bibelgewohnte Ohren nicht. Und doch sind wir bis jetzt auf das eigentlich Beirrende an ihr noch gar nicht zu sprechen gekommen. Was Jesus da sagt und tut, hat ja die Form einer Diagnose und versteht sich als Beginn einer Therapie: Denn seine Reaktion auf die Pharisäerkritik unterstellt, dass es eine Krankheit gibt, die Sünde heißt. Und sein Verhalten versteht er als Inbild heilender Hilfe, die von Gott selber ausgeht.

Es ist genau diese Voraussetzung des Evangeliums, die längst zur Disposition steht. In seinem Opus magnum, dem Roman "Mann ohne Eigenschaften", schrieb Robert Musil schon im ersten Viertel des letzten Jahrhunderts: "So viele Worte in einer großen Stadt in jedem Augenblick gesprochen werden, um die persönlichen Wünsche ihrer Bewohner auszudrücken, eines ist niemals darunter: das Wort 'erlösen'". Die Thesen eines Nietzsche und Freud, dass die christliche Rede von Sünde und Erlösung selbst erst das Elend schaffe, das sie zu beheben behaupte, und darum am besten zu entsorgen sei, hatte diesem Verdunsten eines biblischen Grundgedankens den Boden bereitet. Nicht sehr lange nach Musil konnte der überzeugte Katholik Heinrich Böll mitten aus dem Krieg seiner Verlobten und späteren Frau schreiben: "... ich ahne unsere unendliche Einsamkeit, wenn ich manchmal bei Beerdigungen die vollkommene Verständnislosigkeit und Abgewandtheit der Kirche gegenüber in ihrem vollen Umfang erspüre. Ich glaube, wir gehen Zeiten entgegen, in denen auf eine apokalyptische, absolut offenbare Weise wir für die übrige Welt die Narren sein werden und auch die Feinde..."

Ob Böll, als er das 1941 schrieb, ahnte, wie recht er behalten sollte? Auf hohem intellektuellem Niveau wird heute aus der Religionswissenschaft der Vorschlag gemacht, die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr, zwischen Gott und Götze, durch die in den monotheistischen Religionen der Gedanke der Sünde in die Welt gekommen sei, um eben dieser Folge willen in Frage zu stellen. Andere ziehen die Sache ins Lächerliche, so der Medien-Philosoph und Entertainer Peter Sloterdijk: Wenn Ende des 21. Jahrhunderts einmal in einer großen Ausstellung Resümee über unsere Epoche von heute gezogen werde, da würden sich die Besucher über unser Ringen um den Unterschied zwischen wahr und falsch, gut und nützlich, Sein und Schein als halbarchaische Konfliktfolklore amüsieren. "An Schaubildern dessen - schreibt er -, was wir heute denken, werden Schulklassen vorüberziehen und kichern: 'Das waren die, die an den Gegensatz von Tatsachen und Möglichkeiten geglaubt haben und an die Kluft zwischen dem Positiven und dem Phantastischen.'"

IV.

Wer nicht mehr von Sünde und Erlösung spricht - das steht dahinter -, entzaubert eine Illusion, legte eine Quelle von Konflikten trocken und macht so die Welt humaner, menschengemäßer also. Ist das so? Manchmal stößt man unversehens auf feine Spuren, die gegen das übermächtig Plausible in eine andere Richtung deuten. Eine solche Spur fand ich in einem Gedicht von Michael Krüger, das mit "Rede des ev. Pfarrers" betitelt ist:

Rede des ev. Pfarrers (lacht:):
Ach, wissen Sie,
auch ohne ihn,
haben wir viel zu tun.
Manche in der Gemeinde
Haben ihn schon vergessen.
Anderen fehlt er. Sehr.
War es besser mit ihm? Der Trost drang tiefer,
und die Scham darüber,
geboren zu sein,
ließ sich leichter
verbergen.

Was es denn mit seinem Dienst auf sich habe, wenn doch Gott ohnehin verschwunden sei, scheint die Frage zu sein, auf die der Pfarrer da antwortet. Und die Antwort fällt sarkastisch aus, mindestens: dass auch ohne ihn, Gott, noch viel zu tun sei. Der Betrieb geht weiter. Gottvergessen hat sich ausgebreitet. Aber ein paar andere sind immer noch da. Denen er fehlt er. Sehr sogar. Und warum?
Der Trost drang tiefer,
und die Scham darüber,
geboren zu sein,
ließ sich leichter
verbergen.

Da ist sie, jene Spur. Die Ahnung, dass dem faktisch gelebten Leben etwas eingeschrieben, nein eingeritzt ist, das man am liebsten ungesehen und unsichtbar wüsste - dieses immer wieder zu groß von uns Denken, von uns Staubkörnern. Und das zugleich viel zu kleine Handeln gemessen an der Größe, die gleichwohl die unsere ist. Die Not, Balance zu halten zwischen Tier und Engel, zu fallen und wieder von vorne anzufangen und noch einmal und noch einmal. Diese Wesenswunde nicht immer anstarren müssen, weil sie geborgen ist in dem, was mit einem altmodischen Wort Erbarmen heißt - und sich an dieses Wort noch halten können in Situationen, in denen Menschen eines letzten Wortes nicht fähig sind, und sie darum im Keller ihrer Seele noch der Trost erreicht: Das ist der Hauch von Versöhnung über dem Evangelium überall dort, wo es vom Verhältnis zwischen Gott und Sünder spricht - so wie wenn der Sünder gar nicht mehr nur Sünder sein kann, wo auch nur Gottes Blick auf ihn fällt.

IV.

Der Dichter redet davon in Vergangenheitsform, lässt aus der Erinnerung an das, was man früher "Leben mit Gott" nannte, allenfalls verhaltene Sehnsucht zu. Vielleicht besteht das Wagnis des Glaubens für uns jetzt mehr als in anderem darin, das an sich so einfache Evangelium von heute als Tiefendiagnose zu hören und dem ganz Ohr sein, ihm ein Heilsames zuzutrauen, das in unsere Gegenwart reicht.