Wo wir den Messias entdecken 

2. So B: Joh 1, 35-42            


I
Den jungen Leuten, die zum ersten Mal zu ihm kamen, pflegte Rabbi Bunam die Geschichte von Rabbi Eisik, Sohn Jekels in Krakau zu erzählen. Dem war nach Jahren schwerer Not im Traum befohlen worden, in der Stadt Prag an der Brücke, die zum Königsschloss führt, nach einem Schatz zu suchen. Als der Traum zum dritten Mal wiederkehrte, machte sich Rabbi Eisik auf und wanderte nach Prag. Aber an der Brücke standen Tag und Nacht Wachposten und so getraute er sich nicht zu graben. Doch kam er jeden Morgen zur Brücke und umkreiste sie bis zum Abend. Endlich fragte ihn der Hauptmann der Wache, ob er hier etwas suche oder jemanden erwarte. Rabbi Eisik erzählte, welcher Traum ihn hergeführt hatte. Der Hauptmann lachte: Und da bist du aus Krakau eines Traumes wegen hierher gepilgert? Da hätte ich mich ja auch auf die Beine machen müssen, als es mir einmal im Traum befahl, nach Krakau zu wandern und in der Stube eines Juden, Eisik, Sohn Jekels sollte er heißen, unter dem Ofen nach einem Schatz zu graben. Ich kann mir’s vorstellen, wie ich dort, wo die eine Hälfte der Leute Eisik und die andere Jekel heißt, alle Häuser aufreiße. Und er lachte wieder. Rabbi Eisik verneigte sich, wanderte heim und grub den Schatz aus.

II
Nicht nur einen Schatz wohl sehnt ein jeder in seinem Leben herbei. Aber gewiss fängt er eines Tages auch zu suchen an nach dem Schatz. Dem Schatz schlechthin, an den er (sich mit allen Fasern) sein ganzes Herz hängt und von dem sein Dasein ein unverwechselbares Profil gewinnen soll. So wie die jungen Leute, die zu Rabbi Bunam kommen, damit er ihnen Gott finden helfe. Und dieser weise Mann empfängt sie mit der Geschichte von Rabbi Eisik – einem, der mit all seinen Kräften den Schatz seines Lebens gesucht hat. Er geht weit fort von daheim, aber nicht, um gleich das Ersehnte zu finden, sondern: um aus dem Mund eines anderen zu erfahren, dass der Schatz genau dort liegt, wo er ihn zuletzt vermutet hätte. So geht es auch euch, wenn ihr Gott sucht, will Rabbi Bunam seinen Schülen damit sagen. Wo also ist Gott? Wie und wo entdecken wir ihn?

III
Das heutige Evangelium gibt denen, die sich Christen nennen, eine verbindliche Antwort auf die Frage – aber nicht wie ein Katechismus zum Auswendiglernen, sondern verhalten, indem es von der Begegnung zwischen Jesus und seinen ersten Jüngern erzählt. Der Evangelist hat sie – mit tiefer Feinfühligkeit – bis in Details hinein aufgezeichnet. Nicht zur Information, sondern damit wir dadurch umso leichter die Geschichte als unsere eigene Geschichte mit Jesus entdecken können.

Der Täufer Johannes steht mit zweien seiner Jünger beisammen. Als er Jesus vorübergehen sieht, sagt er zu ihnen: Seht, das Lamm Gottes. Die beiden horchen auf, denn in diesem geheimnisvollen Bildwort steckt für ihre Ohren die ganze Spannung des Alten Bundes und seine Hoffnung auf gelingendes Leben. Aber mehr noch: in diesem Wort – Lamm Gottes – kommt über die Sehnsucht hinaus auch zur Sprache, wie allein alle Not und Schuld der Menschen ihre Lösung, ja Er-lösung finden. Nämlich: indem Gott selbst von sich aus, Himmel und Erde wieder miteinander versöhnt. Indem er selber alles Unheil und Böse wegträgt, in sich hinein nimmt, um es so zu entmächtigen. Lamm Gottes – so heißt deshalb das wohl kühnste Wort des Alten Testaments. Im Anblick Jesu drängt genau dieses Wort sich dem Täufer auf die Lippen.

Die beiden Jünger hat das zunächst vermutlich reichlich ratlos gemacht. Lamm Gottes – der ? Gewiss: Er galt ihnen als Rabbi, als einer, der was versteht von Gottes Dingen. Aber Lamm Gottes? Doch das Wort des Täufers sitzt wie ein Stachel – und sie fangen an, Jesus nachzugehen. Sie beschatten ihn, weil sie wissen wollen, was es mit ihm auf sich hat.

Jesus bemerkt das. Er wendet sich ihnen unversehens zu. Was wollt ihr? Seine Frage macht die Jünger unsicher. Daher ihre ein bisschen verlegene Gegenfrage: Meister, wo wohnst du? Gerade das, was ungesagt darin mitschwingt, das gibt dieser Frage ihr Gewicht: Wer bist du eigentlich. Und vor allem mit des Täufers Ruf im Herzen: Was hast du mit Gott zu tun und mit unserer Sehnsucht nach einem geglückten Leben? – Wo wohnst du? Jesus nennt darauf keine fixe Adresse. Er klärt die beiden nicht informierend auf, so dass sie durch ihr Bescheidwissen beruhigt weggehen oder gesichert auf ihn zugehen könnten.

Jesus lädt die beiden stattdessen zu sich ein: Kommt und seht! Mehr noch: Er fordert sie auf, persönlich seine Lebenswelt – will sagen: ihn – in Augenschein zu nehmen. Sie sollen selber erfahren, wer er ist. Und sie gehen mit. Wir hören nichts von dem Ort, wo sie mit ihm hingingen, nichts über den Inhalt ihres Gesprächs und nichts von einer Botschaft Jesu an die beiden. Wir hören nur, dass die Jünger bei ihm blieben an jenem Tag – aus der Begegnung ist Gemeinschaft geworden. Was in diesen Stunden geschehen ist, können wir nur ahnen aus den Folgen, die sie zeitigen. Denn als Andreas, einer der beiden seinen Bruder Simon trifft, wagt er zu sagen: Wir haben den Messias gefunden. Den, den sie schon so lang erwarteten.

Wachgerufen vom prophetischen Wort des Täufers, gedrängt von der Sehnsucht nach einem heil gewordenen Leben, aufgefordert von Jesus zum persönlichen Erfahren, eingelassen auf die Begegnung mit ihm – so reift in Andreas jene tiefe Herzenseinsicht, die in der gemeinsamen Stunde mit Jesus durchbricht – er ist wirklich der Messias. Andreas hat den Schatz seines Lebens gefunden. Nicht aus sich selber hat er ihn emporgehoben. Er muss sich helfen lassen von einem anderen: Johannes. Einem zweiten musste er nachgehen: Jesus. Und da, im Eingehen auf dessen Angebot geschieht es. In seiner ureigenen, persönlichen Erfahrung entdeckt Andreas, wem er sich gegenüber sieht. Nicht aus sich, aber in sich, mitten im eigenen Lebenshaus, entdeckt er den Schatz. Wie Rabbi Eisik bei sich daheim unter dem Ofen. So wird Andreas zum Jünger. Der Messias offenbart sich ihm nicht einfach von außen, nicht von oben und nicht von nebenan. Er entbirgt sich ihm von innen her. Dort, wo Andreas unfehlbar er selber ist, in seiner persönlichen Erfahrung, da tritt der Herr bei ihm ein. Als sein ganzes Ich samt seiner dunklen Winkel, seiner Sehnsucht und seiner stillen Ängste, seiner Schwächen und Zwänge diesem Jesus gegenüber stehend. Als all das in Andreas wortlos Jesus zu befragen anfängt, seiner Antwort lauscht und ihre Wirkung fühlt – da ahnt Andreas in seinem Herzen, wem er begegnet sein muss. Kommt und seht! Damit hatte ihn Jesus aufgefordert zur persönlichen Erfahrung – weil sie tiefer und unmissverständlicher als jedes menschliche Wort für die entscheidenden Dinge des Lebens empfänglich ist.

IV
An der ureigenen Erfahrung entdecken, wer Jesus von Nazaret ist. In seinem eigenen Innern den Messias erkennen. Das ist der Weg aller, die als Christinnen und Christen den Schatz ihres Lebens suchen. Und nur wer denselben Weg wie die beiden Jünger zurückgelegt hat, darf ehrlicherweise bekennen: Wir haben den Messias gefunden. Jesus Christus der Herr. Nur dann ist dieses kühne Wort gedeckt. Gedeckt mit dem Schatz der eigenen Erfahrung. Diesen Weg einzuschlagen, ist gar nicht so leicht, denn: Viele leben heute dermaßen verstrickt in den Zwängen unserer größenwahnsinnig gewordenen Gesellschaft, so verspannt in dem Geschiebe und Gezerre eines restlos oberflächlichen Zweckdenkens, dass sie in sich gar nichts mehr spüren von der Sehnsucht nach dem ganz Anderen, das sich nicht einpassen lässt ins Vorhandene und nicht von ihm ableiten. Sie nehmen ihren tiefsten Traum gar nicht mehr wahr, weil der Trubel ringsum viel zu grell geworden ist. Umso mehr brauchen wir die Stimme des Täufers, der uns immer wieder das Lamm Gottes in Erinnerung bringt, den Zeugen, der die Unheilsituation unserer Welt unerbittlich aufdeckt und zugleich ihre Heilung verheißen kann. Nur wer bereit ist, unermüdlich dem Alten Testament zuzuhören, der wird die Sehnsucht nach dem Messias in sich wieder finden. Und seine Hoffnung wird nicht ein diffuses Tasten bleiben, sondern Profil bekommen. Denn der Gläubige erhofft nicht irgendetwas. Er ersehnt nichts weniger, als dass sein eigenes Herz und die der anderen von der Angst erlöst und zum vollen Leben befreit werden. Und dass im Gefolge dieser Befreiung alle mit Gott, untereinander und mit den Geschöpfen zu einem Miteinander der Liebe finden. Ohne diese alttestamentliche Hoffnung im Herzen gibt es für sie kein Christwerden.

Denn erst in ihrer Atmosphäre wird auf das Wort des Täufers hin die/der Glaubende aus dem Umkreis des Alten Bundes heraustreten – direkt in die Begegnung mit Jesus. Sie ereignet sich, wo einer sich so hoffend dem Zeugnis des Neuen Testaments, vor allem der Evangelien, aussetzt. Diese Begegnung mit Gottes Wort – und das ist entscheidend – steht genau unter jenem „Kommt und seht!“, zu dem der Herr auffordert. Denn es hülfe gar nichts, wenn einer die Evangelien nach Geboten und Rezepten durchforstete, nach Regeln, wie er sein Heil bewerkstelligen könnte. Alles liegt vielmehr daran, dass ich mein ganz konkretes, durchschnittliches, manchmal erbärmliches Leben mit dem Evangelium zusammenbringe. Dass ich meine Verzweiflung über mich selbst zusammenhalte mit den Tränen jener stadtbekannten Frau, die sich selber vor Jesus ausschüttet und von ihm das erlösende „Geh hin in Frieden“ hören darf. Es kommt darauf an, dass ich meine eigene Besitzgier mit der Existenz und der Bekehrung des Zöllners Zachäus verstricke. Die Ungläubigkeit des Thomas und sein Bekenntnis mit meinen eigenen Zweifeln. Meine Zwänge im Umgang mit anderen oder meinem Leistungsfanatismus mit all den Besessenen, die Jesus heilt. Meine Scheinheiligkeit, wenn ich wieder einmal einen Bedürftigen schnell abgespeist habe, mit den Tränen des Petrus, der seinen Herrn verleugnet hat. So begegnen sie Jesus Christus – genauso wie Andreas damals. Nicht einer abgetrennten Botschaft, sondern ihm, ganz persönlich. Und da, nur da, springt der Funke über. Alle unsere Fesseln, alles, was uns unmenschlich macht, löst sich unter seinem Blick: Er befreit uns zum wahren Liebenkönnen, zum rechten Umgang mit unserem Besitz, von dem Irrsinn, nur so viel wert zu sein, wie wir leisten, von der tagtäglichen Verleugnung unseres Christseins. Das alles sind Erfahrungen, die jede und jeder machen kann, wenn er sich traut, Jesus zu begegnen.

Dass unsere Glaubensbekenntnisse oft so seltsam hohl klingen, das rührt daher, dass wir dauernd den Namen Jesu Christi im Munde führen, ihn unseren Messias nennen, ohne jene Erfahrungen riskiert zu haben, die allererst unser Bekenntnis bewahrheiten könnten. Wir leben so dauernd über unsere Verhältnisse, tun den zweiten Schritt vor dem ersten – das macht unser Christsein so beiläufig und erzeugt den erschreckenden Leerlauf auch in unseren Gemeinden. Wir sträuben uns über weite Strecken geradezu, persönliche Erfahrungen mit Jesus zu machen, weil wir durch sie unser selbstgezimmertes Wohlergehen, unseren Besitzstand gefährdet sehen. Und den Platz der fehlenden Erfahrungen nimmt dann zwangsläufig ein behäbiges Vereinsgehabe zwischen Teestube, Kegeln und Kaffeekränzchen ein. Nichts dagegen. Aber alles dagegen, wenn dies beginnt, den Vorrang einzunehmen. Vielleicht scheint Ihnen diese Sicht überzogen –. Ich lade Sie ein, deswegen selbst die Probe aufs Exempel zu machen. Denn ob Christinnen und Christen sich mit dem Zweitrangigen begnügen oder wirklich Jesus als ihren Messias erfahren haben, dafür gibt es einen ganz präzisen Maßstab. Er steht auch im heutigen Evangelium: Dem Erstbesten, den er traf, seinem Bruder Simon, erzählt Andreas sofort, was ihm widerfahren ist. Er musste einfach davon reden. Und er führte Simon zu Jesus. Sein Jüngerwerden hat ihn gedrängt, Zeugnis zu geben und andere in die Begegnung mit dem Herrn zu führen. Fragen Sie sich: Ob und wann Sie das Bedürfnis verspürt haben, nicht bloß über Ihren Glauben zu reden, sondern aus Glauben Zeugnis zu geben für das, was durch Jesus an Ihnen geschah. Und: Ob Sie jemanden, dem all das noch fremd und fern ist, einladen würden, Jesus zu begegnen. Fragen Sie sich das. Dann wissen Sie, wie es um Ihr Christsein steht.