Der Hirte ist das Lamm

4. OSo C: Offb 7,9. 14b-17

I
Wenn Christen von dem sprechen, von dem ihr Name kommt – von Christus –, nennen sie ihn seit je mit Namen, die etwas von dem auszudrücken suchen, was ihnen dieser Christus bedeutet. "Meister" sagen sie darum zu ihm, "Herr", auch "Bruder". Das Johannesevangelium kennt einen Namen, der noch mehr als die anderen „Beziehung“ bedeutet: "Guter Hirt". Jesus als einer, der diejenigen, die ihm vertrauen, durchs Leben führt, für sie sorgt und sie schützt. Nicht zufällig stellen die ältesten erhaltenen Christusbilder den guten Hirten dar, der ein Schaf oder Lamm auf den Schultern trägt. Und auch uns heute noch ist dieses Bild spontan verständlich, ohne dass man es lange erklären müsste.

II
Trotzdem gibt es noch ein anders Christusbild, ungleich gewagter als die soeben genannten, auf den ersten Blick auch ungleich schwerer zu verstehen – und dennoch vielleicht tief reichender noch sogar als der gute Hirt. Das letzte Buch des Neuen Testaments, die Offenbarung des Johannes, nennt Jesus auch "Lamm", insgesamt 28 mal. Liest man dieses ganze Buch, dann merkt man sofort, dass dieser Name zu tun hat mit dem Sterben Jesu und dem Ostermorgen. Aber was genau?

III
Eine alte jüdische Geschichte gibt einen Wink: Gott, so heißt es, sah alles, was er geschaffen hatte. Die Tiere zogen in langer Prozession an ihm vorüber: Mit Stoßzähnen die einen, mit Krallen die anderen, mit Panzern die dritten. Abseits stand ein Tier, dass ängstlich auf die Nashörner, Schlangen, Tiger, Löwen und Krokodile schaute: ein Lamm. Es war wie verloren, hatte nichts, um sich zu verteidigen, geschweige denn anzugreifen. Als der Schöpfer die Angst des Lammes bemerkte, fragte er, was er ihm denn zu seinem Schutz geben solle: Klauen, Hörner oder auch einen Panzer? Das Lamm lehnte alles ab. Da gab ihm der Schöpfer Geduld und Demut.

IV
Die ersten Christinnen und Christen werden diese Überlieferung nicht gekannt haben. Aber genau das, was die Geschichte vom Lamm erzählt, das hatten sie mit Jesus erlebt. Er war durchaus jemand mit Gefühlen: Er liebte, weinte, trauerte, konnte zornig sein, warf die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel. Aber nie hat er sich mit einem Panzer geschützt gegen das, was an ihn herankam, am allerwenigsten gegen Menschen. Und die Gewalt, die man ihm antat, hat er nicht mit Gegengewalt beantwortet. Die Demut kannten sie an ihm auch. Nie hat er um sich etwas hergemacht, für sich etwas gefordert. Um Gott ging es ihm, um den Menschen und darum, dass beide zueinander finden. Und die Geduld, die hatten die Jünger in der Zeit mit ihm hautnah erlebt. Wie er ihre Begriffstutzigkeit, ihren Kleinglauben ertrug, damals beim Sturm auf dem See, bei der Sache mit den Broten, den Heilungen. Und am meisten betroffen gemacht hatte sie ja sein Ende am Karfreitag und das, was daraus wurde. Das war ja auch nichts anderes als ein Ausdruck durch nichts zu beirrender Geduld gewesen: Sie hatten ihn verlassen, Petrus, ihr Sprecher ihn sogar verleugnet. Und trotzdem durften sie ihn als den Lebendigen, dem vom Tod nicht Vernichteten erleben. Wäre ihnen das geschenkt worden, wenn er sie aufgegeben gehabt hätte, weil sie doch nie begreifen würden, wofür er gestanden hatte? Also auch der Ostermorgen noch ein Zeugnis einzigartiger Geduld! Die Verletzlichkeit, die Demut, die Geduld – Gründe genug, um zu sagen: Wie ein Lamm war er. Und weil er so war, wie Gott ist, lässt Christus als Lamm etwas von Gott selbst, von seiner Wesensart erahnen: Jesus gleichsam die Ikone des geduldigen, des wartenden Gottes – des so lange Wartenden, bis auch noch der letzte Sünder wieder zu ihm gefunden hat.

V
Diese Ahnung wohl hat dem Visionär der Apokalypse die Feder geführt, der heute in der Lesung zu uns sprach. Es war eine schlimme Zeit damals gewesen: Die Christengemeinde – eine winzige Sekte inmitten einer abweisenden, zum Teil feindlichen Umwelt voller Götter und Kulte. Und trotzdem ist der Seher gewiss: Diejenigen, die durch diesen Jesus, durch das Lamm, zu Gott finden, werden nicht wenige sein, im Gegenteil: Eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen werden sie bilden, aus allen Sprachen und Völkern. In Worten von heute gesagt: Ob Russe, Deutscher oder Indio, ob Mann oder Frau, oder jung oder alt, erfolgreich oder gescheitert, Hetero oder Homo, - wer, wo immer er ist und was immer er tut, an Jesus Maß nimmt, kommt durch. Dass es so viele sind und so viel verschiedene, kann von gar nichts anderem kommen als von seiner Geduld. Da wird niemand ans Ziel gescheucht oder gepeitscht. Jesus war sich von Anfang sicher: Wer auch nur einmal ernsthaft nach seinem eigenen Woher und Wohin fragt, wird begreifen, was ihm das Evangelium zu sagen hat, und ihm darum folgen. Jedem ist dafür seine Zeit eingeräumt – und Geduld heißt immer so viel wie: viel Zeit. Natürlich kann man diese Zeit vertun. Aber davor ist sie gegeben, damit sie genutzt, ausgeschöpft werde.

VI
Der Seher der Offenbarung hat das wohl auch so gesehen. Und er war so froh darüber, über dieses Zeithaben und das Geduldigsein Gottes, das in der Geduld Jesu sichtbar geworden ist, dass er unversehens von Jesus, dem Lamm, in ein anderes Sinnbild hinübergleitet – so, wie es jemandem passiert, der ganz und gar von etwas in Beschlag genommen ist: Was der Name "Lamm" meinte, erinnerte ihn unwillkürlich an den anderen, geläufigeren Jesus-Namen "Hirt". Und darum sagt er: Das Lamm wird die große Schar weiden und zu den Quellen mit dem Wasser des Lebens führen. – Ein Lamm, das andere weidet, ist natürlich gesehen Unsinn. Aber nicht unsinniger, als wenn Menschen sonst von den für sie wichtigsten Dingen reden. zwei, die sich lieben, versprechen sich auch ewige Treue – und werden 80, allenfalls 90 Jahre alt. Solche Widersprüche sind so etwas wie ein Ausrufezeichen als Hinweis, worauf es ankommt. So auch das Lamm, das tut, was sonst des Hirten ist. So ungewöhnlich, so einzigartig hütet Gott. Der Seher will mit seinem widersprüchlichen Bildwort sagen: So jemanden kannst du unbedingt trauen! Und das „Seht, das Lamm Gottes…“, das uns hernach vor der Heiligen Kommunion wieder gesagt werden wird, besiegelt dieses Versprechen der Geduld und Treue Gottes.