Herrin Armut

29. So B: Mk 10, 35-45 

I
Macht das die Jünger nicht menschlich – zu solchen wie Sie und mich? Und also sympathisch – weil man doch froh ist, auch die Großen einmal im Niedrigen zu ertappen und darum doch selber gar nicht so klein sein kann, wenn auch sie sich dort bewegen? Da treten Johannes und Jakobus, die Zebedäus-Söhne, an Jesus heran mit der Bitte, er möchte sie doch bevorzugen, wenn sein Reich komme. Lassen wir das Missverständnis seiner Predigt einmal beiseite, das sich dahinter verbirgt. Schauen wir stattdessen gleich auf die Reaktion der andern zehn Jünger! Deren Ärger ist ja nicht besser als der Karrierewunsch der andern zwei. Deshalb stellt Jesus alle zwölf unter ein Gericht, für das der Titel „Umwertung aller Werte“ nicht zu hoch gegriffen ist:

… wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein; und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.

II
Freilich kann man auch diesem durch Sehne und Mark schneidenden Wort trefflich den Stachel ziehen. Bis heute lautet einer der offiziellen Titel des Papstes – Jahr für Jahr wiedergegeben im Annuario Pontificio (dem päpstlichen Jahrbuch mit allen katholischen Personalia von Rang) – „Servus servorum Dei“, also „Diener der Diener Gottes“. Is that so?, fragte mich einmal einer meiner ghanaischen Kollegen, als wir auf dieses Thema zu sprechen kamen. Schwer zu sagen, mindestens. Einfacher scheint mir, auf einen Christen, eine Christin zu blicken, die dieses Evangelium von heute zum eigenen Lebensprogramm gemacht haben, um zu begreifen, was der Herr uns da ans Herz legt. Über seinen Urteilsspruch bezüglich der Jünger lässt sich nicht allgemein räsonieren, nur im Konkreten wird offenkundig, worum es geht. Ich nehme dafür den Fall von jemandem, der meist nicht so im Rampenlicht kirchlicher und anderer Aufmerksamkeit steht: die Hl. Klara.

III
Auch wer von der Hl. Klara nicht viel weiß, weiß zumindest dies: dass sie auf ganz eigenständige und einmalige Weise eine geistliche Lebensform in der Spur des Hl. Franziskus suchte – und dass in diesem Programm der Armut eine überragende Rolle zukommt. So überragend, dass Klara ähnlich wie Franziskus diese Lebenshaltung personifiziert zur „Herrin Armut“, deren Schwester sie sein möchte. Dass die Armut geistlich so wesentlich sein soll, ist nicht leicht zu verstehen. Auch die Päpste zu Klaras Zeiten haben sich äußerst schwer getan damit. Und den meisten unserer Zeitgenossen wird es kaum anders gehen. Wie um alles in der Welt kann man denn gern arm sein wollen? Ist denn nicht gerade das Gegenteil, die Überwindung der Armut und das Reich werden wollen, jeder Menschenseele von Wesen eingezeichnet?

IV
Was so quer steht zum natürlichen Hang des Menschen, verrät wie von selbst, dass es von anders woher kommt, von jenseits dessen, was unserer alltäglichen Logik entspringt. Der Grund, die Armut zu suchen und zu leben, ist darum ein durch und durch theologischer. Er kommt aus der Mitte des Geheimnisses Gottes selbst: Gott wollte aus Liebe nicht mehr Gott sein. Darum hat er sich klein gemacht und ist Mensch geworden. Hat alle Macht und Pracht abgelegt, sich seiner majestätischen Eigenschaft entleert, um seinen Geschöpfen auf Du und Du begegnen zu können, ohne sie zu schrecken. Und weil man das nur im Licht der Liebe verstehen kann, hat schon Franziskus für dieses Armwerden Gottes die Bildsprache der Liebe gebraucht und die Armut als Braut Christi bezeichnet – er wollte damit sagen: Ohne die Armut versteht man den Gott nicht, der sich offenbart, und versteht man nicht, was er sagen will. Wie auch wollte man einen Gott, dessen größte Größe darin besteht, dass er sich klein macht, verstehen, wenn das eigene Leben durch und durch der ganz anderen Logik von Gewinnen, Gelten und Sich-Groß-Machen folgt! Klara und die Ihren haben ihr ganzes Leben der Aufgabe geweiht, diesen innersten Zusammenhang in Kirche und Welt zu vergegenwärtigen und vor dem Vergessen zu bewahren.

V
Wie bitter Not dies tat, lehrt ein auch nur flüchtiger Blick auf Klaras Zeit. Im 13. Jahrhundert, an sich einer Blütezeit des Christlichen, kam es gerade dort, wo die Kirche besonders selbstbewusst auftrat, zu so genannten Ketzer-Bewegungen, also Abspaltungen von Gruppen, die die Treue zum Ursprung und zum Evangelium durch die kirchlichen Amtsträger verraten sahen. Besonders scharf erhoben die Katharer und Albigenser diesen Vorwurf. Und die erste Reaktion der obersten kirchlichen Autorität: Sie schickte Boten los, die die Abgefallenen wieder bekehren sollten. Und diese zogen übers Land und predigten den Kritikern vom Rücken ihrer Pferde herab, ein Schwert in der Hand. Unmissverständlich war, was das bedeuten sollte. Und entsprechend war auch die Wirkung auf die Adressaten: Verhärtung bis zu Mord und Totschlag.

Sensible Zeitgenossen waren entsetzt darüber und brachten ein regelrechtes Gegenprogramm in Gang, allen voran Domingo Guzman, der spätere Hl. Dominikus, und Francesco di Assisi, bald Il Poverello, der kleine Arme genannt. Beide gründeten eine radikale Reformbewegung, die so genannten Bettelorden, die – ganz entgegen gesetzt zu jenen päpstlichen Gesandten – zu Fuß zu den Leuten gingen, und bewaffnet (in Anführungszeichen) einzig mit dem Wort Gottes, den besseren Argumenten und einer von Herzen kommenden Sprache. Nicht zufällig hat der erste große Dominikanertheologe, der Hl. Albertus Magnus, sein Handbuch für die Predigerbrüder in Orientierung an den ersten Kapiteln des Matthäus-Evangeliums, also der Kindheitsgeschichte folgen lassen: Schritt für Schritt zeigt er auf, wie einer dadurch ein guter Prediger wird, dass er sein eigenes menschliches Leben und sein Tun als Verkünder der Bewegung Gottes herab bis in die Krippe und die Verborgenheit des menschlichen Lebens Jesu hinein gleichsam anschmiegt. Und nicht umsonst ist der Predigtleitfaden, den Francesco seinen Brüdern an die Hand gab, ein Gedicht und zugleich die erste Poesie in Volgare, also der frühen italienischen Volkssprache – der berühmte Sonnengesang:

Du höchster, mächtigster, guter Herr,
Dir sind die Lieder des Lobes, Ruhm
und Ehre und jeglicher Dank geweiht;
Dir nur gebühren sie, Höchster,
und keiner der Menschen ist würdig,
Dich nur zu nennen.


Gelobt seist Du, Herr,
mit allen Wesen, die Du geschaffen,
der edlen Herrin vor allem,
Schwester Sonne,
die uns den Tag heraufführt und Licht
mit ihren Strahlen, die Schöne,
spendet;
gar prächtig in mächtigem Glanze:
Dein Gleichnis ist sie, Erhabener.


Gelobt seist Du, Herr,
durch Bruder Mond und die Sterne.
Durch dich sie funkeln am
Himmelsbogen
und leuchten köstlich und schön.


Gelobt seist Du, Herr,
durch Bruder Wind
und Luft und Wolke und Wetter,
die sanft oder streng,
nach Deinem Willen,
die Wesen leiten, die durch Dich sind.


Gelobt seist Du, Herr,
durch Schwester Quelle:
Wie ist sie nütze in ihrer Demut,
wie köstlich und keusch!


Gelobt seist Du, Herr,
durch Bruder Feuer,
durch den Du zur Nacht uns leuchtest.
Schön und freundlich ist er
am wohligen Herde,
mächtig als lodernder Brand.


Gelobt seist Du, Herr,
durch unsere Schwester,
die Mutter Erde,
die gütig und stark uns trägt
und mancherlei Frucht uns bietet
mit farbigen Blumen und Matten.


Gelobt seist Du, Herr, durch die,
so vergeben um Deiner Liebe willen
und Pein und Trübsal geduldig tragen.
Selig, die's überwinden in Frieden:
Du, Höchster, wirst sie belohnen.


Gelobt seist Du, Herr,
durch unsern Bruder, den
leiblichen Tod; ihm kann
kein lebender Mensch entrinnen.
Wehe denen, die sterben
in schweren Sünden!
Selig, die er in Deinem heiligsten
Willen findet!
Denn sie versehrt nicht
der zweite Tod.


Lobet und preiset den Herrn!
Danket und dient Ihm
in großer Demut!


„In großer Demut“ – Pedester praedicare nannte man diesen Stil der Bettelmönche: zu Fuß predigen. Man könnte auch sagen: Arm predigen. Oder in der Sprache von heute gesagt: Nicht blenden und eine Show abziehen, sondern das Wort Gottes mit den immer armseligen Mitteln eines behutsamen, poetischen Sprechens zum Leuchten bringen. Einfach ist das nicht, heute genauso wenig wie zur Jesu Zeit oder des Poverello und des Dominikus. Und genau diesem Dienst der Verkündigung nicht durch das Wort, sondern durch das Leben, haben sich auch Klara und ihre Töchter geweiht.

VI
Wer das wagt, wird gut beraten sein, sich auch auf Enttäuschungen einzustellen. Manche Zeitgenossen wollen einfach geblendet sein, und manches Ohr wird der Barfuß-Predigt verschlossen bleiben. Unumgänglich ist sie trotzdem. Darum ist es tröstlich, dass es nicht selten und bis heute die sind, die nichts hermachen um sich und nichts in die Waagschale werfen können außer sich selbst, auf deren Zeugnis hin Menschen umkehren, zu einem neuen Anfang und durch ihn zu Gott und in ihm zu sich selber finden. Im letzten Jahrhundert gehörte zu ihnen etwa der Hl. Bruder Konrad von Parzham, ein Bauersknecht, der in Altötting Bruder an der Pforte des Kapuzinerklosters war und dort zahllose Menschen mit einem guten Wort getröstet und gestärkt hat, bis dahin, dass sich Verbrecher auf die Begegnung mit ihm hin dem weltlichen Richter stellten. Und vor gut einem halben Jahrhundert war es auch ein Johannes XXIII., der die Herzen berührte, weil er von sich sagen konnte: Ich habe mich der Kirche zur Verfügung gestellt ohne Furcht und ohne Ehrgeiz. Sie alle und viele andere sind Verwandte der Hl. Klara, jeder auf seine Weise und zu seiner Zeit.

VII
Übrigens funktioniert diese Logik der Armut auch umgekehrt wie ein Seismograph für das, was in einer Seele wirklich vorgeht: Wo immer jemand – auch wenn er anderes sagt – etwas für sich selber will und also ehrgeizig ist, gerade in geistlichen Dingen, in Fragen amtlicher Autorität etwa –, verrät er sich an der Furcht, die ihn behext: Furcht um vermeintliche Privilegien, Furcht vor anderen Meinungen und Kritik, manchmal bis hin zu Zügen von Verfolgungsphantasie; dann redet einer in jedem fünften Satz, den er sagt, von sich selber und von der Vollmacht, kraft deren er handelt oder zu handeln meint. Es ist aufschlussreich, daraufhin manchmal die Verlautbarungen kirchlicher Autoritätsträger abzuhören.

Doch auch heute gibt es Frauen und Männer, Laien, Ordenschristen, Priester, Bischöfe genug, die Jesu Dienstanweisungen ernst nehmen. Wenn Ihnen einer von Gott, dem Glück und dem Leben redet, dann achten Sie darauf, wie einfach er oder sie es tut. Je weniger er dafür an Mitteln braucht und von sich selber redet, ohne unpersönlich zu sprechen, desto mehr dürfen Sie ihm trauen.