Fromme Versuchung

17. So B: Joh 6,1-15

I
Es gibt Dinge, die prägen sich einem unvergesslich ein. Ich spreche nicht von Begebnissen, die uns bis ins Mark erschüttern. Auch scheinbar Belangloses kann so zuinnerst treffen, dass es uns ein ganzes Leben lang nicht mehr aus dem Sinn geht. Ich erinnere mich heute noch so gut wie damals: Es war eine Lesebuchgeschichte während meines vierten Schuljahres, vor 50 Jahren. Ein kleiner Junge hatte der alten Nachbarin die Einkaufstasche über die steilen Stufen hinaufgetragen. Sie hatte ihm 50 Pfennige dafür geschenkt. Das brachte den Buben auf eine glänzende Idee. Er setzte sich hin, nahm einen Zettel und schrieb darüber: Rechnung für meine Mutti. Und dann listete er auf: einmal einkaufen gegangen: 30 Pf; dreimal die Schwester zum Kindergarten gebracht: 60 Pf; zweimal den Mülleimer entleert: 50 Pf, einen Brief zur Post gebracht: 40 Pf – macht zusammen 1,80 DM. Den Zettel legte er der Mutter auf den Küchenschrank. – Im Grunde hatte der Bub die Sache fast schon wieder vergessen, da fand er abends auf dem Tisch in seinem Zimmer auch einen Zettel. Darauf stand: Rechnung für meinen Sohn: sechsmal Kochen: 0 Pf; zweimal waschen: 0 Pf; zweimal Strümpfe stopfen: 0 Pf; dreimal bei der Hausaufgabe helfen: 0 Pf; einmal Rad richten: 0 Pf; zum Zahnarzt begleiten: 0 Pf; macht zusammen 0,00 Pf. Unterschrift „Mutti“. Als er das las, ging der Bub wortlos in die Küche, zerriss die Rechnung, die er geschrieben hatte und umarmte seine Mutter mit Tränen in den Augen.

II
Vielleicht habe ich die Geschichte bis heute nicht mehr vergessen, weil ich aus ihr lernte, dass es Dinge gibt, die man nicht kaufen kann und nicht verkaufen und nicht mit Geld bezahlen kann – und dass diese Dinge gerade die wichtigsten sind, die es überhaupt gibt: Dinge, über die man dann auch nicht groß redet und die man nicht verzwecken und mit Berechnung tun oder lassen kann. Haargenau so wie mit diesen Dingen verhält es sich auch mit dem Glauben. Das heutige Evangelium erzählt uns das anhand der Geschichte von der Brotvermehrung.

III
Diese Geschichte von der Brotvermehrung war der frühen Kirche ungeheuer wichtig. Nicht weniger als sechsmal wird sie deshalb in den Evangelien erzählt. So bedeutsam ist sie wohl zunächst einfach dadurch geworden, dass sie eindrücklich zur Sprache bringt, dass Gott – wie Jesus ihn verkündet – kein höheres Wesen im Jenseits ist, sondern ein naher Gott. Ein Gott, der auch eingeht auf die elementaren Bedürfnisse, die uns Menschen am Leben erhalten. Ein Gott, der nicht nur bei den Grenz- und Sonderfällen des Daseins eine Rolle zu spielen beginnt, sondern immer auch zu tun hat mit dem durchschnittlichen, banalen gelebten Leben. Unsere Geschichte der Brotvermehrung bewahrt dabei die unglaubliche Erfahrung, dass das, was zum Leben da ist – das scheinbar Wenige –, dass das dennoch für alle reicht unter den Händen Jesu. Der ängstliche Urtrieb der Habsucht wird aufgehoben durch Jesu Nähe. An die Stelle der Habsucht tritt die Atmosphäre der Liebe, die teilen und schenken lässt – so sehr, dass das Wenige sich in Wirklichkeit als Überfluss erweist, wenn er der Gastgeber, also die Mitte ist. Nicht zufällg erinnern Jesu Gesten bei der Brotvermehrung an die Feier der Eucharistie.

Dass es so etwas gibt, das ist wirklich ein Wunder, etwas, worauf Menschen von selber wohl nie kämen. Mit Jesus haben Menschen genau dies erlebt. Und später durften die ersten Christinnen und Christen in der Kraft ihres Jesusvertrauens diese Erfahrung in der Gemeinde wiederholen – dass das Wenige für viele reicht. Die Apostelgeschichte legt beredt davon Zeugnis ab: Sie hatten alles gemeinsam. Und: Seht wie sie einander lieben, heißt es dort von den Christinnen und Christen. All das war nun schon so etwas wie eine wenigstens zeichenhaft anhebende Veränderung der Welt zum Guten hin. Und die Leute damals zur Zeit Jesu, die entdeckten sehr schnell, dass sich darin für sie eine ungeheure Chance auftun könnte. Denn sie hatten da einen gefunden, der ihre elementaren Bedürfnisse stillen, ihnen die alltäglichen Lasten abnehmen konnte. Wenn sie ihn an ihre Spitze stellten, hätten sie mit einem Schlag viele Sorgen los. So stellen sie sich das Heil vor: Es besteht in der Erfüllung ihrer natürlichen Lebenswünsche. Weil dieser Jesus genau das offensichtlich vermag, möchten sie ihn in ihren Dienst stellen – indem sie ihn gewaltsam zum König zu machen suchen, also über ihn verfügen.

Als dies geschieht, entzieht sich Jesus den Menschen – er, der ihnen sonst nicht nahe genug sein kann. Er muss sich entziehen weil sie ihn restlos missverstanden haben, in dem, was er tat. Er widerruft damit nicht sein – also Gottes – Engagement für das Leben, das irdisch-leibliche Leben. Weil das die eine Hälfte unseres Daseins ausmacht. ER sättigt die Menschen, weil sie ein ureigenes Recht darauf haben, ihr Leben zu erhalten. Welt und Leben zu verändern, wo Not ihnen das Gepräge gibt, das gehört wesentlich und untrennbar zu Gottes Anliegen, dem Jesus sich gänzlich verpflichtet weiß.

Aber: Er verweigert sich, wo Menschen sich begnügen, durch ihn sich ihr irdisches Leben sichern und garantieren zu lassen. ER tut das und muss das tun, weil es bei Jesus Christus um unendlich viel mehr geht als die Befriedigung unserer Lebensbedürfnisse, auch der legitimen. Denn in dem, was er tut und sagt, geht es nicht nur um alles. Es geht um das Ganze. Um das, was den Menschen erst zum Menschen macht jenseits all dessen, was ich habe, was ich bin und brauche. Weil wir uns in aller Regel auf dies beschränken in unserem Sinnen und Treiben, deshalb ist es auch gar nicht so einfach, dieses Ganze jenseits von allem zu benennen. Die Sprache unseres Glaubens versucht das mit dem Namen „Heil“ und „ewiges Leben“. Gewiss kommt dieses Heil anschaulich vor in unserem Leben – in Zeichen und Spuren. Aber: Es lässt sich nicht dinglich einfangen, nicht materialistisch reduzieren und auch nicht politisch beschreiben. Es geht dabei eben nicht um äußerliche Zustände in einer veränderten Welt, sondern um das, was uns zuallererst befähigt, alles Sichtbare, Materielle und Politische menschlich zu leben und zu bestehen. Es geht um das Geistliche unseres Glaubens, das in der Einsamkeit des Herzens mit seinem Gott geschieht. Oder noch einmal anders: Es geht um die Gegenwart Gottes in uns, die unser Leben über jede natürliche Erfüllung hinaus radikal verwandelt. Sie aber lässt sich nur im Glauben ergreifen und dann mehr staunend und stammelnd bezeugen denn begreifen. Diese Gegenwart Gottes in uns ist es, was Jesus uns vor allem bringen will durch sich. Weil wir sie vor allem anderen brauchen, um ganz die und der zu sein, die wir von Gott her sein können.

IV
Mit seiner Geschichte von der Brotvermehrung will Johannes uns genau dies so tief wie irgend möglich einprägen: dass Christsein sich niemals in einem Programm tätiger Menschlichkeit erschöpft, obwohl die Menschlichkeit immer den Ernst bezeugt, mit dem ein Christ wirklich ein Christ ist. Christsein heißt stattdessen: ein Leben von Gott her und auf Gott hin entwerfen, so wie Jesus es getan hat. Heißt: mein Leben vom Standpunkt Gottes aus anschauen, verstehen und deuten. Denn nur so nehme ich das Ganze meines Daseins wahr und bin nicht bloß Täter oder Opfer der Geschehnisse. Nur dieses Ganze ist das Wahre – das, was jeder vom ersten Atemzug an rastlos sucht.

V
Das Anliegen des Johannes, das Geistliche nicht zu überblenden, dieses Anliegen ist brennend geblieben bis heute. Am brennendsten übrigens dort, wo Sie es vielleicht gar nicht vermuten möchten. Nämlich nicht bei den Kirchen der armen Völker und den Befreiungstheologen, denen bestimmte Kreise endlos vorwerfen, sie würden das Geistliche rechts liegen lassen und das Evangelium als Vehikel politischer Veränderung missbrauchen. Aber es ist ja auch kein Kunststück, am überreich gedeckten Tisch sitzend die Hungernden aufzufordern, sich nicht so viel ums Essen zu kümmern. Die Gefahr, das Geistliche zu verlieren, droht stattdessen niemandem stärker als unseren eigenen Kirchen der Alten Welt. Denn selbst unter den sich ihrer Kirche zugehörig fühlenden Katholikinnen und Katholiken schätzt eine überwältigende Mehrheit die Kirche als Trägerin sozialer Arbeit und als moralische Warnerin in öffentlichen Belangen. Was ihnen die Kirche dagegen im Auftrag Jesu von Gott zu sagen hat: wer er ist; was das für das Dasein eines jeden Einzelnen an Unerhörtem nach sich zieht; was Leben, Heil und Unheil im Letzten und eigentlich für uns bedeuten – dem bleiben sie seltsam gleichgültig gegenüber, obwohl das alles das ihr eigenes Menschsein-Können betrifft. In dem Maß aber, in dem das Geistliche an den Rand gedrängt wird, im selben Maß gerinnt das Christsein zu einem Netzwerk moralischer Ansprüche, die man erfüllen muss. Die Erfahrung, damit restlos überfordert zu sein, lässt freilich nicht lange auf sich warten. Und dann beginnt das nur ein Ideal zu sein, das sowieso keine und keiner erreichen kann. Und das ist die eleganteste Art, das Unerhörte der frohen Botschaft sich vom Leibe zu halten und unter dem Mantel der guten Tat noch im alten Stil weiterzumachen – uns selber allein verpflichtet und verdankt, als ob Gott nicht wäre. Es gibt eine letzte Gottlosigkeit mitten im kirchlichen Tun der Gemeinde. Davor will uns das heutige Evangelium bewahren.

VI
Es gibt uns deshalb auch einen Wink, was uns davor zu schützen vermag: Er zog sich wieder auf den Berg zurück – er allein. So schließt Johannes seine Erzählung. Der Berg – das ist in der Bildersprache der Bibel der Ort der besonderen Nähe Gottes und für Jesus vor allem: der Ort des Gebetes. In der Einsamkeit des Schweigens tritt er ins Gespräch mit dem Vater, um seinem Tun Richtung zu geben. Dazu unterbricht er sein aktives Tun, sein Heilen und Sättigen, obwohl es so nötig ist. Er unterbricht es, weil er es nur so richtig tun kann, wenn er sich immer neu ausrichtet am Vater. Diese Unterbrechung brauchen wir als Christinnen und Christen und als Kirche – um unseres Christseins und Kircheseins willen. Unterbrechen können wir am radikalsten den Gang der Dinge und den Lauf unserer Tagewerke, indem wir tun, was Jesus tat auf dem Berg: indem wir beten. Im Gebet, vor allem in der Anbetung, wird das Gehäuse der Welt und des Lebens aufgebrochen und Gottes Wirklichkeit wirklich eingelassen. Denn Beten ist zugleich der radikalste Ernstfall unseres Glaubens. Wenn ich nämlich zu Gott redete und nicht glaubte, wäre ich ein Narr, der skurrile Selbstgespräche führt.

Selbst das demütige Stoßgebet in der Not des Glaubens – Herr, hilf meinem Unglauben – selbst es noch zieht Gott in mein Leben hinein. Nur im Gebet wird uns geschenkt, was mehr ist als alles: das Ganze – Gott selber.