Vom Ort und Wort der Freiheit - 40jähriges Jubiläum der Dominikanergemeinde 2014

Kirchweihe  [systematisch]

I
Seit genau 40 Jahren versammelt sich in an diesem Ort an Sonn- und Feiertagen eine Gemeinde zur Feier der Eucharistie. Nach ihrer Zerstörung im II. Weltkrieg wurde die Kirche wieder aufgebaut, vom Land Nordrhein-Westfalen der Stadt Münster übergeben, von dieser an die Universität vermietet und dann der Katholisch-Theologischen Fakultät als Ort für ihre liturgischen Feiern anvertraut. Vor gut acht Jahren zerbrach dieses Agreement. Das Rektorat kündigte den Mietvertrag aus Angst vor etwaig auf es zukommende Renovierungskosten – und auch das allgemeine Klima hatte sich geändert: Warum sollten Hochschule und Stadt für eine Kirche der Katholikinnen und Katholiken aufkommen, wenn nicht einmal Bischof und Bistum Interesse an dem zeigen, was hier geschah und geschieht? Dass zwar nicht die baulichen, wohl aber die geistlichen Wurzeln unserer Kirche bis zur hiesigen Ankunft des Dominikanerordens im Jahr 1346 zurückreichen, scheint keinen mehr zu interessieren. Kulturelles Gedächtnis hat eben schlechte Karten in Konkurrenz mit Renditehoffnungen, die sich an eine Profanierung des Gotteshauses knüpfen. So befinden sich die Dominikanerkirche und die katholische Universitätsgemeinde seither in einer Art Schwebezustand, prekär getragen von einem spinnenwebfeinen Netz von zahllosen Gesprächen und informellen Vereinbarungen – unterwegs in eine offene Zukunft.

II
Und dennoch: 40 Jahre gibt es diese Gemeinde schon. 40 ist eine Zahl mit biblischem Klang, einem guten noch dazu: 40 Tage dauert gemäß Buch Genesis die Sintflut, dann schenkt Gott einen neuen Anfang; 40 Jahre irrt das Volk Israel durch die Wüste – aber dann kommt es ins gelobte Land; 40 Tage weilt Mose auf dem Sinai – und empfängt die lebensschützenden Gebote; nach 40 Tagen der Depression darf der Prophet Elija auf dem Horeb Gott begegnen; 40 Tage weilt Jesus nach seiner Taufe am Jordan in der Wüste, den Versuchungen ausgesetzt – um dann seine öffentliche Sendung in Angriff zu nehmen. Immer führt dieses „40“ auf eine Veränderung zum Guten hin. Dürfen wir hoffen?

III
Jetzt könnte freilich jemand fragen: Warum machen Sie, die Glieder der Gemeinde, warum macht Ihr, die Zelebranten und Prediger aus der Katholisch-Theologischen Fakultät so viel Aufhebens um diese Kirche und das, was hier geschieht? Könnte das nicht auch anderswo genauso gut oder zumindest ähnlich passieren? Natürlich wäre das möglich – und dennoch hat es mit der DoKi, wie sie im Volksmund heißt, etwas Eigenes auf sich.

IV
Wenn ich versuche, dieses Besondere diesseits von Klischees und jenseits vom frommen Pathos ein wenig zu verdeutlichen, fällt mir eine autobiographische Episode eines zeitgenössischen Poeten ein: Seit Jahren macht Friedrich Christian Delius regelmäßig mit kleinen, aber höchst feinen Romanen, Erzählungen und Novellen von sich reden. Delius stammt aus einer notablen protestantischen Theologen-Dynastie. Auch sein Vater war evangelischer Pfarrer. Delius erlebte ihn als Prediger von einer derartigen Wortgewalt, dass es ihm selbst als Kind buchstäblich die Sprache verschlug, dass er nicht mehr selber zu sprechen wagte und deshalb ein Stotterer wurde. Bis etwas ganz Seltsames passierte: 1954 verfolgte der kleine Delius am Radio das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft Deutschland gegen Ungarn. Und da hörte er Worte, die er nur aus den Predigten seines Vaters kannte, auf einmal aus dem Mund des Sportreporters:

Ich hatte noch nie eine Fußballreportage gehört, immer öfter fielen Wörter, die nichts mit Fußball zu tun hatten … Wunder!Gott sei Dank!gehofft, gebetet! … Und ich staunte, dass der Reporter das Wort glauben mit mehr Inbrunst als ein Pfarrer oder Religionslehrer aussprechen konnte.

So Delius wörtlich in der Novelle Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde. Und dann kommt der Vater ins Zimmer, fragt den Sohn, wie das Spiel stehe, und der antwortet ohne Zögern: Zwei zu zwei, unentschieden – und merkt erst im Nachhinein, dass er zum ersten Mal einen Satz ohne Stottern herausgebracht hat. Die säkulare Fußballsprache hatte ihm die Lähmung gelöst, in die die väterliche Kirchensprache seine Zunge gesperrt hatte.*

V
Irgendwie ein bisschen ähnlich empfinde ich das, was wir Predigenden hier in der Dominikanerkirche versuchen. Es ist ja keine Übertreibung, wenn ich behaupte, dass viele Christinnen und Christen in Sachen des Glaubens mehr oder weniger sprachlos geworden sind, weil sie sich von der Wucht der amtlichen Kirchensprache überrollt und eingeschüchtert fühlen – wenn sie ihr denn überhaupt noch Gehör schenken. Am allermeisten geschieht das ja ausgerechnet dort, wo es um die großen existenziellen Fragen geht: um Liebe und Lebensbeginn, um Sexualitäten, Partnerschaften, Gelingen und Scheitern und schließlich das Lebensende. Das konnten wir ja soeben in den letzten beiden Wochen live im Blick auf die außerordentliche Bischofssynode in Rom erleben: Da startet Papst Franziskus offenkundig in Wort und Geste den Versuch, die in den letzten drei Pontifikaten gegossene Betondecke in der Moraltheologie vorsichtig zu lockern, um den Vielfall menschlicher Geschicke wieder ein wenig mehr mit dem Evangelium von der Barmherzigkeit zusammenzuführen. Und schon springt die Reaktion – angeführt, natürlich, von Gerhard Kardinal Müller – mit Widerworten in Buchumfang aus der Deckung. Sauertöpfische Nörgler wie der amerikanische Kardinal Raymond Leo Burke, der sich bei der Messe gern die fünf Meter lange Cappa magna, die Kardinalschleppe, nachtragen lässt, die das letzte Konzil eigentlich abgeschafft hat, oder der abgehalfterte deutsche Kardinal Brandmüller zeihen den einstigen Münsteraner Professor Walter Kardinal Kasper, den Zuarbeiter des Papstes in diesen Fragen, der Unverschämtheit und Häresie, schlagen damit den Sack und meinen den Esel. Ihnen will einfach nicht in den Kopf, dass Kirche und kirchliches Amt den Menschen, die auf sie hören, etwas zu sagen hat – das natürlich! –, sondern dass umgekehrt Kirche und Amt aus dem gelebten Leben von Menschen mit seinen zahllosen Wegen, Umwegen und Abwegen auch etwas zu lernen haben, wenn sich die schon von Papst Paul VI. als Tragödie beklagte Kluft zwischen Kultur und Evangelium schließen, wenigstens verkleinern soll. Und außer Frage steht, dass es sich diejenigen, die sich darum bemühen, nicht einfach machen dabei, wahrlich nicht, und am allerwenigsten Papst Franziskus selbst. Denn er ist ersichtlich ein Mann der klaren Prinzipien, aber er weiß auch aus seiner seelsorglichen Erfahrung und seiner ignatianischen geistlichen Prägung mit ihrem Respekt vor der Würde des Individuums, dass man die Prinzipien so hoch halten muss, dass man im Notfall auch einmal – demütig gebeugt – unter ihnen hindurchkommen können muss, wie der einstige Bundesinnenminister Hermann Höcherl zu formulieren pflegte.

VI
Genau in diesen Dienst der Lockerung suchen wir, die wir hier in der Dominikanerkirche predigen, unser Wort der Verkündigung zu stellen: Wir möchten – meist geprägt von unseren theologischen Disziplinen der Kirchengeschichte, der Exegese, der Fundamentaltheologie, der Pastoraltheologie und der Philosophie – durch Gedanken, Geschichte und Gleichnisse, die von außen, von weit her kommen, die Sprachsklerose der eingespurten kirchlichen und amtlichen Sprachspiele aufbrechen, auf dass Sie selbst sich in dem wiederfinden und ausdrücken können, was wir ihnen vom Wort der Schrift und dem Schatz der Tradition her zusagen dürfen – gerade so wie der kleine Bub Friedrich Christian Delius durch die überraschende Fußballsprache des Reporters wieder zum eigenen Sprechen fand.

Ich könnte das Ganze auch sehr knapp und kurz zusammenfassen, indem ich sage: Es geht beim Verkündigungsdienst in der Dominikanerkirche um ein Stück christlicher Freiheit und christlichen Freimuts, in denen auch einmal Dinge gesagt werden dürfen, die nicht so genehm und vielleicht sogar schmerzlich sind. Unserer Fakultät mit ihrer Geschichte steht es im Übrigen gut an, einen solchen Ort des Wortes und des heiligen Zeichens zu hüten und zu pflegen – wenn man uns denn weiterhin lässt. Manchmal beschleicht mich der Verdacht, das manifeste Desinteresse des Bistums an der Dominikanerkirche habe nicht zuletzt mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe im Zeichen von Freiheit und Freimut zu tun – und nicht nur mit äußerlichen, auf überzählige Kirchenbauten bezogenen Motiven.

VII
Wie auch immer: Solange Sie hierher kommen und solange wir seitens der Fakultät genügend Zelebranten und Prediger aufbieten können, wird es die Dominikanergemeinde geben. Am liebsten natürlich hier an diesem Ort. Am liebsten weitere 40 Jahre. Und wenn nicht, dann begeben wir uns eben auf eine Exodus-Wanderung, auf dass das Evangelium der Freiheit nicht verstumme. Aber noch und jetzt sind wir hier. Und dafür danken wir heute miteinander.

* Der Würzburger Pastoraltheologe und Homiletiker Erich Garhammer hat Delius‘ Novelle ausführlich gewürdigt in: „Das schöne Skandalon einer heiligen Polyphonie“. Die Rezeption der Bibel in der Gegenwartsliteratur. In: HerderKorrespondenz 68 (2014). 480–484. Hier 480–481.