Eine Dimension mehr

2. So Weih C: Joh 1,1-5. 9-14 

I

Wenn Europäer den Jemen besuchen, haben sie manchmal das Gefühl, in ein Land zu kommen, in dem die Zeit stehen geblieben ist. Neulich erzählte ein Journalist, der längere Zeit dort gewesen war, folgendes Erlebnis: Auf den Treppen vor dem Postamt in der Hauptstadt sitzen Dutzende von Männern, die ihre Dienste als Leser oder Schreiber von Briefen anbieten – die Mehrheit der Leute im Jemen kann beides nicht. Einen dieser Profi-Leser befragte der Journalist über seine Tätigkeit. Lachend erzählte der ihm dabei, was ihm ein paar Tage zuvor passiert war: Es kam ein Mann, der einen Brief in einer ganz persönlichen, vertraulichen Angelegenheit erhalten hatte. Er übergab dem Leser den Brief zum Vorlesen, befahl ihm aber, sich dabei die Ohren zuzuhalten, damit er von der vertraulichen Sache nichts mitbekomme.


II
Der Mann, des Schreibens und Lesens unkundig, wusste zwar nichts davon, dass man Worte verstehen kann, die man nur gelesen, nicht aber auch gehört hat. Aber das ist genau besehen gar nicht zum Lachen. Denn er wusste sehr wohl, dass Lesen und Hören nicht Dasselbe sind, sondern im Hören viele Dinge mitgeteilt werden, die beim bloßen Lesen verborgen bleiben: Das Denken dieses sogenannten Analphabeten hatte eine Dimension mehr als das unsere gewöhnlich hat. Leute beim Rundfunk z.B. müssen das neu und mühevoll erlernen, damit sie eine Sprache sprechen, die die Hörerinnen und Hörer verstehen. Wer nicht lesen und schreiben kann, wird schnell als primitiv abgestempelt. Wer von uns wollte auch behaupten, dass so jemandes Denken reicher sei als unser eigenes? Und doch ist es so.


III
Mir scheint, mit dem Glauben verhält es sich genauso. Der gläubige Christ lebt in der gleichen Welt wie der, der nichts glaubt. Er sieht und hört das Gleiche und er tut das Gleiche. Und dennoch hat für ihn alles eine Dimension mehr: Was er sieht und hört, redet ihm von Gott. Was er tut, zählt nicht nur für sich, sondern auch vor Gott. Manche tun das als altmodisch, als primitiv ab. Ihre Sache. Die Gläubigen glauben, dass sie mehr wissen vom Leben und von der Welt.


Diese „Dimension mehr“ haben oder nicht haben, darüber lässt sich nicht einfach verfügen. Einer hat sie oder hat sie nicht. Welt und Leben stecken voller Einladung zum Glauben. Annehmen muss sie jede und jeder für sich – oder nicht. Die Ablehnung ist durchaus der Normalfall. Das müssen wir Christen heute vielleicht auch erst wieder lernen. Die Christen der ersten Jahrhunderte wussten das.


Als der Evangelist Johannes sein Evangelium niederschrieb, da war ihm das so wichtig, dass er gleich in den ersten Zeilen davon sprach, dort, wo er mit dichterischen Worten sagt, wie Gott in Jesus zur Welt kommt. Dabei nennt er Jesus „Wort“. Ein Wort spricht aus, was einer zuinnerst denkt, was er ist. Jesus ist Gottes Wort schlechthin. In ihm wird vernehmbar, wer und wie Gott ist. Was da vernehmbar wird, nennt Johannes „Leben“ und „Licht“. Das meint: In Jesu Tun und Sein wird offenkundig, wie Menschsein geht. Und wie er lebt, das klärt auf, was es mit uns auf sich hat. Schon an diesem Punkt aber fügt Johannes an:

.... das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst.

Das heißt: Menschen wollen nicht wissen, wer und was sie sind. Alles, was wir in der Sprache des Glaubens Sünde nennen, alles Unmenschliche, Gemeine, Böse, hat einzig darin seine Wurzeln: Wir verweigern dem die Anerkennung, was wir sind: Wir gebärden uns allmächtig – und sind in Wahrheit ein Staubkorn am Rand eines Universums. Wir halten uns für unvergänglich – und bleiben in Wahrheit nur ein paar Atemzüge lang.


Gott hat sich für uns zum Staubkorn, zum vergänglichen Menschen gemacht, um uns nahe zu bringen, dass das alles zu uns gehört. Mensch ist der Mensch erst, wenn er weiß, wie randständig, wie überflüssig, wie vergänglich er ist. Erst dadurch wird das Leben bedeutsam. Nur das, was es gibt, obwohl es es absolut nicht geben müsste, kann kostbar sein. Nur das, was jetzt ist, vorher aber nicht war und nachher nie mehr wieder sein wird, zählt etwas im Jetzt. Das Leben eines jeden von uns ist einmalig. Das bestätigt Gott, indem er selber einer von uns wird.


IV
Nur wer sich das vergegenwärtigt, kann begreifen, wie dramatisch Johannes spricht, wenn er sagt: Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Jeder Mensch ist auf seine Weise so einmalig, wie Gott auf seine Weise einmalig ist. Im Normalfall wird das bestritten, sagt das Evangelium. Menschen können sich selber um ihr Bestes bringen. Es geht um die Dimension mehr. Wer sich in ihr bewegt, weiß sich mitsamt seiner Vergänglichkeit, nein: weiß sich wegen seiner Vergänglichkeit als Gotteskind. In aller Regel denken wir zu klein von uns. 


V
Aber das alles zusammen ist nur die eine Seite. Eine zweite kommt hinzu: Gott offenbart in dem, was Jesus sagt oder tut, nicht bloß unser Ureigenes. Zugleich offenbart er uns auch das Tiefste seiner selbst in dem, was Jesus noch vor all seinem Tun selber ist: nämlich Mensch. Denn: dass Gott sich im Menschsein eines Menschen offenbart, das ist seiner Offenbarung nicht äußerlich. Es ist vielmehr der Inhalt dieser Botschaft schlechthin, die Mitte seiner Selbstmitteilung. Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, sagt Johannes dafür. Das ist der Gipfelpunkt seines ganzen Evangeliums. Haben wir je zu ahnen begonnen, was damit über Gott gesagt wird? Das Wort ist Fleisch geworden – der immer schon auf uns hin geöffnete Gott wird Fleisch, das heißt in der Sprache der Heiligen Schrift: Er selbst übernimmt unsere Daseinsart, unsere Endlichkeit, unsere Ohnmacht, unsere Zerbrechlichkeit. Er macht sich verletzlich. Er tut dies nicht für sich selbst, sondern um des gänzlich Anderen, um des Menschen willen. So sehr sucht er uns, dass er dafür nichts scheut, nicht einmal den Verzicht auf die eigene Wesensart. Im arroganten Versuch, das eigene Leben sich selber zu garantieren, hatten die Menschen Gott verloren. Er aber wartet jetzt nicht schmollend, bis die Menschen wieder zu Kreuze kriechen. Stattdessen eilt er ihnen entgegen; er will uns von der Last dieses Fehlschlags befreien und dem Leben wieder aufhelfen. Und um das zu tun, geht er selber ein in unsere Lebensweise, wird einer von uns. Er will sich finden lassen von uns in dem, was uns am nächsten ist, am vertrautesten: unsere eigene Wesensart als Menschen. In ihr kann er uns auch so begegnen, dass wir keine Angst mehr vor ihm haben, nicht einmal jene, die ihrer Sünde wegen das Gericht erwartete. Deshalb wird er Fleisch, ohnmächtig, ein kleines Kind.


VI
Was Johannes da mit den Augen des Glaubens an der Gestalt Jesu von Gott sieht, das konnte er selber nur noch „Herrlichkeit“ nennen. Was er da schauen durfte, überwältigt ihn: Wir haben seine Herrlichkeit gesehen, ruft er aus, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. Gott verausgabt sich für uns bis hin zum schieren Zerbrechen sämtlicher unserer Gottesbilder. Nicht triumphalistisches Machtgebaren und Glimmer also machen Gottes Herrlichkeit aus, sondern das, was uns im Kind von Betlehem aufleuchtet: Gnade und Wahrheit. Das sind die ganze Bibel hindurch zwei besondere Worte. Denn Gnade heißt soviel wie Liebenswürdigkeit, Zuneigung, Bezauberung. Und Wahrheit meint das, worauf ich mich ganz und gar verlassen kann, meint also soviel wie: Treue. Dass Gott uns für so liebenswert hält, dass er uns unbeschreibliche Zuneigung schenkt, die uns, die Beschenkten, eigentlich nur noch bezaubern, ja hinreißen kann – und dass er durch alles hindurch sogar noch um den Preis seiner selbst zu uns treu steht und uns niemals fallen lässt, – das geht dem gläubigen Herzen auf, wenn es immer wieder das Kind in der Krippe anschaut. So ist unser Gott.


Wer dieses Evangelium für wahr nehmen kann, die oder der wird von selbst anfangen anzubeten. Wer glaubt, dessen Herz drängt ihn oder sie niederzufallen vor Gott. Und gerade in der Bewegung des Niederkniens wird einer, wird eine Gott noch näher kommen, weil Gott selber ja nicht weit oben steht, sondern unten auf uns wartet, klein, als Kind. So unendlich weit geht er uns entgegen. So behutsam ist er. Das ist unser Gott. Und ich wage es zu sagen: Es ist für einen Christen, eine Christin nicht schwer, Gott zu lieben. Wir brauchen ihn zuvor nur geduldig anschauen mit den Augen des Herzens. Dazu sind wir jetzt hier versammelt.