Maß nehmen an der Apostelgeschichte

Collegium Borromaeum SoSe 2011: Apg 15, 22-31

I
In den Tagen zwischen Ostern und Pfingsten lesen wir die Apostelgeschichte. Weil sie so etwas ist, wie ein Resonanzboden für das, was Ostern mit den Jüngerinnen und Jüngern Jesu macht. Natürlich ist dabei auch Vieles geschönt, entschärft, harmonisiert worden. Ein bisschen Hofberichterstattung halt, Window dressing sagt man heute dafür, also Schaufensterdekor, um einen kleinen Werbeblock für die neue Sekte da zu schalten. Aber trotz dieser wohl unumgänglichen Zugeständnisse an mediale Zwänge blitzen da in der Apostelgeschichte an nicht wenigen Stellen Sachen auf, die einem heute eigentlich den Atem stocken lassen müssten. Zwei davon möchte ich aufgreifen, eine kurz zur Erinnerung, die andere, weil sie in der heutigen Lesung steht.

II
Beide Fälle verbindet etwas, das uns heute hier im spätmodernen Europa auch nur noch strange anmuten kann: Das Hauptproblem der jungen Kirche war – ihr Missionserfolg. Schon am letzten Sonntag war das das Thema in der ersten Lesung: In der jungen Kirche gab es – völlig unerwartet – sehr schnell nicht nur Judenchristen, sondern auch Hellenisten, also Menschen, die mit oder ohne jüdischen Hintergrund aus dem griechischen Kulturraum kamen. Ihre Zahl war beträchtlich. Und irgendwann hatten sie das Gefühl, dass ein Teil ihrer Armen, nämlich ihre Witwen, bei der Fürsorge seitens der Gemeinde benachteiligt würden. Die Apostel nahmen sich das zu Herzen, dieses erste Kirchenvolksbegehren der Geschichte, machten nicht einfach bekümmerte Gesichter und gründeten eine Kommission, um die Kritik der Hellenisten zu neutralisieren, sondern – sie schufen mit allem Drum und Dran ein neues kirchliches Amt: den Diakonat, wie es ihn bis heute gibt.

Wenn damals schon die Bedürftigkeit einer kleinen Gruppe der Gemeinde Grund genug sein konnte, ein neues kirchliches Amt zu schaffen – wie ist das dann heute, sagen wir, mit der unbestreitbaren Tatsache, dass in unserer Kultur die durch nichts mehr rückgängig zu machende Gleichrangigkeit und Gleichberechtigung von Mann und Frau entdeckt wurde. Müsste dem nicht auch das Bild der Ämter in der Kirche entsprechen? Oder wenn man an die vielfältige Suchbewegung von Menschen denkt, die sich danach sehnen, Grund und Ziel für ihr Leben zu finden – und die dabei so oft nicht mehr auf Priester stoßen, die ihnen zuhören oder sich Zeit nehmen, Rede und Antwort zu stehen über den christlichen Glauben, sondern auf gehetzte Manager und Sakramentenverteiler, weil ihrer immer weniger werden? Die Apostel, kämen sie zu uns, sie könnten sich nur noch wundern, warum wir ein gefährliches Problem aufkommen lassen, indem wir uns weigern die Mittel anzuwenden, die wir zu seiner Lösung hätten. Denn warum um alles in der Welt sollten nicht auch bewährte Familienväter und –mütter fähig sein, einer Gemeinde vorzustehen, wenn sie die geistliche Befähigung dazu verspüren und erkennen lassen? Oder ist die sonntägliche Eucharistie zahlloser Gemeinden heute weniger wichtig als das tägliche Brot der Witwen von Jerusalem damals? Und das sind längst nicht alle Fragen, die sich so oder ähnlich stellen ließen.

III
Eine dieser Fragen – und wieder eine fundamentale – begegnet uns auch in der Lesung von heute. Es handelt sich um das so genannte „Aposteldekret“, also die faktisch erste kirchenamtliche Verlautbarung. Und deren Inhalt ist spektakulär. Denn es besagt: Die Heiden, die Christinnen und Christen werden wollen, müssen sich dazu nicht dem jüdischen Gesetzeskanon unterwerfen. Es reicht die Einhaltung eines Minimalbestands von Regeln, damit die Einheit der Kirche über alle Differenzen hinweg gewahrt und erkennbar bleibt. Das ist Inkulturation pur. Um es an einem Beispiel konkret zu machen, das Sie und mich direkt betrifft: Die etwaige Freigabe der zölibatären Lebensform, die bekanntlich nur die westlich-lateinische Tradition kennt, nicht aber die ostkirchlichen, mit Rom unierten Kirchen, und die permanent durch die Konversion evangelischer und anglikanischer Kleriker konterkariert wird, wäre so etwas wie die sprichwörtlichen peanuts im Vergleich zu dem, was sich die Apostel damals getrauten, um dem Wort des Evangeliums den Weg zu bahnen. Anders gesagt: Die Treue der Kirche zu ihrem Grund und Ursprung verwirklicht sich nicht im Zementieren dessen, was einmal gewesen ist, sondern in einer unablässigen Kette von mutigen Innovationen.

IV
Die Brüder aus dem Heidentum, so hörten wir am Ende der Lesung, freuten sich über diese Ermunterung. So könnte es also auch gehen. Mich bedrückt sehr, dass derzeit offenkundig einige, die – wie damals in apostolischer Zeit – dazu gar keinen Auftrag haben, mit ihrem Gerede, dass alles immer so bleiben müsse, wie es ist, als ob nicht auch das Bestehende geworden sei, Menschen bis tief in die Mitte der Gemeinden beunruhigen. Und dass sie Gehversuche nach vorne oder auch nur kritische Einwände sofort als Glaubensabfall und mangelnde Kirchlichkeit etc. etc. denunzieren – und dafür auch noch das Ohr von Amtsträgern finden. Beiden möchte ich gern in Erinnerung rufen, was Jesus seine Jünger bei der stürmischen Überfahrt über den See Gennesaret mahnend fragte (Mk 4,40): Warum seid ihr so feige (wörtlich übersetzt)? Habt ihr noch immer keinen Glauben? Manchmal will mir scheinen, der Herr habe mit der Kirche von heute noch mehr Plage als mit dem ängstlichen Hühnerhaufen des Zwölferkreises damals. Wäre es nicht ein Wunderbares, wenn Sie, die Verantwortlichen der Kirche von morgen, sich jetzt schon vornähmen, es dann, wenn Sie einmal in Amt und Würden sind als Pfarrer, Professor, Regens oder Bischof, diesem Herrn ein klein wenig leichter zu machen? Sie müssten dafür nur Maß nehmen an der Apostelgeschichte. Zu viel verlangt scheint mir das nicht.