Was nottut in bitterer Zeit

Actus Academicus Juli 2010: Spr 2, 1-9   +   Mt 23, 8-12

I
Heute ist Erntetag: Junge Frauen und Männer, die an unserer Fakultät studiert, gelernt und geforscht haben, sind ans Ziel gelangt. Heute erhalten Sie ihre Diplome, Abschlusszeugnisse und Urkunden, die bestätigen: Ab jetzt sind Sie studierte, promovierte oder habilitierte Theologinnen und Theologen. Sie sind froh, Ihre Familien, Freunde, Partnerinnen und Partner freuen sich mit. Und wir, die Lehrenden der Fakultät tun das auch, manche gewiss auch mit ein wenig Stolz auf das, was sie zu diesem Erfolg beitragen konnten und dass Jüngere etwas von dem weiterführen, was ihnen selber wichtig war und ist. Ich gratuliere Ihnen.

II
Jetzt gehen Sie mit dem, was Sie gelernt und sich erworben haben, mit Ihren Kompetenzen und dem Schatz der Bildung, die ihren Ort nicht im Kopf, sondern in der Seele hat, überall dorthin, wo Sie nun ihre Berufe ausüben werden: Lehrend, in der Seelsorge, beratend oder begleitend, vielleicht in der Forschung. Solche Anfänge auf den eigenen Beinen sind in sich schon ein kleines Abenteuer. Aber für Sie kommt noch etwas hinzu. Sie werden Mut brauchen. Viel Mut. Und lange. Sie haben es sich nicht ausgesucht, aber Sie nehmen ihren Beruf als Theologinnen und Theologen auf in einer Situation, die man längst als die größte Krise der Kirche unseres Landes seit der Reformation bezeichnen muss. Seit vergangenem Februar kamen – ausgelöst durch einen mutigen Jesuiten – hunderte von Fällen sexuellen Missbrauchs und von Misshandlungen durch Priester und Erzieher in katholischen Einrichtungen ans Tageslicht. An anderen religiös geprägten wie säkularen gesellschaftlichen Orten geschah zwar das Gleiche, meist in weit größerem Umfang als innerkatholisch. Aber auf die katholische Kirche kamen diese Verfehlungen mit Wucht eines Bumerangs zurück, zum einen, weil sie seit je beansprucht und mehr als andere beansprucht, in Fragen von gut und böse, von richtig und falsch ein gewichtiges Wort mitzureden, und zum anderen, weil nicht wenige auf hohen Verantwortungsebenen der Kirchenleitung katastrophal dilettierten auf eine Weise, die nur als Vertuschungsstrategie zur Rufwahrung der Kirche verstanden werden konnte. Die Vorgänge haben – wir dürfen uns nichts vormachen – in Sachen Glaubwürdigkeit, Ansehen und Anziehungskraft der Kirche verbrannte Erde hinterlassen in einem Ausmaß, das auf Jahrzehnte wie eine Tonnenlast auf unserer Verkündigung und unserem seelsorgerlichen und erzieherischen Handeln liegen wird. Eine solche Hypothek hatten nicht einmal die Theologengenerationen am Ende des ersten und nach dem zweiten Weltkrieg zu tragen. Für Sie, für uns jetzt wird sie lange, schmerzlich lange die Mühe und Last des Alltags mehren – und dort, wo wir in den Umkreis eines Opfers treten manchmal bis zum Rande des Erträglichen.

III
Was bleibt da? Eine geradezu verstörende Antwort habe ich bei einem Märtyrer und Mystiker des 20. Jahrhunderts gefunden. Am 28. Juli 1944 wird er in München von der Gestapo verhaftet, am 6. August ins Gestapogefängnis, Lehrter Str. 3 in Berlin überführt, verhört, gefoltert, geschlagen. Ende September wird er in die Haftanstalt Berlin Tegel verlegt, Tag und Nacht trägt er Handschellen. Am 9./10. Januar 1945 wird ihm der Prozess gemacht. Am 21. Januar kommt er nach Plötzensee, wo er am 2. Februar am Fleischerhaken aufgehängt wird, weil er Christ und Jesuit war, der den Naziumtrieben nicht schweigend zusah. Der Plötzenseer Totentanz des großen Grafikers Alfred Hrdlicka hat das erschütternd ins Bild gesetzt. Ich spreche von Pater Alfred Delp. Noch wenige Wochen vor seiner Hinrichtung hatte Delp Kopf und Seele dafür frei, nachgerade Prophetisches über die Krise und das Versagen der Kirche damals in Worte zu fassen. Vor 66 Jahren niedergeschrieben, könnten sie heute gesprochen sein:
"Wir haben durch unsere Existenz den Menschen das Vertrauen zu uns genommen. 2000 Jahre Geschichte sind nicht nur Segen und Empfehlungen, sondern auch Last und schwere Hemmung. Und gerade in den letzten Zeiten hat ein müde gewordener Mensch in der Kirche auch nur den müde gewordenen Menschen gefunden. Der dann noch die Unehrlichkeit beging, seine Müdigkeit hinter frommen Worten und Gebärden zu tarnen.
Von zwei Sachverhalten wird es abhängen, ob die Kirche noch einmal einen Weg zu diesen Menschen finden wird.
Der eine Sachverhalt meint die Rückkehr der Kirchen in die ‚Diakonie’: in den Dienst der Menschheit. Und zwar in einen Dienst, den die Not der Menschheit bestimmt, nicht unser Geschmack oder das Consuetudinarium einer noch so bewährten kirchlichen Gemeinschaft. ‚Der Menschensohn’ ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen’ (Mk 10,45). Man muss nur die verschiedenen Realitäten kirchlicher Existenz einmal unter dieses Gesetz rufen und an dieser Aussage messen und man weiß eigentlich genug. Es wird kein Mensch an die Botschaft vom Heil und vom Heiland glauben, solange wir uns nicht blutig geschunden haben im Dienste des physisch, psychisch, sozial, wirtschaftlich, sittlich oder sonst wie kranken Menschen. Der Mensch heute ist krank […]

Rückkehr in die ‚Diakonie’ habe ich gesagt. Damit meine ich das Sich-Gesellen zum Menschen in allen seinen Situationen mit der Absicht, sie ihm meistern zu helfen, ohne anschließend irgendwo eine Spalte und Sparte auszufüllen. Damit meine ich das Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm zu sein genau und gerade dann, wenn ihn Verlorenheit und Verstiegenheit umgeben. ‚Geht hinaus’, hat der Meister gesagt, und nicht: ‚Setzt euch hin und wartet, ob einer kommt’: Damit meine ich die Sorge auch um den menschentümlichen Raum und die menschenwürdige Ordnung. Es hat keinen Sinn, mit einer Predigt- und Religionserlaubnis, mit einer Pfarrer- und Prälatenbesoldung zufrieden die Menschheit ihrem Schicksal zu überlassen.

Dies alles wird aber nur verstanden und gewollt werden, wenn aus der Kirche wieder erfüllte Menschen kommen. Pleroma, die Fülle: das Wort ist wichtig für Paulus (Kol 2,9). Ist noch wichtiger für unser Anliegen. Die erfüllten Menschen, [...] die sich wieder wissen als Sachwalter und nicht nur Sachwalter Christi, son¬dern als die, die gebetet haben mit aller Offenheit: fac cor meum secundum cor tuum [bilde mein Herz nach deinem Herzen]. Ob die Kirchen den erfüllten, den von den göttlichen Kräften erfüllten, schöpferischen Menschen noch einmal aus sich entlassen, das ist ihr Schicksal. Nur dann haben sie das Maß von Sicherheit und Selbstbewusstsein, das ihnen erlaubt, auf das dauernde Pochen auf ‚Recht’ und ‚Herkommen’ usw. zu ver¬zichten. Nur dann haben sie die hellen Augen, die auch in den dunkelsten Stun¬den die Anliegen und Anrufe Gottes sehen. Und nur dann schlagen in ihnen die bereiten Herzen, denen es gar nicht darum geht, festzustellen, wir haben doch Recht gehabt; denen es nur um eines geht: Im Namen Gottes zu helfen und zu heilen."

IV
Dass Sie, dass wir Menschen der Fülle werden. Daran hängt alles, von Gott Kraft erfüllte, schöpferische Sachwalter Christi, aber Sachwalterinnen und Sachwalter in erster Person Singular. Jede und jeder ganz einmalig, so dass der Christus, der Herr der Kirche, in persona nostra zu handeln vermag. Und Delp, dem schon alles außer dem nackten Überleben genommen ist und auch das noch bald, er weiß, woher allein ihm das zufließt, diese Kraft und dieses Schöpfertum der Fülle, das jene Rückkehr in die Diakonie möglich macht: die „unverratene Anbetung“, wie er es nennt, gepaart mit einem ebenso unverratenen Gottdenken – nicht zufällig hat er uns neben seinen Briefen und Predigten philosophische Schriften hinterlassen, in den es um die Tragik des Menschen geht, dem das Wort „Gott“ schlichtweg fremd geworden ist.

V
Unverratene Anbetung, unverratenes Gottdenken, das ist Ihr erster Auftrag, noch bevor Sie das erste Wort an andere richten, das erste Mal als Theologin und Theologe dort handeln, wohin sie gestellt sein werden. Es klingt ganz eigenartig, aber stimmt trotzdem: Die Erstadressaten Ihrer Theologie, Ihrer Gottrede und Ihres Gotthandelns sind – Sie selbst. Der evangelische Theologe Ernst Christian Achelis hat es 1890 bündig auf den Punkt gebracht, als er schrieb:
„Predige nicht dich selbst, desto mehr dir selbst.“
Ich weiß in dieser Stunde nichts Wichtigeres, als Ihnen den Mut zu dieser Demut zu wünschen. Dann mag auch die Hoffnung nicht anmaßend sein, die Kirche möchte aus dieser Krise jetzt geläutert und gestärkt hervorgehen. Bringen Sie, bitte, aus der unverbrauchten Zuversicht des Anfangs jetzt das Ihre dazu ein!