Das Zeichen des Kindes

25. Sonntag B: Mk 9, 30-37 (+ Weish 2, 1a. 12. 17-20 + Jak 3, 16 – 4, 3)

Abtei Dormitio Jerusalem 2018


I
Mit Johannes Maria Vianney, dem späteren Heiligen Pfarrer von Ars, war es in der Schule ein schlimmes Kreuz. Zwar hatte er den entschiedenen Willen, Priester zu werden, aber der schulische Lehrstoff war ihm in jeder Hinsicht einfach zu schwer. Er begriff nichts. Das war so extrem, dass er – man stelle sich das vor! –, dass er mit 21 Jahren von einem zwölfjährigen Klassenkameraden Nachhilfe bekam. Als ihm der Junge zum x-ten Mal etwas erklärte und Vianney noch immer nicht verstand, ohrfeigte ihn der Zwölfjährige vor den anderen Schülern. Und Vianney? Er schlug nicht zurück, sondern kniete vor dem Zwölfjährigen hin und sagte: Verzeih mir! Entschuldige, dass ich so dumm bin! Der Zwölfjährige brachte kein Wort mehr hervor und die Tränen stiegen ihm in die Augen.

II
Entschuldige, dass ich so dumm bin! – Wer auch nur ein wenig nachfühlen kann, was in einem erwachsenen Menschen vorgeht, der so etwas vor einem Kind eingesteht, der weiß, was Demut ist. Demut kommt aus einer absoluten Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber. Einer Wahrhaftigkeit, die die Dinge sieht, wie sie sind, und sagt, wie sie sind, Demut wurzelt in der Einsicht, dass es nichts, absolut nichts gibt, worauf wir uns etwas einbilden könnten. Aber Demut ist schwer. Schwer eben darum, weil wir Menschen den lieben langen Tag nach Dingen Ausschau halten, auf die wir pochen und stolz sein, die wir uns zugutehalten können und die uns abheben von anderen.

III
Nicht einmal im Kreis der Jünger war das anders. Da sind sie schon unterwegs hinauf nach Jerusalem, also dorthin, wo Jesus sterben wird, weil er seiner Botschaft vom unbedingt treuen Gott treu bleiben und sie deshalb durch sein eigenes Geschick beglaubigen will. Jesus redet darum seinen Jüngern vom gewaltsamen Ende, um sie vorzubereiten auf das Kommende. Aber sie verstehen nicht. Markus ist schonungslos: Er erzählt, dass sie sich trotz ihres Nichtverstehens scheuten, ihn zu fragen. Und warum scheuten sie sich? Weil sie gar nichts Genaueres über dieses sein Ende wissen wollten. Sie nämlich hatten ganz andere Gedanken im Kopf:

Ausgerechnet als sich der tödliche Ernst des Evangeliums Jesu abzuzeichnen beginnt, da streiten sie darum, wer unter ihnen der Größte sei. Das muss Jesus wehgetan haben, dass sie haargenau das Gleiche tun wie Menschen sonst auch zu tun pflegen: nämlich Hackordnungen aufzustellen, das eitle, aufgeblasene Treten und Getretenwerden zwischen Oben und Unten, wie es selbstverständlich ist in Parteien etwa, nicht selten Familien sogar und nicht anders oft zwischen Kollegen – dass die Jünger das auch tun, das muss Jesus tief getroffen haben, weil es verrät, dass sie noch immer nichts vom Evangelium verstanden haben, obwohl sie mit ihm schon Jahre zusammen sind. Weil Evangelium doch nichts anders heißt als: Mensch, du hast nicht nötig, dich aufzuplustern und andere herunterzumachen, damit du gut dastehst: du bist – wie du bist – von Gott bejaht und angenommen und darum auch frei vom Zwang zum Treten und Kuschen. Und nichts begriffen hatten von ihm – weil er doch nichts anderes tat, als mit allen Fasern seines Daseins das Gegenteil schlechthin zu allem Herrschen von Menschen über Menschen zu leben: nicht über anderen stehen, sondern für sie da zu sein – ihnen zu dienen, das macht wahre Größe aus: Wer der Erste sein will, der soll der Letzte von allen und der Diener aller sein, hält er darum dem Rangstreit der Jünger entgegen. Und wahre Größe kommt aus dem Dienen deshalb, weil der Einzige, der wirklich Erster ist, – weil Gott selbst nichts anderes tut, als für uns da zu sein, also uns zu dienen. Genau so hat er selbst sich am brennenden Dornbusch vor Mose definiert: Ich bin der Ich-bin-da-für-euch und bin immer dagewesen und werde immer für euch da sein.

Und genauso hat Jesus später am Gründonnerstag als ein lebendiges Gleichnis Gottes aus Fleisch und Blut in der Geste der Fußwaschung gehandelt. Jetzt zuvor noch, beim Rangstreit der Jünger setzt er auch ein solches Zeichen: Er nimmt ein Kind in den Arm, stellt es in die Mitte der Jünger –  ein Kind, das absolut nichts hat, worauf es sich etwas einbilden könnte, das einzig das hat, gemocht werden zu wollen, weil es da ist, auf dass die Jünger an diesem Zeichen erkennen, wie weit sie noch entfernt sind von Jesus und also von der Wahrheit.

IV
Dieses Evangelium, das wir soeben gehört haben, wird heute weltweit in den katholischen Kirchen gelesen. Auch im Vatikan. Und dort müssten diese paar Verse einigen in den Ohren gellen. Weil just dort, im Zentrum der katholischen Kirche, seit Wochen noch Schlimmeres geschieht als damals der Jüngerstreit auf dem Weg nach Jerusalem. Just an dem Tag, da Papst Franziskus die irische Kirche besuchte, um dort beim Weltfamilientreffen besonders um Vergebung für die unsäglichen Missbrauchsgeschehnisse dieser Ortkirche zu bitten, veröffentlichte der ehemalige Nuntius in den USA, Erzbischof Carlo Maria Viganò ein Dossier, in dem er Papst Franziskus unterstellt, die Missbrauchs-Schandtaten des ehemaligen Kardinals von Washington, Theodore McCarrick, vertuscht zu haben. Weshalb, so Viganò, Franziskus sofort zurückzutreten habe. Das gab es in der ganzen Geschichte der Kirche noch nicht: dass ein hochrangiges, bekanntermaßen erzkonservatives, Kurienmitglied den Papst zum Rücktritt auffordert. Wer sich etwas in die bislang zugänglichen Dokumente hineinwühlt, entdeckt freilich, dass es um etwas ganz Anderes geht: einen bitteren Streit um den Weg der Kirche und wer das Sagen haben soll. Wie bei den Jüngern damals, nur viel schlimmer: Viganò, frustriert, dass ihm eine Karriere als Kardinal versagt blieb, hat sich zur Speerspitze derer machen lassen, die seit Anbeginn des derzeitigen Pontifikats gegen Franziskus opponieren und ihn buchstäblich zum Teufel wünschen, weil ihnen sein Stil und seine Reformgedanken nicht passen: Weil ihm Klerikalismus und kirchliche Machtdemonstration zuwider sind. Weil ihm das Schicksal der Migranten am Herzen liegt und die Bewahrung der Schöpfung. Weil er dem Gewissen der einzelnen Gläubigen mehr zutraut als rigoristischen Kirchengesetzen. Deshalb suchen sie ihm persönlich den Dreck von Missbrauchsvertuschungen ans Bein zu schmieren, um ihn so zu diskreditieren. Dabei war – kurios genug – jener McCarrick von Papst Johannes-Paul II. zum Erzbischof ernannt und zum Kardinal kreiert worden, obwohl man im Vatikan seit dem Jahr 2000 darum wusste, dass er junge Seminaristen und Priester sexuell belästigte und ausbeutete. Papst Benedikt soll ihn informell zu Rückzug und Schweigen aufgefordert haben, was McCarrick aber nicht hinderte, mehrfach Benedikt zu begegnen und von ihm freundlich begrüßt zu werden. Aber als vor wenigen Monaten bekannt wurde, dass McCarrick als junger Priester auch einen Minderjährigen missbraucht hatte, entzog ihm Franziskus postwendend die Kardinalwürde und die Erlaubnis, Heilige Messe zu feiern. Vertuschung? Obwohl das alles belegt ist, geht die Schlammschlacht weiter – was auch nicht sonderlich schwer ist in Zeiten von Fake News und so genannten „alternativen Fakten“. Und im Grunde wird diese Revolte – schändlich genug – auf dem Rücken der Missbrauchsopfer ausgetragen, die die interessierten Kreise auf diese Weise für den kirchlichen Richtungskampf instrumentalisieren. Worum es in Wahrheit geht, hat Anfang August der frühpensionierte, aus der Leitung der Glaubenskongregation entlassene Kardinal Gerhard Müller anlässlich eines Interviews in Australien verraten, als er sinngemäß sagte: Kein Katholik ist verpflichtet, der links-grünen Agenda von Papst Franziskus zu folgen. Das ist der wahre Kern der Sache: Ein Kampf um das Bild von der Kirche und die Ausübung von Macht in ihr. Müller hat in den letzten zehn Tage mehrfach seine Polemik gegen Franziskus wiederholt und der deutsche Alt-Kardinal Brandmüller ließ vor drei Tagen anscheinend ausgerechnet der BILD-Zeitung Briefe von Benedikt XVI. an ihn zuspielen, die die rechte Kampftruppe jetzt nutzt, um den ehemaligen Papst gegen den jetzigen zu instrumentalisieren. Das sagt eigentlich alles.

V
Mir liegt wahrlich fern, vorschnelle und falsche Parallelen zu ziehen. Aber als ich mir zur Vorbereitung für heute die erste Lesung aus dem Buch der Weisheit vornahm, musste ich spontan an das denken, was da soeben an der Spitze unserer Kirche vorgeht. Von einem Gerechten heißt es dort, man wolle ihm auflauern, weil er im Weg steht. Man wolle prüfen, wie es mit ihm ausgeht und roh mit ihm verfahren, um seine Geduld zu erproben. So ist es jüdischen Gläubigen einst geschehen, die in der dekadenten spätantiken Diaspora der Thora treu bleiben wollten. So ist es Jesus selbst widerfahren – bis zum Extrem seiner Hinrichtung. Und denen, die ihm nachfolgen, hat er Leidenswege prophezeit. Auch innerkirchlich gibt es solche, wie die zweite Lesung aus dem Jakobusbrief andeutet, wenn sie die Streitigkeiten in der Gemeinde auf Eifersucht und Ehrgeiz, auf den Kampf der Leidenschaften im Innern der Menschen zurückführt. Wie gesagt: Keine falschen Parallelen! Aber was wir derzeit in unserer Kirche erleben, ist ein Drama biblischen Ausmaßes. Es wird nur gut ausgehen, wenn sich ganz viele jetzt an das Jesus-Zeichen des in die Mitte der Jünger gestellten Kindes erinnern.