Von der tiefsten Wurzel der Barmherzigkeit
5. Fastensonntag C: Jona 3,1-5.10 [zugewählt] + Joh 8,1-11
I
Seit dem 8. Dezember 2015 begeht die katholische Kirche ein außerordentliches Heiliges Jahr. Es begann genau am 50. Jahrestag der Beendigung des II. Vatikanischen Konzils und trägt den Namen „Jahr der Barmherzigkeit“. Von Anfang an war klar, woher dieser Name rührt: „Barmherzigkeit“, dieser Grundbegriff des Evangeliums, ist das Vorzeichen, unter das Papst Franziskus schon früher als Erzbischof von Buenos Aires und jetzt auch als Bischof von Rom und oberster Hirte der Kirche seinen Dienst gestellt hat. So freudig-zustimmend das von vielen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen auch jenseits der kirchlich-katholischen Grenzen kommentiert wurde und wird – Kritik ließ nicht lange auf sich warten: In seltener und seltsamer Einmütigkeit fingen reaktionäre Journalisten, liberale Theologen und die konservativen Gegner des Papstes in der Römischen Kurie zu nölen an: Franziskus´ Barmherzigkeitsduselei sei eine unüberlegte Aus-dem-Bauch-heraus-Theologie, sagen die einen, ein paternalistisches Schwamm-drüber sei das anstelle von Gerechtigkeit und Anerkennung, sagen die anderen, und die dritten echauffieren sich, weil der Papst da in Wort und Tat Recht und Ritual herabsetze und damit sein eigenes Amt untergrabe usw. Und meist schreien die, die sonst mit Furor auf Autorität und Gehorsam pochen, am lautesten.
II
Verblüffender Weise passierte vor gut 1900 Jahren etwas ganz Ähnliches. Das Protokoll dieses Vorgangs steht im Neuen Testament – wir haben es soeben gehört: das achte Kapitel des Johannes-Evangeliums. Aber schon mit dieser schlichten Ortsangabe gehen die Probleme los. Wenn Sie eine offizielle Bibelausgabe aufschlagen, werden sie feststellen, dass diese Verse Joh 8,1-11 in Klammern stehen. Warum? Weil sie vom Sprachcharakter her mit Sicherheit nicht von Johannes stammen können. Manche sagen: Vielleicht von Lukas, aber im Grunde weiß man es nicht. Es sieht so aus, als ob keiner der neutestamentlichen Autoren diese Geschichte gewollt hat. Sie war ihnen einfach zu heiß. Aber unterschlagen konnte man sie auch nicht, dafür trägt das Erzählte wie der Wortlaut dessen, was da gesprochen wird, zu eindeutig die Handschrift Jesu. Und so haben spätere Redaktoren die Passage eben dem Johannes untergeschoben.
III
Wie es zu diesem Eiertanz kommen konnte, versteht man schlagartig, wenn man sich daran erinnert, dass Papst Franziskus einmal in einer seiner Ansprachen sagte:
„Wenn wir einen Augenblick die Barmherzigkeit vergessen, dann wird jede unserer Anstrengungen nichtig, dann werden wir Sklaven unserer Institutionen und Strukturen, so reformiert sie auch sein mögen.“1
Dieses Wort nimmt sich aus wie eine Kürzest-Exegese von Johannes 8, wir brauchen nur ein wenig dem biblischen Text nachzulauschen:
Es war in der letzten Woche vor Palmsonntag, an einem jener Tage, da Jesus im Jerusalemer Tempel lehrte. Da schleppten die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Frau vor ihn, die man beim Ehebruch ertappt hatte – ein Vergehen, das nach dem Gesetz die Todesstrafe nach sich zog. Die Rechtslage ist klar – die Frau leugnet nicht. Dennoch haben die Männer die schuldige Frau nicht grundlos zu Jesus gebracht. Denn mit ihrer Frage: Nun, was sagst du?, haben sie Jesus einen Falle gestellt, in die er todsicher tappen muss, wie sie meinen. Denn: Verweist er auf das Gesetz und die von ihm vorgesehene Todesstrafe, da könnten sie ihm barbarische Strenge vorwerfen. Man hat nämlich zur Zeit Jesu heftig diskutiert, ob denn die Todesstrafe bei Ehebruch nicht doch zu hart sei. Jedenfalls: Wäre er dafür, dann hätten sie guten Grund zu fragen, wo denn auf einmal seine Menschlichkeit geblieben sei, die er doch sonst überall praktiziere und verkündige. Wenn er sich aber gegen die gesetzliche Strafe ausspräche, dann könnten sie ihm Laxheit vorwerfen und ihm geradewegs ins Gesicht sagen, dass es wohl mit seiner Frömmigkeit ganz schön hapern muss, weil er Gott ja wohl nicht gar so ernst nimmt, wenn er ein solches Vergehen so herunterspielt. Was immer er antworten würde, er wird sich verheddern. Und das wird ihnen ein kleines Stückchen weiterhelfen in dem Versuch, ihm das Handwerk zu legen.
Und was tut Jesus? Er bückt sich und schreibt in den Sand. Das tut er nicht, um Verlegenheit zu überspielen, und nicht, um sich vor einer Antwort zu drücken. Seine wortlose Geste gibt vielmehr eine Antwort, wie sie schärfer und eindeutiger nicht ausfallen könnte – allerdings eine Antwort, wie sei die Schriftgelehrten auch nicht erwartet hatten. Indem Jesus nämlich in den Sand schreibt, setzt er ein altes prophetisches Zeichen. Ein Zeichen, das jeden, der des Alten Testaments kundig war, treffen musste wie der Blitz. An einer Stelle im Buch des Propheten Jeremia heißt es nämlich: Alle, die dich verlassen Herr, werden zuschanden, die sich von dir abwenden, werden in den Staub geschrieben, Jeremia 17, 13.
In den Staub geschrieben – so viel ist wert in Gottes Augen, was da vor Jesu Augen geschieht. Keiner, kein Einziger kann da vor Gott bestehen mit dem, was er ist und was er tut. Nicht nur die Frau nicht. Auch die anderen nicht, die ihre Verurteilung suchen. Auch das ist so wertlos wie ein paar in den Sand gekritzelte Worte, die schon ein leichter Windstoß für immer wegwischt. Und warum? Da die Schriftgelehrten hartnäckig weiterfragen, als ob sie nicht verstanden hätten, spricht Jesus in ungeminderter Wucht aus, was seine Geste gesagt hatte: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe als Erster den Stein auf sie. – Das dringt bis ins Mark.
IV
Bei einer Steinigung musste der Zeuge der Untat den ersten Stein auf den Täter werfen. Damit übernahm er die volle Verantwortung für die Hinrichtung. Jesu schneidendes Wort freilich lässt keinen Zweifel, dass solche Verantwortung überhaupt nur übernehmen könnte, wer sich selbst frei wüsste von jeglicher Schuld und Sünde – also keiner. Und das hat getroffen. Darum geht einer nach dem anderen fort, die Ältesten zuerst, jene also, die die meiste Lebenserfahrung mitbringen. Sie wissen untrüglich, dass kein Einziger beanspruchen darf, ohne jedes Schuldigwerden sein bisheriges Leben gelebt zu haben. Und sie gehen weg, weil sie – vielleicht gegen erbitterte Widerstände in ihrem eigenen Innern – genauso untrüglich spüren, dass eben deswegen kein Mensch das Recht hat, über einen anderen ein moralisches Urteil zu fällen und Strafe zu verhängen. Die Schriftgelehrten verstehen das, darum ihr Weggehen.
Allein Jesus und die Frau sind jetzt noch übrig. Jesus holt sie heraus aus ihrer Verlegenheit, indem er die Schuldfrage erst gar nicht stellt, sondern: Hat dich keiner verurteilt? – Keiner, Herr, sie darauf. – Und er: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr! Da haben sie in zwei Sätzen zusammengefasst, warum die Frohe Botschaft „Frohe Botschaft“ heißt. Jesus geht auf die Ehebrecherin zu, nimmt sie vollmächtig in die Gottesgemeinschaft auf – so wie sie jetzt ist, ohne vorausgehendes Urteil. Und er vertraut darauf, dass solche Sündenvergebung sie im Innersten trifft und zur Umkehr bewegen wird. Diese voraussetzungslose Vergebung ruft die Umkehr hervor. Umkehr geschieht also nicht mehr als Bedingung, sondern als Folge der Vergebung.
Jesus hat der Frau bedingungslos einen neuen Anfang geschenkt, weil er weiß, wie bedingungslos Gott selber für den Menschen ist. Jesus heißt die Tat der Frau nicht gut. Aber: er tut, was einzig und allein menschliche Schuld überhaupt jenseits aller Entschuldigungsmechanismen wirklich lösen kann – er befreit die Frau aus ihrer Verstrickung umsonst, gratis – aus Gnade also, weil Gott Gott ist für uns. Mit Aburteilen und Bestrafen wird nämlich nichts gelöst. Das hätte die Frau nur endgültig eingesperrt in ihre Schuld. Jesus hat sie befreit daraus. So ist Gott. Genau für diese umstürzende Botschaft hat Jesus wenig später mit dem Leben bezahlt. Aber Gott hat ihm recht gegeben – wir sagen dafür: er hat ihn auferweckt. Weil Gott alles liegt an dieser Botschaft.
V
Weil Franziskus einmal – ganz unserem Evangelium entsprechend – bemerkt hat, dass zuerst die Barmherzigkeit komme und dann das Urteil, hat ihm einer seiner theologischen Kritiker vorgeworfen, das sei dogmatisch, moralisch und spirituell einfach Häresie, Irrlehre. Zu einer solchen grotesken Fehldiagnose kann nur kommen, wer nicht weiß, wo Franziskus´ Theologie der Barmherzigkeit ihre tiefste Wurzel hat – nämlich im kleinen Büchlein des Propheten Jona.
In einem Interview aus dem Jahr 2007 fragt Kardinal Bergoglio seine Gesprächspartnerin unvermittelt, ob sie die biblische Geschichte von Jona kenne. Die Journalistin verneint, und Bergoglio erzählt in eigenen Worten von dem Propheten, der von Gott zur Bußpredigt in die sündige Stadt Ninive geschickt wird, der aber vor diesem Auftrag Reißaus zu nehmen versucht und in die entgegengesetzte Richtung nach Tarschisch flieht, weil er genau weiß, was passieren würde, wenn seine Predigt Erfolg hätte, dass nämlich Gott sein angedrohtes Strafgericht reute und er voll Erbarmen sich den reumütigen Sündern zuwendete. Was dann ja auch geschehen ist. – Ist er also vor einer schwierigen Mission geflohen?, fragt die Interviewerin. – Nein, sagt Bergoglio, nicht vor Ninive ist er geflohen, sondern vor der maßlosen Liebe Gottes zu den Menschen dort. Das passte nicht in seine Pläne. Er wollte selber alles im Griff behalten. […] Unsere Sicherheiten können eine Mauer werden, ein Kerker, der den Heiligen Geist einsperrt. Wer sein Gewissen vom Weg des Volkes Gottes isoliert, kennt nicht die Heiterkeit des Heiligen Geistes, die die Hoffnung stützt. Wer aus der geschlossenen Welt seines „Tarschisch“ über alles lamentiert oder seine eigene Identität bedroht glaubt, stürzt sich in Schlachten, um am Ende nur noch mehr mit sich selbst beschäftigt und auf sich selbst bezogen zu sein. – Wie das konkret aussieht, was Bergoglio da beschreibt, konnte er als Papst bei der letzten Familiensynode live erleben, das nebenher. Der Jona, scheint mir, ist tatsächlich die tiefste Wurzel für Franziskus´ emphatische Spiritualität der Barmherzigkeit.
VI
Für diesen inneren Zusammenhang von Barmherzigkeit und Jona gibt es übrigens eine unglaubliche bildhafte Inszenierung – und zwar ausgerechnet in der Capella Sistina, dem Ort der Papstwahl, geschaffen natürlich von Michelangelo. Direkt in der Mitte über dem berühmten gigantischen Gerichtsfresko, am Übergang zwischen Wand und Deckengewölbe mit der Schöpfungsgeschichte hat der Künstler den Propheten Jona gemalt. Der blickt in einer kühnen Drehung seines ganzen Körpers auf den Schöpfer, der gerade dabei ist, das Licht von der Finsternis zu scheiden – und darin steckt eine ungeheure Botschaft: Jona weiß, wie sich die Schuld von Adam und Eva durch die ganze Geschichte zieht, und will darum aus seiner überzeugten Aufrichtigkeit die Bestrafung der Sünder. Aber dann fällt sein Blick auf den allerersten Schöpfungsakt, aus dem das Licht hervorgeht. Und er versteht, dass Gott von dem, was er geschaffen hat, nichts verloren geben, sondern alles retten will. Und den Kardinälen, die dort im Konklave zur Wahl des Petrus-Nachfolgers schreiten, wird damit vor Augen gestellt, worin eigentlich die Schlüssel des Petrus und die Vollmacht der Kirche bestehen: In der Verkündigung der durch nichts zu beirrenden Barmherzigkeit Gottes, deren Wesen ausmacht, durch Güte zu bestürzen. Genauso, wie das Jona mit Ninive erlebte, und genau so, wie das das Evangelium von heute von Jesus erzählt. Insofern ist Franziskus päpstlich in einer theologischen Tiefe, von der seine Kritiker nicht einmal eine Ahnung haben. Dass er uns diese Kernmitte unseres Glaubens so intensiv nahe bringt, dafür werden wir ihm noch sehr dankbar sein.
1 Zit. nach Resing, Volker: Disruptive Barmherzigkeit. In: Herderkorespondenz 70 (2016). Heft 1. 4-5.