Von der leeren Mitte

Karfreitag C: [Systematisch]

                                    
I
Heute, Karfreitag, und morgen Karsamstag, sind die seltsamsten Tage im liturgischen Jahr der katholischen Kirche: Keine Eucharistie, die sie sonst jeden der andern 363 Tage des Jahres feiert.

II
Wieder einmal war es ein Dichter (und kein Theologe), der auf den Punkt brachte, was es mit diesem Tag eigentlich auf sich hat. Reinhold Schneider erzählt in seiner Novelle Die Schächer ohne den Herrn, wie bei einem Aufruhr 1566 in Flandern auch eine lebensgroße Kreuzigungsgruppe zerstört wurde. Die Vandalen, so Schneider, stürzten das Kreuz in der Mitte mit Jesus um. Aber sie schonten die Bilder der Schächer. Warum? Haben sie in ihnen ihr eigenes Wesen gesehen? Und wenn dies zuträfe, dann haben sie damit ein fürchterliches Zeugnis gegeben. Genau das hat Reinhold Schneider gesehen und ins Wort gehoben:
Die Schächer ohne den Herrn. Eine furchtbare Lücke klaffte zwischen den beiden Kreuzen; nun war auch der Reumütige verloren, dem der Herr das Paradies verheißen hatte; denn der Herr, der ihn dahin führen wollte, war ihm entrissen. Und in welcher Verlorenheit stand das Kreuz des Lästerers! Der Mittler war verschwunden, die Mitte war leer.

III
Die Mitte war leer. Um sie aber, diese leere Mitte, kreist alles, was es an diesem Karfreitag zu sagen gibt. Und wenn man das versucht, muss man bis an den Anfang der Bibel zurückgehen. Dort heißt es: Den Lebensgarten des Paradieses hatte Gott dem Menschen geschenkt, dass er ihn bewohne und genieße. Der Baum in der Mitte war seiner Verfügung entzogen, bloß zum Gedenken, dass der Mensch die wunderbaren Dinge der Welt rings um ihn nicht sich selbst verdankt, sondern geschenkte bekommt. Doch der Mensch hat diesem Geschenk nicht trauen wollen. Darum hat er sich auch das Sinnbild seiner Herkunft noch angeeignet. Im selben Augenblick, da er Gottes gönnender Güte nicht mehr traute, da ist ihm die ganze Welt armselig vorgekommen und er selbst scheint ihm nichts mehr wert. So sehr, dass er sich Schurze umhängt, um seine Dürftigkeit zu verbergen. Losgesagt vom gütigen Gott muss die ganze Welt als jämmerliche Plage erscheinen und das Leben als Kampf, ja nicht zu kurz zu kommen.

Darum hat Gott mit allem, was seit der Berufung Abrahams geschah, nur das Eine im Sinn gehabt: dass der Mensch jenes alte Vertrauen zu ihm wiedergewinne und so sein menschliches Dasein mitsamt seinen Grenzen als Glück und die Welt als Garten des Lebens erfahre. Darum hat er sein erwähltes Volk – als Vorausbild für alle – aus der Sklaverei Ägyptens in die Freiheit des gelobten Landes geführt. Darum hat er die Könige von Saul bis Salomo bestellt. Darum hat er seine Propheten gesandt, dass sie sein Vorhaben immer neu vergegenwärtigen und hervorsagen.

Aber weil sogar all das noch dem Menschen zweideutig schien, darum hat Gott am Ende alles auf eine Karte gesetzt und sich persönlich auf seine Schöpfung eingelassen. Da trat eines Tages einer auf, der genau das selber sagte und tat, was er von Gott verkündete: den Armen und Kleinen stellte er sich an die Seite; den Kranken und Kurzgehaltenen schenkte sein tätiges Mitleid; den Sündern ist er regelrecht nachgelaufen, um sie einzuladen zu Versöhnung mit dem himmlischen Vater. Seine Botschaft und sein Auftreten haben Menschen in Bann geschlagen und im Innersten getroffen. Aber dort, wo man sich eingerichtet hatte in einem Leben von eigenen Gnaden und sich Gott vom Leib zu halten wusste sogar mit frommen Sprüchen noch, da hat er sich Feinde gemacht, dieser Bote, der Gottes Liebe zu den Menschen leibhaftig verkörperte.

Und weil er trotzdem nicht aufhörte, zu neuem Vertrauen auf Gott zu rufen, darum haben sie sich ihn eines Tages vom Hals geschafft. Verspottet, bespuckt, gegeißelt, am Kreuz hingerichtet als Störer der öffentlichen Ordnung. Das war die Strafe für seine aufrührerische Rede von Gott. In Wirklichkeit aber haben Jesu Widersacher gerade damit sichtbar wahr gemacht, was Jesus von Gott gepredigt hatte: dass ihm die, die sich abgewandt haben von ihm, am Herzen liegen, dass ihm nichts zu viel, nichts zu wertvoll ist, um es dranzugeben für sie, damit er ihr Vertrauen wiedergewinne. Nicht einmal sich selbst will er schonen dafür. Die blutige Leiche am Kreuz ist darum nichts Geringeres als ein Gottesbild, das christliche Gottesbild. So vieles bin ich bereit auszuhalten, so Menschenunmögliches lasse ich mir antun, damit du Menschenkind glaubst, dass es mir nicht um mich geht und um Herrschaft über dich, wie du argwöhnst, sondern um deine Freiheit zum Leben unter meiner bergenden Hand. Blutig schlagen lasse ich mich, zerreißen, hinauswerfen aus der Welt. Mehr kann ich nicht mehr tun, als mich, der ich dein Gott bin, zu nichts machen zu lassen und gerade darin für dich da zu sein. Glaubst du jetzt, dass ich Dich liebe? Glaubst du jetzt, dass ich deines Vertrauens würdig bin? Das alles nimmt Gott in Jesus auf sich, um zu beglaubigen, dass er so ist, wie er heißt: Ich bin der ich bin da für euch. Er tut das in der unbeirrbaren Hoffnung, dass das Widerfahrnis solcher nichts mehr für sich behaltenden wollenden Liebe den Menschen bestürzt, auf dass er eines Tages ausrufe: Ecce Deus: Seht, welch ein Gott! Und dann niederfällt vor einem Kreuzbild. So täte der Mensch, was sich Jesus seine irdischen Lebtage lang zuinnerst ersehnte. Denn in diesem Niederfallen anerkennt der Mensch Gott als Gott und sich selbst als den, der des Erbarmens diesen Gott bedarf und in seiner Liebe geborgen den Frieden seines Herzens findet. Der tote Jesus am Kreuz offenbart die innerste Wahrheit des Geheimnisses Gottes. Das Kreuz kündet uns, wer er – Gott selbst – wirklich ist. Begreifen, wirklich begreifen können wir das nicht. Andeuten können das nur Dichterinnen und Dichter.

IV
Auch die Österreicherin Christine Busta hat das einmal geschafft, als sie schrieb:

Heute nenn ich Dich Schnee,
Du erschöpflicher Schöpfer
Vergänglicher Sternkristalle,
der die nackten Äcker bekleidet,
den Wanderer weglos macht
und die ärmlichen Hütten
füllt mit Geborgenheit und Einkehr.

Schwebender Du, der den Bäumen Last wird,
der die tapferen Krähen auswirft
in die Stille und die Tiere
aus den Wäldern den Menschen nahbringt,
der die Hilflosen hilfloser macht
und die Hilfsbereiten bereiter.

Lautloser, der das Vertrauen entfremdet,
wird uns Deine Fülle begraben,
werden Flüche das Lob ersticken?
Morgen vielleicht schon wird uns dein Weiß
Blenden und du beginnst zu tauen.
Herrlicher!
Dann nenn ich Dich Sonne.

V
Martin Buber meinte einmal, Gott verachte die Bilder nicht, sondern dulde, dass man durch sie hindurch Ihn schaue. In den Zeilen der Christine Busta fängt der Schnee, der im ersten Moment alles so romantisch verzaubert, zu schmelzen an. Aber dann sieht die Dichterin, nachdem das Schneebild verloren ist, ein neues Bild: die Sonne.

So ist es auch mit den Gottesbildern. Stirbt eines, wird ein anderes geboren, sagte der geistliche Schriftsteller Otto Betz einmal. Das größte Gottesbildersterben, das man sich überhaupt vorstellen kann, ist der Karfreitag. Weil da Gott selber stirbt. Gottloser als heute kann man von Gott ja überhaupt nicht denken. Aber genau damit geben wir ihm eine Ehre, wie sie größer nicht gedacht werden kann. Und wer Gott zutraut, sterben zu können, und darin immer noch Gott zu bleiben, der und die glauben an einen Gott, wie er nicht größer gedacht werden kann. Die letzten zwei Sätze, die ich soeben sagte, klingen nicht zufällig an den sogenannten ontologischen Gottesbeweis des Anselms von Canterbury an. Denn in der Tat ist der Karfreitag der schlagendste Gottesbeweis: Wenn wahr ist, was Christinnen und Christen von Gott und seinem Jesus glauben, muss seit dem Karfreitag wahr sein, was sie da glauben, sonst wäre die Welt in tausend Stücke zerplatzt oder implodiert oder sonst etwas. Aber geben würde es sie nicht mehr – es sei denn, der Gott, der da geglaubt wird, wäre noch stärker als der Tod und könnte darum alle Angst vor diesem Tod besiegen, die Angst, die in jeder Seele nistet und immer dann, wenn sie sich nicht beruhigen kann, zum Quell von Schuld und Sünde wird. Der gekreuzigte Christus ist darum unser Friede und unsere Versöhnung mit Gott und macht uns fähig auch zum Frieden miteinander und mit uns selbst Das ist das Geheimnis des Karfreitags.