Vom irren Kampf

10. Sonntag B: Gen 3, 9-15 (+ Mk 3, 20-35)

I
Eine der seltsamsten Gestalten aus der jüdisch-christlichen Intelligenzia der Weimarer Zeit war der Philosoph Leo Strauss. Zeit seines Lebens trieb ihn die Frage um, wer mehr Recht hat: das Denken oder das Glauben, die Theologie oder die Philosophie. Er selbst als bekennender Atheist hatte seine klare Meinung, aber zugleich forderte er die jüdische und christliche Theologie seiner Zeit aufs Schärfste dazu auf, sich selbst und ihre eigenen Ansprüche bis zum Anschlag ernst zu nehmen – gleichsam, um einen mächtigen Gegner zu haben, an dem er sich der eigenen Position vergewissern könnte. In diesem Zusammenhang sagte er 1930 in einem Vortrag:

„Die Pfeiler, auf denen unsere Tradition ruhte: Propheten und Sokrates-Platon, sind seit Nietzsche eingerissen. Nietzsches Parteinahme für Könige gegen Propheten, für Sophisten gegen Sokrates – Jesus nicht nur kein Gott, auch kein Betrüger, auch kein Genie, sondern ein Trottel.“1

II
Strauss wusste natürlich als profunder Kenner nicht nur des Alten, sondern auch des christlichen Neuen Testaments, dass Nietzsche da nicht einfach herumpöbelte, sondern sein Diktum auf biblischem Hintergrund formulierte, nämlich den Eingangsversen des heutigen Evangeliums: dass Jesu Familie loszog, um ihn buchstäblich zu entführen, weil sie ihn mit seiner Predigerei und vor allem seinen Taten für einen totalen Spinner hielten, einen Trottel gar, weil er sich mit dem Religionsprofis ausgerechnet in Sachen Beelzebul und Dämonen anlegte, also in der Urfrage des Bösen. Gegen das Böse kämpfen? Was für ein Wahnsinn! Muss man dazu, wenn man es täte, in Wahrheit nicht mit dem Bösen irgendwie unter einer Decke stecken, indem man sich zum Werkzeug des größten Teufels macht, um die kleineren Teufel zu beherrschen? So sehen das die Schriftgelehrten. Aber Jesus schleudert ihnen das vielleicht wuchtigste Wort entgegen, das wir aus seinem Mund kennen: dass, wer einen wirklichen Sieg über das Böse für unmöglich hält, eine Sünde begeht, die in Ewigkeit keine Vergebung finde. Warum es zu diesem dramatischen Schlagabtausch kommt, aus dem seine Familie Jesus buchstäblich herausreißen möchte, kann man wohl nur verstehen, wenn man diese Urfrage nach dem Bösen mit im Blick hat, wie sie auf den ersten Seiten der Bibel begegnet – die erste Lesung vorhin hat uns mit ihr konfrontiert.

III
Die Sündenfallgeschichte aus dem Buch Genesis – wer würde sie nicht kennen! Selbst sogenannten Fernstehenden ist die Sache mit Adam und Eva, dem Baum mit der verbotenen Frucht und mit der Schlange nicht fremd. Wie aus dem Nichts war die Schlange aufgetaucht, hatte dem Menschenpaar versprochen, wie Gott zu werden – also über alles zu verfügen –, wenn es von dem Baum äße, von dem zu essen der Schöpfer untersagt hatte. Der Trick der Schlange: im Menschen die Angst zu wecken, Gott könne vielleicht gar nicht ein gönnender Geber des Lebens sein, sondern einer, der eifersüchtig darüber wacht, dass seine Geschöpfe ihm nicht zu mächtig werden. Und dabei hatte er diesen Baum der Erkenntnis von Gut und Böse – also des Ganzen – doch nur zum Erinnerungszeichen dazu machen wollen, dass der Mensch nicht aus sich über alles verfügt, sondern alles und mehr als alles geschenkt bekam und dass ihn dieses Vertrauen ins Leben zu einem wirklichen Ebenbild Gottes werden lässt. Aber die Versuchung, alles – das Leben, die Welt, das Ganze – selbst in die Hand zu nehmen, ist zu groß. Und in dem Augenblick, da das geschieht, muss der Mensch entdecken, dass er nackt ist, schutzlos, erbärmlich, gefährdet. Heute sagt man gern: Die Schlange ist das Urbild der Angst vor dem Nichtsein, also der Endlichkeit. Und wer der Angst nachgibt und sich das Leben nimmt, der nimmt sich‘s buchstäblich, weil er voll Schrecken erkennt, nicht mehr als zwei Hände voll Staub zu sein.

IV
Und dann kommt unsere Stelle von vorhin aus der Lesung. Gott ruft nach dem Menschen, der sich seiner Nacktheit wegen und trotz der schon umgehängten Feigenblätter vor seinem Schöpfer versteckt hat. Als ob Gott nicht Allwissende, nicht wüsste, wo Adam ist! Nein, hinter der Gottesfrage steckt ungleich mehr: „Warum bist  du, den ich zum Wächter des Gartens eingesetzt habe, nicht auf deinem Posten? O, wohin hast du dich verloren!“, reformuliert der jüdische Exeget Benno Jacob die Adams-Anrede. Und Adam antwortet, dass er sich aus Angst versteckt hat, Angst vor Gott wegen seiner Nacktheit – weil die, diese erbärmliche Ausgesetztheit, im Gefühl des Misstrauens gegen Gott schier nicht auszuhalten ist.

Und auch die zweite Frage stellt Gott nicht aus Unwissenheit – Wer hat Dir gesagt, dass Du nackt bist? – , sondern dass der Täter sich selbst schuld erklärt. Gott weiß es ja! Aber was tut Adam? Er schiebt die Schuld auf Eva: Das Weib, das du mir beigesellt hast, nennt er dabei die Eva, die zuvor, als er sie gegen seine Einsamkeit geschenkt bekam, sein ganzes Entzücken war. Und es klingt fast so, als wollte Adam Gott sagen: im Grunde bist du selber Schuld an der Malaise. Und was macht Eva auf Gottes Frage an sie? Das Gleiche wie Adam: Sie schiebt die Schuld auf die Schlange: die hat mich betört, will sagen: Sie hat mir zuerst die Angst, das Paradies könnte zu wenig sein, eingeimpft, und dann die Angst vor der Strafe ausgeredet. Nachgerade beklemmen muss dabei, dass Gott gar keine Strafe verhängt, sondern diese darin besteht, dass der Mensch bekommt was er unbedingt wollte: dass Erkennen von Gut und Böse, das meint des Ganzen von Dasein, Welt und Leben, das ihn aber in seiner Wucht die eigene Zerbrechlichkeit gewahr werden lässt.

Und jetzt spricht Gott zur Schlange, die zuvor wie aus dem Nichts auftauchte, also für das Tier im Menschen steht, für das Animalische, den Trieb zum Bösen, dem – wir wissen es, seit Menschen denken können –, mit Verboten und schon gar nicht mit Vernunftsgründen beizukommen ist. Hört man genau hin, so fällt auf, dass mit keinem Wort vom Gift der Schlange die Rede ist (meist ja das Erste, woran man bei diesem Tier denkt), sondern von seinem „essen“. Das ist natürlich ein Widerhall des Essens von Eva und Adam. Und das, was die Schlange isst – Staub, „das Niedrigste und Widrigste“ (Benno Jacob) –, versinnbildet, was sie, die Schlange, das Animalische im Menschen, mit dem Menschen macht und anrichtet: ihn buchstäblich in den Dreck zu ziehen und ihn derart entstellt, dass sich andere voll Abscheu und Schauder von ihm abwenden, wie sie es auch tun, wenn sie einer Schlange über den Weg laufen. Rabbinische Schriftauslegungen vergessen dabei nicht zu erwähnen, dass die Schlange eigentlich auch ein nützliches Haustier sein könnte, wie das aus der Antike und in Märchen überliefert ist, die davon erzählen, dass eine Natter in der Nähe der Menschen ihr Schlupfloch hat und ihnen gefährliches Ungeziefer von Leib hält, wenn denn behutsam und in Vorsicht mit ihr umgegangen wird. Und es stimmt ja auch: Wenn die dunklen Energien in uns respektiert und achtsam gehütet werden, vermögen sie unser Leben zu kräftigen. Liefert man sich ihnen aus, zerstören sie es bis zum Grunde. Das ist das Mysterium des Bösen.

V
Und dann folgt im Buch Genesis jener abgründige Satz, den man später „Protoevangelium“, also „Erstevangelium“ genannt hat. Dem Wortlaut nach besagt er eigentlich zunächst nur, dass es für den Menschen einen nie endenden Kampf gegen die Schlange, den Trieb des Bösen in ihm gibt: Er trachtet ihm nach dem Kopf, um ihn zu zermalmen und loszuwerden, sie die Schlange, trachtet danach, den Menschen zu stechen und zu beißen – gerade so, wie jeder Mensch den Gewissenskampf erfährt, wenn er kurz davor steht, Böses zu tun, weil es so verlockend ist.

Dieser lebenslange und geschichtlich gesehen endlose Kampf, der dauern wird, solange es Menschen gibt, hat irgendwie etwas Tragisches an sich: So ist halt das Leben – es sei denn, es ließe sich so etwas wie ein Sieg über das Böse denken, einer zumindest, der gegen alle seine immer wiederkehrenden Manifestationen glaubhaft machen könnte, dass das Böse nicht das letzte Wort über das Dasein hat. Und haargenau das war der Anspruch Jesu: dass im Vertrauen auf Gott das Dämonische so gefesselt werden kann, dass es kein schlimmes Unheil mehr anrichtet. Und dass er sich von Gott gesandt weiß, diese befreiende Nachricht zu verkünden und in Zeichen sichtbar zu machen. Auf dem Hintergrund der Genesis-Verse von soeben kann man nachvollziehen, warum ihn seine Familie für einen Spinner hielt und aus dem Verkehr ziehen wollte, denn zu verrückt musste scheinen, gleichsam gegen das scheinbare Urverhängnis des Lebens anzukämpfen. Die Art, wie er das schließlich tat: nicht in gewaltsamen Handeln, sondern im Überwinden des Bösen, indem er es sich am eigenen Leib buchstäblich austoben ließ, um es ins Leere laufen zu lassen – das hat dazu geführt, dass schon die frühen Kirchenväter den Genesis-Vers auf Maria und Christus deuteten: Er ist der Spross der Frau, der dem Untier des Bösen den Kopf zertreten, es also entmächtigen und uns durch sein österliches Geschick die Angst vor dem Zuwenig und dem Nichts nehmen wird – allererster Vorschein der Botschaft von der Erlösung aus der Macht des Bösen, Protoevangelium eben.

VI
Wenn jemand einem solchen Zusammenlesen von Altem und Neuem Testament nicht folgen kann oder will, bleibt als einziger Ausweg, sich in den nie endenden Kampf zu stürzen. Alles andere als zufällig sieht sich der eingangs erwähnte Atheist Leo Strauss mit seinem Denken – wie er wörtlich sagt – auf die Kampfbahn des Politischen geschickt, um dort darüber zu streiten, wie man auf rechte Weise leben soll. Strauss, der vor den Nationalsozialisten in die USA fliehen musste, ist dort später – mehr oder weniger ungewollt – zum heimlichen Vordenker neokonservativer Politik geworden, die prinzipiell davon ausgeht, dass der Mensch schlecht ist und darum entsprechend unter Kuratel gestellt werden muss, durch eine harte Politik der Normen und Werte. Die christliche Sicht des Menschen wagt mehr: Sie unterschätzt mitnichten die Macht des Bösen, traut sich aber zu, im Geist Christi die Dämonen auszutreiben oder wenigstens zu zähmen und so über das Leben in Großbuchstaben das Wort FREIHEIT zu schreiben.


1Strauss, Leo: Religiöse Lage der Gegenwart. In: Philosophie und Gesetz. Frühe Schriften. Unter Mitwirkung von Wiebe Meier hg. v. Heinrich Meier. Stuttgart – Weimar 1997. (GS; Bd. 2). 377-391. Hier 389.