Vom Wesentlichen und seiner Wahrheit
6. Ostersonntag A: Joh 14,15-21
I
Als ein berühmter Sufi-Meister der Weisheit alt und krank wurde, baten ihn seine Schüler, nicht zu sterben. Da sagte der Meister: Wenn ich nicht ginge, wie würdet ihr dann je sehen lernen? – Was sehen wir denn nicht, wenn du bei uns bist?, fragten die Schüler zurück. Aber der Meister wollte es nicht sagen. Als der Augenblick seines Todes nahe war, sprachen sie wiederum: Meister, was werden wir sehen, wenn du gegangen bist? Mit einem Lächeln in den Augen antwortete er: Ich tat nichts weiter als am Ufer des Flusses zu sitzen und Wasser auszuteilen. Wenn ich gegangen bin, hoffe ich, dass ihr den Fluss sehen werdet.
II
Die Bescheidenheit des Alten spricht dafür, dass er wirklich den Namen Meister verdient. Da sucht einer nicht seinen Vorteil in der Unterweisung der Schüler, nicht einmal den Vorteil persönlichen Ruhmes. Er dient stattdessen, indem er aus der Tiefe schöpft und die Seinen auf den Geschmack für das Wesentliche bringt – mit dem Ziel, dass die Schüler nach seinem Tode auch ohne ihn schauen und finden, wovon sie leben. Dass seine Wahrheit weiterlebe nach ihm, dazu will er sie leiten. Viele Christinnen und Christen denken so ähnlich von ihrem eigenen Glauben und von Jesus Christus. Hat nicht auch er eine Lehre verkündet – eine Lehre vom rechten Leben – gültig immer und für alle? Tritt nicht auch er am Ende hinter seiner Wahrheit zurück – durchaus zwar der Erinnerung würdig, jedoch ohne dass er über seine Zeit hinaus persönlich von Bedeutung wäre für die Wahrheit dessen, was er zu sagen hatte. Worin denn sonst sollte Christsein bestehen als im Annehmen einer Lehre, die zwar keiner von sich aus gefunden hätte, jetzt aber jede und jeder, die wollen, sich aneignen kann. Wie anders sollten denn jemand Christin oder Christ werden?
III
Wie sich das verhält mit dem Christ werden, diese Frage ist kein überflüssiges Gedankenspiel. Sie hat bereits die Jesus-Leute der zweiten Generation – gut 60 Jahre nach Ostern – heftig bewegt. Jesu irdisches Leben begann, in die Vergangenheit zurückzusinken, die Apostel kamen einer nach dem anderen zu Tode, die Augen- und Ohrenzeugen starben. So geriet die junge Gemeinde unabweislich vor die Frage: Wie können wir die Wurzeln unseres Glaubens lebendig halten, unserem eigenen Ursprung treu bleiben? Und damit verbunden: Was macht denn uns Christgläubigen eigentlich zu dem, was wir sind? Worin besteht unser Wesentliches? Ist es wie bei den großen Philosophien und Religionen ringsum auch eine Lehre, die man anerkennt – oder geht Christwerden anders?
Darauf antwortet Johannes in Erinnerung an Predigt und Leben Jesu und an den Ostertag mit dem heutigen Evangelium. Aus dem Mund des Herrn lässt er uns in wenigen Sätzen hören, was Christen zu Christen macht. Das unumgehbar Erste: Jesus lieben. Damit freilich ist nicht bloß eine Gefühlsregung gemeint. Begeistern kann man sich für x-beliebige historische Größen. Jesusliebe ist anders gemeint. Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten: Nicht unverbindliche, freundliche Anerkennung eines Gewesenen heißt Jesus lieben, sondern verbindliche Übernahme seiner Lebenspraxis, die er im Zeichen der Fußwaschung absolut unzweideutig zusammengefasst hat.
IV
Doch vermag ein Mensch das überhaupt – anderen selbstvergessen dienend wirklich zu lieben? Ist eine oder einer dessen fähig, ohne dass ihm der, der selbst so geliebt hat, mit seiner leibhaften Gegenwart zur Seite steht? Ja, er vermag es, verheißt das Evangelium, weil Gott auf Bitten Jesu einen anderen Beistand sendet. Geist der Wahrheit heißt dieser Beistand, sagt das Evangelium. Geist meint in der Sprache der Bibel nicht eine Sache oder einen Gedanken, sondern meint die Art und Weise, wie Gott für uns Menschen da ist und erfahren wird: Als in Bewegung bringend, als unbezweifelbare, gleichwohl unfassliche Wirklichkeit, wie der Wind, dessen Rauschen jeder hört, von dem aber keiner weiß, woher er kommt und wohin er geht. Wo Menschen sich Jesus überhaupt erst einmal und immer wieder zuwenden, ihn lieben in den Gesten sich an andere verschenkender Liebe, da bleiben sie nicht stecken damit – auch dann, wenn diese Gesten nach außen den Anschein der Vergeblichkeit erwecken. Indem Menschen trotz aller – menschlich unentrinnbar auf sie zukommender – Enttäuschung über andere und über sich selbst nicht aufhören mit dem Lieben, wirkt bereits die mitreißende Macht dessen in ihnen, was ihnen an Jesus aufging: Wer Gott ist und wer sie – die Menschen – deshalb sein können. Das Eingehen von Menschen auf die Wesensart Jesu wird es unberechenbar und unverhofft immer wieder geben, wenn wahr ist, was Jesus verheißt: dass der Beistand für immer bei uns bleiben soll. 2000 Jahre bald hat sich dieses Versprechen als wahr erwiesen in Menschen, die aus Christusliebe anderen liebevoll, gütig, geduldig, barmherzig begegneten und so das Evangelium – gegen allen auch kirchlicherseits durch Lieblosigkeit geschehenden Verrat bewahrheiten. Viel zu oft ist eben auch Kirche das, was Johannes „Welt“ nennt; Ort hermetischer Verschlossenheit gegen das Herzanliegen Jesu, so dass sie den Geist der Wahrheit, Gottes inständig beständiges Wirken in sich gar nicht zulässt.
Indem dieser Geist Menschen mit der Wesensart Jesu beseelt, ihn gleichsam von neuem verlebendigt in ihnen, kommt Jesus wieder. Die Christen sind nach dem Ende des irdischen Lebens Jesu nicht als Waisen zurückgeblieben. Sie erlebten ja, dass er durch sein gänzliches Sich-verschenken ganze einging in die Ewigkeit Gottes und dass diese Lebensgestalt unbedingt Sinn hatte – Auferweckung sagen sie dafür. Und indem sie im Blick auf ihn dann sich selbst zu verschenken wagen im Tun der Liebe, nehmen sie die Osterwahrheit immer tiefer wahr dadurch, dass sie sie wahr machen: Ihr seht mich, weil ich lebe und auch ihr werdet leben. Anders gewendet: Die Wirkmacht Gottes – sein Geist – macht die Gemeinschaft der Glaubenden zur bleibenden Zeugin des Auferstandenen. Nicht darin, dass Jesus irgendwo lebt, besteht Ostern, – sagt das Evangelium damit –, sondern darin, dass sich Jesus immer neu mit dem, was er redend und handelnd von Gott verkündete, als Leben erweckende Macht erweist.
Und eben auf dem Boden dieses untrennbaren Ineinander von Christus- und Menschenliebe, in dem schon das Osterereignis wurzelt, auf diesem Boden beginnt schließlich Wirklichkeit zu werden, worauf unser Christsein im allerletzten hinaus will: An jenem Tag, sagt der Herr, werdet ihr erkennen: Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir und ich bin in euch. Wo Menschen sich ermutigt von Jesus der Schwerkraft der Liebe überlassen, werden sie in ihn hineingezogen, wird er in ihnen ausgeprägt und werden sie mit ihm in den Vater hineingenommen. Genauer: Sie werden einbezogen in das Verhältnis zwischen Jesus und dem Vater, in das Gottesverhältnis also, das so unbeschädigt und unverstellt ist, wie Gott sich von Anfang der Schöpfung an das Verhältnis der freien Geschöpfe zu sich gedacht hatte. Das aber bedeutet: tätig werdende Christusliebe bringt uns Gott wieder so ursprünglich nahe, dass wir die Liebe des Vaters auch wieder genauso erfahren können wie Jesus sie erfahren hat und als Auferstandener erfährt. Wer sich – beseelt von Christus – verschenkt: seine Zeit vielleicht, seine Kraft, seine Geduld, seine Lieblingsidee, manchmal auch seine liebegewordenen Grundsätze und selbstredend nicht zuletzt seine eigene Habe, der vermag in dieser Bewegung des Hergebens für andere wieder feinfühlig werden, dass der Mensch – über alle Liebe von anderen hinaus – im Letzten davon lebt, dass Gott etwas hergibt für ihn: Nein, nicht etwas, sondern alles hergibt für ihn, sich selbst sogar, weil wir – jeder und einzelne – Gott mehr als alles wert sind.
An dieser letzten Konsequenz der Christusliebe aber wird offenbar, was das Wesentliche des Christseins ausmacht: dass es nicht in einer Lehre besteht, nicht in Proklamation einer Moral, nicht aus Information über ein Jenseits, sondern: dass Christsein das Ereignis einer Mitteilung ist, in der Gott nicht etwas, sondern sich selbst schenkt, indem er aus sich und uns die Gemeinschaft schafft, auf die unsere Seele zuinnerst angelegt ist mit ihrer durch nichts und niemand zu befriedigenden und auch nicht zu täuschenden Sehnsucht, unbedingt geliebt zu sein.
V
Christ werden heißt also nicht: Sätze einer Offenbarung zur Kenntnis zu nehmen und sie mit dem Kopf anzuerkennen oder gar im Opfer des Verstandes sich unter sie zu beugen. Sondern Christ werden heißt: Mit schlichten und schlichtesten Gesten wahren – also nicht mehr sich selbst suchender – Liebe eintreten in den Regelkreis der Liebe Gottes. Erst von drinnen her kann dann ein Mensch auch etwas erahnen vom unbegreiflichen Geheimnis Gottes, das in Situationen seines gelebten Lebens aufleuchtet und dessen Aufleuchten in den Gottesgeschichten der Bibel bleibend aufbewahrt ist. Erkenntnis der christlichen Wahrheit gibt es ausschließlich in der unumkehrbaren Schrittfolge, die der johanneische Christus im letzten Vers des heutigen Evangeliums nennt: Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer mich aber liebt, wird von meinem Vater geliebt werden, und auch ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren. Wer sich der Praxis Jesu anschließt, wird verstehen lernen, was er sagte; vermag die Wahrheit seiner Offenbarung zu erkennen. Und deshalb, weil Christ werden nicht im Annehmen einer Lehre besteht, sondern im Eintreten in eine Beziehung, deshalb kann Christus für Christgläubige nicht einfach ein Meister sein, der uns an den Strom des Lebens führt und auf den Geschmack des Lebens bringt, um dann immer weiter aus unserem Gesichtskreis zu entschwinden. Um die Suchenden anzureden und einzuladen mit der Stimme, die Menschen unfehlbar verstehen, nämlich mit der Stimme der Liebe, hat Gott sich selbst in der Gestalt des Menschen geschenkt, der lauter Liebe war, damit wir verstehen, dass Gott lauter Liebe ist. Dazu ist im gekreuzigten Auferweckten für immer die Ikone dieser vor absolut nichts scheuenden Liebe Gottes aufgerichtet, damit seine Wahrheit uns bestürze und uns der Wahrheit unser selbst innewerden lasse. Auch jetzt, da wir das Brot miteinander brechen, will genau das geschehen.
So einfach selbstverständlich ist diese innerste Wahrheit des Christlichen nicht mehr. Sonst würden nicht so viele Getaufte der sonntäglichen Eucharistie fernbleiben, in der diese Wahrheit erinnert und gefeiert wird. Aber vielleicht war sie noch nie selbstverständlich. Vielleicht waren die sogenannten Großkirchen in ihren scheinbar glanzvollen Epochen einfach ein krasses Missverständnis und befinden sich gerade die Kirche in unseren Breiten sehr avantgardistisch auf dem Weg in die Ursprungsgestalt der kleinen Herde – weil die Wahrheit, zumal die tiefste, noch nie Sache der großen Mehrheit war. Um in diesen Dingen klarer zu sehen, ist vielleicht gut, dass wir in diesen Tagen vor Pfingsten miteinander und füreinander um den Geist der Wahrheit beten.