Große Verheißung

1. Fastensonntag B: Gen 9, 8-15 + 1 Petr 3, 18-22

I
Der Isenheimer Altar in Colmar. Ganz viele kennen ihn, vielleicht aus eigener Anschauung, zumindest von Bildern: Diese Kreuzigungsszene mit dem Täufer Johannes rechts, der mit überlangem Zeigefinger auf das Lamm Gottes am Marterbalken deutet. Und darunter die erschütternde Grablegung. Aber der Flügelaltar hat natürlich auch eine Rückseite. Die erzählt die Weihnachtsgeschichte. Dieses Bildprogramm ist viel weniger bekannt, aber in Wahrheit noch spektakulärer als die Passionsseite. Denn auf der Haupttafel dieser Weihnachtsseite hat Grünewald ein Engelskonzert gemalt – und an dessen Rand taucht eine ganz seltsame Figur auf, ein Engel mit buntem Federkleid, mit kostbaren Ringen an den Fingern, dessen Blick nach oben geht zu einem anderen Engelsgesicht, das seinerseits seine Augen auf die Gottesmutter Maria gerichtet hat. Kunsthistoriker sind sich weitgehend einig, dass es sich bei diesem eigenartig bunten Engel um Luzifer handelt, der deswegen am Rande dieses Weihnachtsbildes auftritt, weil er nun, im Äon der Erlösung, der mit der Geburt Jesu beginnt, wieder mitmusizieren darf.

II
Was für eine Ansage! Was für eine Zusage, so tröstend! Selbst der Aufstand gegen Gott - dieser Versuch, selbst wie Gott zu sein und Gott zu spielen, also das Widergöttliche, das Böse - wird im allerletzten Ende wieder heimgeholt und darf teilhaben am Fest der Erlösung. Der Gedanke ist alles andere als neu. Schon der größte Theologe griechischer Sprache in der frühen Kirche, der Ägypter Origenes, hat ihn erwogen: Von der Apokatastasis panton hat er gepredigt – von der Allversöhnung. Nicht zuletzt deswegen verfiel er der amtskirchlichen Verurteilung. Und trotzdem war auch einer der konservativsten Theologie-Koryphäen des 20. Jahrhunderts, Hans Urs von Balthasar, überzeugt, dass die Hölle leer sei, weil sich auch der schlimmste Sünder im Gericht der alles überwältigenden Liebe Gottes, die ihm auch in dieser Stunde noch entgegenkomme, nicht zu entziehen vermöge und er oder sie sich in brennender Reue die Hände dieses barmherzigen Gottes werfen würde. Übrigens war auch von Balthasars enger Freund Joseph Ratzinger diesem Gedanken nicht fern.

III
Vielleicht gibt es ein biblisches Indiz für diese kühne Hoffnung, das zwar keiner der eben Genannten erwähnt, aber im Grunde unmittelbar auf der Hand liegt. Dieses Indiz steht in der ersten Lesung des heutigen ersten Fastensonntags. Sie erzählt uns vom sogenannten Noach-Bund. Gott hatte aus Liebe und Freigebigkeit, man könnte fast sagen: aus Überschwang, seine Schöpfung ins Dasein gerufen und mit dem „Und er sah, dass es gut war“ besiegelt. Doch dann folgt die Sündenfallgeschichte, weil der Mensch - geschaffen nach Gottes Ebenbild - erwog, ob denn Gott wirklich der Gute und Gönnende sei. Oder ob er ihm seinem geliebten Geschöpf nicht doch etwas vorenthalten habe mit dem Baum in der Mitte des Paradiesgartens. Dabei sollte doch inmitten der Überfülle des reichen Paradieses, das der Schöpfer seinem Menschlein geschenkt hat, auf dass er sie genieße, dieser eine Baum ihn nur daran erinnern, dass er, der Mensch, das alles nicht selbst gemacht hat, sondern einem anderen verdankt. Aber: Das Misstrauen, im Grunde die Angst, kurz gehalten zu werden und zu kurz gekommen, siegt. Der Mensch greift auch noch nach der Frucht dieses Baumes, versucht damit, sich buchstäblich das Ganze anzueignen – und muss im gleichen Augenblick seine Armseligkeit gewahren, versinnbildet in der Nacktheit. Das Menschenpaar fädelt sich Feigenblätter zum Schurz, um sich buchstäblich etwas vorzumachen in diesem Elend und der Schöpfer wird ihnen aus Mitleid dann Kleider aus Fellen geben für ihren Weg ins Exil. Aber das Paradies ist verloren. Weil der Mensch Gott spielen wollte.

Und dann erzählt uns das Buch Genesis in atemberaubender Folgerichtigkeit, was aus dieser Gottespersiflage folgt. Eine einzige Geschichte der Gewalt von Kain und Abel - angefangen lawinenartig anwachsend, so dass Lamech, der Nachfahre Kains in der vierten Generation, rundheraus prahlt, er habe einen Mann für eine seiner Wunden und einen Jüngling für eine seiner Striemen erschlagen. Und wenn Kain siebenfach gerächt worden sei, dann er siebenundsiebzig Mal. Und so geht das weiter und weiter – so weit, dass es Gott schließlich gereut, das Weltabenteuer seiner Schöpfung gewagt zu haben, so dass er voller Gram den Widerruf seines Werkes beschließt in Gestalt der Sintflut.

IV
Doch damit wird alles noch dramatischer. Warum? Weil dieser Gott kein stahlharter Despot und Tyrann ist, der einzig auf Rache für seine Beleidigung sinnt, wie das Volk Israel das einst an den Machthabern Persiens und des Hethiter-Reiches beobachten konnte und es uns heute bisweilen in den Karnevalsdespoten afrikanischer Länder und im derzeitigen Präsidenten der USA vor Augen steht. Denn Gott übersieht mitten in diesem Tsunami der Bosheit und Gewalt nicht den frommen Noach, den Gerechten und Gottestreuen. Deswegen bringt er es nicht übers Herz, einfach alles in Grund und Boden zu vernichten, sondern beruft diesen Noach, die Arche zu bauen und über sie zusammen mit seiner Familie und den Tieren einen zweiten Anfang ins Werk zu setzen. Legion sind die Kunstwerke, die dieses Arche-Noach-Thema ins Bild bringen, wie die Tiere paarweise die Arche besteigen, von Schnecke bis Schimpanse, von Krokodil bis Känguru und Gorilla bis Giraffe. Neulich stieß ich auch auf eine wunderbare Karikatur mit den Giraffen: Flüstert die eine der anderen ins Ohr: Ich will ja nicht schwarzmalen, aber hast Du irgendwo ein Rettungsboot gesehen?

Die Sorge war überflüssig, weil doch Gott nichts anderes wollte, als sein Werk zu retten und zu bewahren. Und zwar für immer. Und genau dies besiegelt er dadurch, dass er mit dem Noach und seiner Sippe am Ende der Flutepisode einen Bund schließt – der erste Bundesschluss in der Bibel übrigens. Andere werden folgen. Und dieser Urbund hat zum Inhalt, dass die Schöpfung mit allem, was zu ihr gehört, niemals ganz ausgerottet werden wird - komme, was kommen mag. Und Zeichen dieses unkündbaren Bundes soll nach Gottes Willen der Regenbogen sein, den Gott immer dann in die Wolken stellen wird, wenn sich ein Unwetter oder Orkan zusammenbraut und den Menschen Angst macht. Nie wieder – heißt es – soll das Wasser zur Flut werden, die alle Wesen aus Fleisch vernichtet. Der jüdische Exeget Benno Jacob schrieb – note bene 1934 – über diese Genesisstelle:
„Der Regenbogen ist ausschließlich ein Zeichen der Liebe und Treue Gottes gegen seine Schöpfung, das ihn ‚erinnerte‘. Als Widerschein der Sonne in den Regenwolken spiegelt er die die Gnade nach dem Gericht, er ist der durch Wolken und Himmelstränen hindurchschimmernde farbige Abglanz aus dem Hintergrund des göttlichen Wesens, das im letzten Grund Liebe und Gnade ist, unter dunklen Brauen sein Gnadenblick […] Der Regenbogen ist die Vollendung der Schöpfung und ihr abschließendes Siegel, der letzte farbige Pinselstrich.“

V
Was für ein Versprechen! Nie wird das Böse so mächtig werden, dass es den Sieg davonträgt. Die zauberhaften Farben des Regenbogens bürgen dafür. Merken Sie, warum ich vorhin vom biblischen Indiz für Grünewalds seltsamen Engel mit den bunten Federn auf dem Isenheimer Altar gesprochen habe? Weil sich in dessen Federkleid die Farben des Regenbogens spiegeln. Weil er, der Luzifer, auf Deutsch: der Lichtträger, der Gott näher stand als alle anderen, geläutert durch die Sintflut, wieder mitspielen darf.

Das ist keine Verharmlosung des Bösen. Es gibt das Böse. Abgründig. Tag für Tag bezeugen uns das die Schlagzeilen der Presse, die sich oft noch gütlich daran tun und das Böse zur verkaufsfördernden medialen Sensation aufblasen. Oder wie anders sollte man dazu sagen, wenn eine Mutter ihren neunjährigen Sohn zusammen mit ihrem pädophilen Lebenspartner missbraucht und gegen Geld anderen zur Vergewaltigung zur Verfügung stellt, wie vor wenigen Wochen in Freiburg aufgedeckt worden ist und dann über Wochen in den Boulevard-Blättern ausgewalzt wurde. In meiner sechsjährigen Tätigkeit als Gefängnispfarrer habe ich in Abgründe geschaut, die noch schlimmer waren. Die Philosophin Hannah Arendt hat das schon in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts auf den Punkt gebracht, als sie in ihrer Funktion als Berichterstatterin des Eichmann-Prozesses in Jerusalem von der Banalität des Bösen sprach – ausgelöst davon, dass Eichmann, der Cheforganisator der Vernichtung von sechs Millionen Juden, bei seiner Vernehmung beklagte, trotz seiner strikten Pflichterfüllung nie über den Rang eines Obersturmbannführers hinausgelangt zu sein.

VI
Das Böse wird nicht siegen, wie immer es sich verkleidet und einschleicht. Das ist die Verheißung, die uns dieser erste Fastensonntag gibt. Darum ist es nicht vergeblich, gegen das Böse anzugehen. Auch das Böse in uns, das immer wieder lauert. Gott wartet auf uns. Das sagt uns die zweite Lesung aus dem Ersten Petrusbrief. Gott wartet schon immer. Er hat, sagt der Petrusbrief, geduldig gewartet, während die Arche gebaut wurde. Und er wartet noch immer. Der schon einmal erwähnte Origenes ist überzeugt: Das ewige Osterfest des Himmels wird erst dann beginnen, wenn auch noch der letzte Sünder angekommen ist und demütig um Einlass in die Ewigkeit bittet. Gott und die Heiligen warten solange. Der erste Schritt auf diesem Heimweg ins Paradies ist – die Taufe. Sie ist der Anti-Typos zur Sintflut. Gerettet durch das Wasser hindurch kommen wir dorthin, wo wir geborgen sind. Jede Fastenzeit ist Einladung zur Tauferinnerung und Tauferneuerung, also Einladung auf diesen Weg zurück in die Gemeinschaft mit Gott.

Vom Christus des Karfreitags heißt es im Petrusbrief, er sei in die Unterwelt abgestiegen zu den Geistern der Gerechten und habe ihnen die Botschaft von Gnade gepredigt. Unzählig sind die Bilder und Ikonen, die ihn zeigen, wie er die Tore der Unterwelt zerbricht und dann die Heiligen des Alten Bundes, allen voran Adam und Eva und auch den Noach in die Herrlichkeit des Himmels führt. Und wir dürfen uns in diesen Zug einreihen, wenn wir das Reich Gottes für keine leere Utopie halten. Das ist riskant, aber – wie die Dichterin Catrina Schneider sagt:

Was wäre
wenn Gott
von Beginn an
bis zum Ende
sie alle mitginge
die geraden Wege
die abwegigen finsteren Pfade
die Umwege, Irrwege und Sackgassen.

Was wäre,
wenn Gott mitginge
in die innerste heimlichste Mitte
und aus ihr heraus.

Was wäre
wenn Gott mitginge
den Mut und den Zweifel
das Immer-weiter-Fragen.


Was wäre
wenn Gott mitginge
den Abgrund entlang
und spränge
uns voran.

Was wäre
wenn wir folgten?