Über sich hinauswachsen

Hochfest Christi Himmelfahrt C: [Apg 1, 1-11 + Hebr 9, 24-28; 10, 19-23]

I
Heute ist der vierzigste Tag nach dem Ostermorgen. „Vierzig“ bedeutet in der Bibel immer etwas Besonderes – und nicht nur dort. Im Buch Genesis lesen wir, dass der Regen der Sintflut 40 Tage und Nächte fiel. Nach 40 Tagen öffnete Noach das Fenster der Arche und ließ die Taube fliegen, dass sie erkunde, ob denn wieder Leben möglich sei. Israel wanderte nach dem Exodus 40 Jahre durch die Wüste, bis es das gelobte Land betreten durfte. Mose weilte 40 Tage auf dem Berg Sinai in Gottes Nähe, um die Gebote zu empfangen. Ninive hatte 40 Tage Zeit, um sich auf die Predigt des Jona hin zu bekehren. Jesus ging 40 Tage in die Wüste, um sich nach seiner Taufe über seine Berufung klar zu werden. Aber auch außerbiblisch ist die Magie dieses „40“ präsent. Alles Wichtige ist „vier“: Vier Himmelsrichtungen – Osten, Süden, Westen, Norden – , vier Elemente – Feuer, Wasser, Erde, Luft –, vier Lebensalter des Menschen – Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter. Und wenn man die ersten vier Zahlen 1, 2, 3 und 4 zusammenzählt, kommt „10“ heraus: Inbild und Sinnbild des Ganzen und Vollendeten, wie schon der geheimnisvolle Vorsokratiker Pythagoras überzeugt war. Und nun eben auch Christi Himmelfahrt viermal zehn Tage nach Ostern – viermal zehn: Vollendung des Vollendeten sozusagen – oder Vollendung hoch zwei.

II
Was aber vollendet sich da auf diese herausragende Weise? Das ist nahezu gänzlich verstellt durch die Art und Weise, wie dieser Tag längst verhunzt ist durch die Vatertagsbesäufnisse, die man auf ihn gelegt hat. Der christliche Sinn des Tages ist mittlerweile dermaßen zerstört, dass ich diejenigen durchaus verstehen kann, die seine Abschaffung fordern. Dabei hätte uns dieses Fest etwas Wichtiges über uns selbst zu sagen. Die neutestamentlichen Zeugnisse fassen es in die Bilder, die ihnen damals zur Verfügung standen: Sie sprechen von Erhöhung, von einem Nach-oben- oder In-den-Himmel-genommen-werden, so die Apostelgeschichte und das Lukas-Evangelium mit deutlichem Anklang an uralte ägyptische Überlieferungen, für die ein Toter, wenn er denn gottgemäß gelebt hat, als eines der unvergänglichen Lichter am Sternenhimmel verewigt wird. Und der Hebräerbrief der zweiten Lesung gießt das Ganze in die Sprache des Jerusalemer Tempelkults: Jesus, der wahre und einzige Hohepriester, tritt durch den Vorhang seines Fleisches, das meint: durch die Verhüllungsgestalt seines Erdenlebens ins Allerheiligste der Gottesgegenwart ein und bahnt uns, seinen Geschwistern, weil er einer von uns war, den Weg dorthin.

Alle Zeugnisse zusammen aber möchten nichts anderes als uns zu sagen: Da ist einer über sich hinausgewachsen auf eine Weise, die uns nicht unberührt lässt, wenn wir danach fragen, was es mit unserem Leben eigentlich auf sich hat. Durch das, was Jesus in seiner Predigt, zumal in seinen Gleichnisreden gesagt, was er in der Begegnung mit Menschen getan hat, und wie er sein Karfreitagsgeschick eben dieses seines Redens und Handelns wegen auf sich nahm, da ist etwas in die Welt gekommen, was es vorher so nicht gab, wo immer Menschen von ihren Göttern oder von Gott redeten. Da kam etwas zum Vorschein, was menschlichem Dasein eine Dimension erschloss, die es vorher vielleicht auf die eine oder andere Weise ahnte, aber nicht wirklich kannte. Und dieses Neue besteht darin, dass es die vertrauten Kategorien des Menschlichen sprengt und damit so etwas wie einen Widerschein, eine Vorahnung eines Anderen, einer anderen Welt vergegenwärtigt. So etwa, wenn Jesus in der Bergpredigt von einem Gott kündet, der regnen lässt über Guten und Bösen und seine Sonne aufgehen lässt über Gerechten und Ungerechten, weil er gewiss ist, dass Gottes Güte und Barmherzigkeit auch noch den hartnäckigsten Sünder bestürzen und so zur Umkehr bewegen werde; oder, dass er das Bestehen eines Menschen in der Stunde seines Endgerichts nicht ans Frommsein, die Zahl seiner Gottesdienstbesuche, das Nichtverwenden von Kondomen oder seinen sonstigen Gesetzesgehorsam bindet, sondern daran, ob er Hungernde gespeist, Flüchtende aufgenommen, Gefangene besucht hat. Das aber kann ein Mensch nur, wenn er über seine Selbstbezogenheit, über sich hinausgewachsen ist, also sich auf den Himmelfahrtsweg begeben hat.

III
Lassen Sie mich diesen Himmelfahrtsweg an zwei Beispielen ein wenig konkret machen, an Beispielen, die vorderhand völlig abseits zu liegen scheinen – und uns doch verraten, wie nah uns der Kern des heutigen Festtags eigentlich wäre, wenn wir nur genau genug auf ihn achteten.

Als am 15. und 16. April dieses Jahres die Kathedrale Notre Dame in Paris in Flammen stand und in Teilen zerstört wurde, da hielt buchstäblich die Welt den Atem an. Warum das? Kirchen brennen öfter nieder – und niemand macht darum etwas groß her. Aber in diesem Fall war nicht nur das Herz Frankreichs getroffen, wie einige der dortigen Politiker verlautbarten – da war noch etwas Anderes passiert. Notre Dame ist eine der gotischen Kathedralen schlechthin. Die Säulen, die Gewölbe, die Fenster und Rosetten. Dieses Bauwerk und vergleichbare Andere zeichnet aus, im Grunde den Eindruck zu erwecken, den Gesetzen der Schwerkraft entwachsen zu sein. Je mehr die Baumeister die Herausforderungen der Statik in Griff bekamen, desto – im Grunde – überweltlicher wurden ihre Bauten. Immer weniger Stein, immer mehr schmale und schmalste Gewölberippen, immer mehr Fenster und damit Licht und Farbe. Und die Türme, wenn sie denn vollendet wurden, versinnbildeten mit ihren durchbrochenen Maßwerken und ihren krönenden Kreuzblumen so etwas wie ein Verweben von Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits – das Irdische ins Himmlische gehoben.

Nicht aus Patriotismus, sondern der Sache wegen erwähne ich, dass die Apsis des Regensburger Domes, der sich ganz an der französischen Gotik orientiert, im Grunde nahezu ausschließlich aus den Teppichen von Farbfenstern aus zahllosen Heiligen besteht. Und wer das morgens bei aufgehender Sonne sehen kann, weiß, was Paradies meinen könnte – wie das übrigens auch für Gerhard Richters Fenster im Kölner Dom gilt, zumal dann, wenn da zuvor ein Gottesdienst mit ausreichendem Einsatz von Weihrauch gefeiert wurde: Da sieht man dann 11263 Lichtstrahlen in 72 Farben, die auf den Altar niedergehen. Und das zweite ein wenig patriotische Beispiel: Die Kirche St. Martin im niederbayerischen Landshut. Nicht nur, dass ihr Turm mit 130,10 m der weltweit höchste Kirchturm aus Backsteinen ist. Viel spektakulärer nimmt sich aus, dass die Statik ihrer unglaublich schmalen Säulen und Gewölberippen bis heute nicht durchschaut ist. Nach regulären Berechnungen dürfte sie eigentlich gar nicht stehen. Da ist etwas über das Normale hinausgewachsen. Gebaute Himmelfahrt. Und was uns Menschenkinder derart fasziniert an solchen Werken: dass wir von ihnen mit Sinnen buchstäblich hinaufgezogen werden, weil dieses „nach oben“, dieses „dem Himmel entgegen“, gleichsam unserer geistig-geistlichen DNA eingeschrieben ist. Deswegen auch die Erschütterung über den Pariser Brand, der erklärte Atheisten zum Weinen brachte.

IV
Mein zweites Beispiel kommt ganz anderswoher. Am 02. Mai wurde der 500. Todestag von Leonardo da Vinci gefeiert. Leonardo hatte eine schwierige Biographie als unehelich geborenes Kind. Und er war auch als Erwachsener schwierig, musste sich seinen beruflichen Weg erkämpfen, verweigerte sich aber auch den Gebräuchen seiner Zunft, nahm kaum politische Rücksichten, lebte seine Homosexualität, wurde schließlich zum genialen Entertainer ganzer Königshäuser. Aber zugleich war ihm all dieses Äußere dermaßen egal, dass er versprochene, hoch dotierte Malwerke nicht ablieferte, ein unsicherer Vertragspartner war, weil ihm anderes wichtig war.

Und dieses Wichtigere war das Buch der Natur und ihrer Gesetze. In dieses grub er sich dermaßen tief wie keiner vor ihm, so dass er darüber zu einem Jahrtausendgenie wurde – er, vom man sagte, dass er – was damals durchaus gefährlich war – sich nicht zum christlichen Glauben bekannte und sich dennoch voller Staunen in die Geheimnisse der Schöpfung ziehen ließ. Nur 18 oder 19 Gemälde hat er geschaffen, das berühmte Mailänder Abendmahl zerfiel schon zu seinen Lebzeiten, weil er es nicht als Fresko, sondern als Enkaustik gemalt hatte, mit Wachs, das sich schon wieder abschälte, als das Bild noch gar nicht fertig war. Ein anderer Großauftrag – die Darstellung der Anghiarischlacht im Palazzo della Signoria in Florenz in Konkurrenz zu Michelangelo – wurde nicht fertig und misslang technisch. Aber dafür eben die Mona Lisa und der vielleicht in Teilen von Leonardo stammende Salvator Mundi, der jüngst für 450 Millionen Dollar gehandelt wurde, jetzt verschollen ist und sich vielleicht im Besitz eines saudischen Journalistenschlächters befindet. Und dazu eine Vielzahl atemberaubender Zeichnungen, technischer Entwürfe und schriftlicher Skizzen. Vor allem, weil er heimlich auch Leichen sezierte, um dem Geheimnis des Menschen so nahe wie möglich zu kommen, galt er als Ketzer. Andererseits hinderte das nicht, dass anlässlich seines Todes in drei Kirchen Gottesdienste gehalten wurden, wie er das selbst zu Lebzeiten noch bestimmt hatte.

Auch Leonardo wuchs über sich hinaus, indem er seine Talente einsetzte und – trotz aller Fehler, die ihm zumal bei seinen technischen Maschinenträumen unterliefen, bei Panzern, U-Booten, Kanonen und Musikinstrumenten –, dass er diese Talente einsetzte zu einer künstlerischen Erfassung der Natur, wie es sie vorher nie gegeben hat und auch nach ihm kaum einer zu schaffen vermochte. Wir bewundern und verehren Leonardo, weil er so über sich hinausgewachsen ist, weil er schon innerweltlich ein Himmelfahrtsleben gewagt hat.

V
Gerade angesichts dieses Beispiels können wir uns fragen: Was ist mein Himmelfahrtsweg? Klar: Niemand von uns muss dafür ein Leonardo werden. Aber sein Über-sich-hinaus-wachsen geschah ganz und gar weltlich – in dem, was er Tag für Tag auf sich nahm und auch wagte. Mir liegt fern, diesen rätselhaften Leonardo irgendwie zu vereinnahmen oder gar seligzusprechen. Aber in den Wundern seiner durch und durch irdischen Werke, vielleicht mehr noch in den frühen Skizzen als in der Mona Lisa, da schimmert etwas von dem durch, was man theologisch „Gnade“ nennen kann. „Gnade“ heißt griechisch „charis“, da kommt unser Wort „Charme“ her, womit wir ausdrücken, wenn uns etwas oder jemand auf subtile Weise bezaubert. Aber solch gnadenhaftes Aufscheinen setzt ganz und gar die Natur voraus, wie schon Thomas von Aquin wusste. Leonardo kann als Paradefall für diesen Zusammenhang gelten.
 Mein unvergessener Lehrer in Liturgiewissenschaft, Bruno Kleinheyer, pflegte das in seine nüchterne Aachener Prosa zu übersetzen mit dem Diktum: Wo der Heilige Geist auf eine Lücke trifft, fällt er durch. Viele Lücken hat der Geist bei Leonardo offensichtlich nicht gefunden, auch wenn dem kaum je ein frommes Wort über die Lippen kam.

VI
Wegen dieses Ineinanders von Natur und Gnade können auch wir uns fragen: Wo kann ich über mich selbst hinauswachsen? Im Umgang etwa mit Menschen, für die ich verantwortlich bin oder die mir nahestehen. Vielleicht besteht da das Hinauswachsen einfach in der Geduld, mit der ich ihre Schwächen ertrage. Oder auch, wie ich es mit mir selbst halte, mit meinen Grenzen, die mich vielleicht schmerzen, aber auch mit meinen Stärken – ob ich sie andere ein bisschen von oben herab spüren lasse oder ob ich sie in dankbarer Gelassenheit lebe und anderen zum Segen werden lasse.

Karl Rahner hat diesbezüglich immer von „Selbsttranszendenz“ gesprochen, und er hat das sehr fundamental gemeint. Schon in den ganz alltäglichen Akten des Erkennens greifen wir immer schon über das je Gegebene und zu Erkennende hinaus, weil wir es sonst ja in seiner Begrenztheit und damit Bestimmtheit gar nicht erkennen als es selbst würden. Und genauso greifen wir über uns selbst hinaus, wenn wir uns fragen, wer wir denn eigentlich sind – und können gar nicht anders als bei etwas anzukommen, über das hinaus es kein Ausgreifen mehr gibt, weil es ein Unendliches, jenes, das wir – hoffentlich scheu genug – „Gott“ zu nennen wagen.

Doch wenn das stimmt, dann sind wir vom ersten Atemzug an Himmelfahrtsmenschen. Und das „40“ der Himmelfahrt kann so viele Gesichter haben, wie es Menschenkinder gibt.