Theologische Philosophie der Geschichte

2. Fastensonntag C: Gen 15, 5-12. 17-18

I
In den Vorbereitungszeiten auf die großen Glaubensfeste Weihnachten und Ostern, also der Advents- und Fastenzeit, sind nicht nur die Lesungen und Evangelien besonders intensiv aufeinander abgestimmt. Es zieht sich zugleich ein roter Faden sozusagen horizontal durch die alttestamentlichen Lesungen der vier bzw. fünf Sonntage vor den Festzeiten.

II
Vor acht Tagen, am ersten Fastensonntag, hat die Lesung aus dem Buch Deuteronomium das Generalthema schlechthin der 40tägigen Fastenzeit intoniert: den Exodus. Und wir konnten entdecken, dass der Auszug aus Ägypten nach den Plagen und mit dem Durchzug durch das rote Meer keineswegs der erste Exodus war, sondern dass ihm mehrere solcher Aufbrüche und Auszüge vorausgingen. Und dass ihm ebenso mehrere folgten von der Rückkehr Israels aus dem Babylonischen Exil und die jüngere Geschichte des Judentums – bis dahin, dass christliche Autoren wie ein Origenes oder später ein Dante Alighieri die Exodus-Szenerie als die geistliche Grundverfassung auch des christlichen Glaubens verstanden: Auszug aus allen Knechtschaften und Versklavungen äußerer und innerer Art, deren tiefste Wurzeln in der unterdrückenden Fesselung des Menschen durch die Abwendung von Gott, also in der Sünde liegen. Was so viel heißt wie: Die jüngste Generation der Exodus-Wanderer sind wir selbst, wenn wir jetzt, in diesen Tagen der Fastenzeit, aufbrechen, um Gottes Ruf zur Freiheit zu folgen.

III
Die heutige erste Lesung nun lenkt unseren Blick zurück an den allerersten Anfang dieser Exodus-Kette, zu Abraham. Die Verse dieser Lesung muten uns ungeheuer fremd, ja archaisch an. Aber wenn man sich die Mühe macht, ein Stück weit in den hebräischen Wortlaut einzudringen, dann merkt man allmählich, dass da nicht ein mehr oder weniger primitiver Mythos erzählt wird, sondern dass es um ein inneres Erlebnis des Abraham geht, das in prophetischer Sprache erzählt wird.

Das gilt gleich für den Anfang der Stelle: Sie heißt wörtlich: Und siehe, sein (Gottes) Wort an ihn (Abraham) [im Gesichte] wie folgt. Von keinem leiblichen Schauen also wird jetzt erzählt, sondern von einer Vision, in der dem Abram gesagt wird: Stell’ dir einmal den bestirnten Himmel vor – stell ihn Dir vor! Eine Weile ist Abraham mit geschlossenem Auge versunken in den vorgestellten Anblick der Milchstraße und der Sternenheere und er fängt zu staunen an. – Und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst!, hört Abraham und fühlt dahinter ein leises: Du kannst es gar nicht, nicht wahr?, dem er in stiller Ehrfurcht nur zustimmen kann. – Schau Abraham, so zahlreich wird dein Same, deine Nachkommenschaft sein. Der gestirnte Himmel über ihm, Gottes lautlos in Abrahams Herz gesprochenes Wort: Das Bild der funkelnde Sterne vor Abrahams innerem Auge zieht dieses Wort in seine Leuchtkraft hinein und lässt die Zusage ihm, dem Alten, immer noch Kinderlosen, zu lichtvoller Gewissheit werden.

Genau so beschreibt unsere Stelle die Reaktion Abrahams: Er glaubte dem Herrn und der Herr rechnete es ihm als Gerechtigkeit an, sagt unsere christliche – leider schlechte – Übersetzung und lässt uns dabei viel zu schnell an Paulus, an Martin Luther und einige Grundworte von deren Theologie denken, Stichwort „Rechtfertigungslehre“. Aber darum geht es hier überhaupt nicht. An dieser Stelle steht nur: Da verließ sich Abraham auf IHN und er rechnete es ihm zum Guten an. Für das Wort, das wir so schnell mit „glauben" übersetzen, steht im Hebräischen ein Ausdruck, der besagen will: Da ist einer fest, sicher, verlässlich und vertrauenswürdig, einer, auf den man unbedingt bauen kann, auch die Wörter für Wahrheit und Treue kommen aus diesem Wortstamm – und sie meinen im Kern ein und dasselbe. Abraham kann im Anblick der Sternenlichter, deren Leuchten das Zusagewort anstrahlt und verklärt, die unerschütterliche Gewissheit wagen, dass sein Stamm nicht abreißen, sondern eine Zukunft haben wird, die sich in der Unermesslichkeit des Sternenhimmels spiegelt. Wenn man dabei dennoch schon an viel Späteres denken möchte, dann wären nicht Paulus und Luther die richtige Adresse, sondern – kein Geringerer als der Philosoph Immanuel Kant, der gegen Ende seiner Kritik der praktischen Vernunft geschrieben hat:

"Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise suchen und blos vermuthen; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem bewusstsein meiner Existenz."1

So war es auch bei Abraham: Gottes Stimme in ihm und die Vision des Sternhimmels, zu dem er aufschauen soll, geben ihm die unerschütterliche Gewissheit, dass er nicht nur einen leiblichen Erben haben, sondern dass ein vom ihm abstammendes Volk das Spiegelbild des Himmels sein wird, wie der jüdische Exeget Benno Jacob formuliert.2

Wollte man, was da zwischen Abraham und seinem Gott geschieht, in ein Zwiegespräch zwischen beiden fassen, dann lautete es wohl ungefähr so: Dank Dir, mein Gott, Dir traue ich! Und Gott darauf: Und ich danke Dir, Abraham, dass Du dich so ganz auf mich verlässt. Das werde ich Dir nie vergessen! – Das steht hinter unserem armseligen Wörtchen Gerechtigkeit: ein Gott, der "danke" sagt zum Menschlein.

Aber jetzt, im nächsten Vers, sagt dieser Gott – von Abraham ungefragt – noch etwas dazu: Ich bin der, der ich dich aus Ur in Chaldäa herausgeführt habe, dir dieses Land als Erbe zu geben. Selbst wer die Bibel nur grob kennt, horcht freilich auf, wenn er von einem Herausgeführt-Werden hört: Ist dies doch das Kennwort des für Israel schlechthin fundamentalen Ereignisses des Auszugs aus Ägypten, das so zentral das Selbstverständnis der Christen mitbestimmt, dass seine Erzählung zu den unverrückbaren Angelpunkten der Osternacht gehört. Gemäß unseren Versen aber ist dieser Exodus bereits eine Wiederholung, weil auch schon die Geschichte Abrahams mit einem Auszug, einer Herausführung begonnen hat. Das aber bedeutet zum einen, dass dem Abraham das Geschenk des gelobten Landes von allem Anfang an zugedacht und alles Weitere darauf hin angelegt war. Und zum anderen: Wenn Ur in Chaldäa für Abraham das ist, was Ägypten für Israel bedeutet, muss es in Ur für Abram gefährlich gewesen sein. Wie dort Israel, muss auch da dem Abraham etwas gedroht haben.

Bereits in der Bibel selbst und dann in der ganzen Geschichte der jüdischen Schriftauslegung des Talmud haben die Gottesgelehrten darüber nachgesonnen, warum denn Gott den Abraham aus Ur weggerufen habe. Und sie kommen zur einhelligen Überzeugung: Das treibende Motiv hinter diesem Fortgang und Aufbruch ist die Suche nach dem wahren Gott. Der Talmud zeichnet Abraham dabei geradezu als Götzenkritiker und Aufklärer und das gelobte Land als den Ort, wo Gottes Wahrheit zur Erscheinung kommen kann. Erreicht wird es nur durch Anfechtung und Bedrohung hindurch, durch den ungesicherten Aufbruch ins Unbekannte. Aber weil Gott ist, wie er sich zeigt, kann Abraham sicher sein, jenes Ziel zu erreichen – und sei es in den Generationen seines Stammes. Und wir können Gottes Wahrheit sicher sein, die seine Treue ist – und sei es über die Generationen von Geschichten hinweg, die uns mit Abraham verbinden.

IV
Genau das ist der Sinn der so rätselhaften Verse, die jetzt noch folgen. In ihnen soll die Verheißung des Landes genauso einprägsam werden wie soeben zuvor die Verheißung von Nachkommen durch das Bild des strahlenden Sternenhimmels. Immer noch geht es um eine Vision, einen tiefen, unruhigen Schlaf, kein Wunder bei dem, was Abraham schaut. Auf Gottes Geheiß nimmt er Tiere, Groß- und Kleinvieh sieht er sich in Hälften teilen, die Vögel lässt er ganz. Das hat überhaupt nichts mit einem Opfer zu tun. In beiden Zeichen versinnbildet sich vielmehr der dramatische Weg der Freiheit, den Abrahams Nachkommen gehen werden: Zerschneiden steht für Gewalt und Unterdrückung; und der Vogel ist das Sinnbild für Freilassung und Freiheit, unversehrte Freiheit, darum sind die Tauben nicht gehälftet. Und dann Rauchofen und Feuerfackel, die zwischen den Tierhälften hindurchgehen: Feuer, Rauch, das ist wie Dornbusch, wie Wolken- und Feuersäule, wie Gewittergewölk und Feuerblitz auf dem Sinai, das ist verborgen-offenbar DER Heilige. Gott selbst geht auch durch die Zeit der Knechtschaft hindurch und eint die Zerteilten. Und wie getrennte Hälften dadurch, dass sie von einander weggerückt sind, umso mehr aufeinander verweisen und nacheinander verlangen, so offenbart sich Gottes Treue umso mehr in der Bedrängnis, weil er selbst sich in sie hineinbegibt und so den Bund mit den seinen unwiderruflich macht. Das schaut Abraham, das wird Mose erfahren am Dornbusch, wo sich Gott in den schmerzenden Dornen offenbart, weil er mit seinem Volk mitleidet. Aber auch in der großen Danklitanei von Psalm 136 kommt genau das gleiche Wort für „zerschneiden“ vor, wo Israel jubelt, dass sein Gott das Schilfmeer in zwei Teile teilte, so dass es trockenen Fußes hindurchziehen konnte – noch eine Wiederholung der uralten Treuezusage an Abraham: „Denn seine Huld währt ewig“.
Heinrich Schütz hat diese Litanei gleichzweimal vertont, einmal verhalten und dann gegen Ende seines Lebens in derart strahlenden Akkorden, dass man als Christin und Christ das nur noch als Osterjubel verstehen kann.

V
Und in der Tat: Am Tage von Abrahams Vision einst beginnt die Epoche, deren tiefster Sinn am Ostermorgen offenbar wird. Auf dem Tabor, dem Berg der Verklärung, tut sich der erste Spalt der Tür zu dieser sich vollendenden Offenbarung auf. Warum diese Vision zwischen gerade untergehender Sonne und schwärzester Nacht geschieht, hat später der Dritte Jesaja aus seiner Exilserfahrung heraus unübertrefflich in Worte gefasst: Siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Dunkelheit die Nationen. Doch über Dir strahlt der Herr, über dir erscheint seine Herrlichkeit – mag die Sonne sinken, ja gänzlich untergegangen sein und mögen nicht einmal mehr die Sterne scheinen, so wird ER dir zum Licht, zu deiner Sonne, die nicht untergeht. In Gott steht Nacht für Licht, Untergang für Neubeginn, Tod für Leben. Im Grunde ist das alles zusammengenommen eine das Erste Testament, den Talmud und das Neue Testament übergreifende theologische Geschichtsphilosophie.

Deshalb kann man christlich ohne Übertreibung sagen: Schon Abraham hat ein Osterversprechen bekommen. Jesus hat es besiegelt, darum ist er der Verklärte, Gekreuzigte und Erhöhte. Und wenn Gottes Verheißungen so unwiderruflich sind, wie dem Abraham von Anfang zugesagt – welchen Grund hätten wir, ihnen nicht zu trauen?


1Kant: Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Beschluss. AA V. 161-162.
2Vgl. Jacob, Benno: Exodus. (1934) Hg. in Zusammenarbeit mit den Leo Baeck Institut. Stuttgart 2000. 394.