Maria lauretanisch

Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel B: 1 Chr 15, 3-4. 15-16; 16, 1-2 + Lk 11, 27-28

I
Zahllose Male seit Jahrhunderten gebetet und gesungen, hundert-fach vertont – viele von Ihnen kennen das Gebet, von dem ich spre-che, es steht auch in unserem Gotteslob, Nr. 566: Die Lauretanische Litanei, Anrufungen der Gottesmutter Maria, benannt nach dem latei-nischen Namen des Ortes, wo sie wohl entstand, dem Städtchen  Lauretana, italienisch Loreto. Das ist einer der wichtigsten Pilgerorte der katholischen Welt, weil sich dort in der großen Basilika die Santa Casa befindet, das Heilige Haus aus Nazaret, in dem Maria auf-wuchs und vom Verkündigungsengel besucht wurde und das der Legende nach von Engeln nach Loreto gebracht worden sein soll.

II
Diese Lauretanische Litanei besteht aus drei großen Strophen: Die erste ruft Maria auf vielfältige Weise als Mutter an, die dritte nennt sie ebenso vielfältig Königin aller Heiligen. Die mittlere Strophe aber um-fasst Anrufungen, die uns rätselhaft vorkommen mögen, so etwa: du geheimnisvolle Rose, du starker Turm Davids, du Morgenstern usw. – einige davon sind übrigens da drüben in den Fenstern der Marien-kapelle unserer Kirche symbolisch dargestellt. Etliche dieser Anru-fungen gehen auf das Alte Testament zurück. Und eine davon hat mit der (ersten) Lesung zu tun, die wir vorhin gehört haben: Maria, Du Bundeslade Gottes, bitte für uns!

III
Bundeslade? Was hat Maria mit der Bundeslade des Alten Testa-ments zu tun? Seit das Evangelium verkündigt wird, haben die Pre-diger nach Zusammenhängen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament gesucht. Denn Sie wussten ja: Jesus war Jude. Sein Gott war der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, wie er mehrfach selbst sagt. Das bedeutet: Er steht mit seiner Lebensgeschichte ganz und gar im Strom des Glaubens seines Volkes Israel. Daher finden sich – so dachten schon die frühen Prediger – in den Überlieferungen des Alten Bundes Hinweise, Ahnungen, gleichsam Vorausbilder, die be-reits auf Christus hindeuten. Und dazu gehört auch die Verbindung von Maria und der Bundeslade.

IV
Die Bundeslade gilt dem Volk Israel seit der Zeit des Auszugs aus Ägypten und der Wanderung ins gelobte Land als das Heiligste des Heiligen: Auf Gottes Geheiß wird sie aus Holz angefertigt und ver-goldet, sozusagen ein kleiner tragbarer Tempel. In ihrem Innern be-finden sich die zwei Steintafeln mit den Geboten Gottes vom Sinai und der Stab Aarons, mit dem dieser Bruder des Mose immer wieder Wunder wirkte. Das ist zunächst ein wunderbares Inbild, wer und wie dieser Gott, um den es da geht, ist: Er ist ein mitwandernder Gott, ei-ner, der treu mit seinem Volk zieht, seine Wege und Geschicke teilt. So ist die Lade Sinnbild des unkündbaren Bundes, den Gott mit sei-nem Volk geschlossen hat. Später wird die Bundeslade dann im Bundeszelt stehen, von dem unsere Lesung erzählte. Und noch spä-ter im Tempel von Jerusalem. Der berühmte englische Kardinal Newman sagte einmal über sie: „Sie wird Haus oder Palast genannt, weil sie die Wohnung des großen Königs, die Wohnung Gottes selbst war.“1  So hüllt die Bundeslade die wunderbare Gegenwart Gottes ein und trägt sie durch Welt und Zeit.

V
Genau darin erblickten die Kirchenväter und dann die Verfasser der Lauretanischen Litanei ein Vorausbild Mariens: Klein und unschein-bar wie die Bundeslade hüllt ihr Leib den kommenden Gottessohn ein, sie trägt ihn durch ihre kleine Welt, zuerst zu ihrer Verwandten Elisabeth, dann nach Betlehem. Darauf dann nach der Geburt trägt sie ihn immer noch, ihn vor den Häschern des Herodes verbergend, nach Ägypten und wieder zurück. Wahrlich ein wandernder mensch-licher Tempel, der das Allerheiligste – Gottes Gegenwart in Fleisch und Blut – birgt und beschützt.

So wird Maria zum menschlichen Inbild und Sinnbild der Gegenwart des Lebens, das von Gott kommt. Aus ihr kommt jenes Leben, das nie mehr vergehen wird, jener, der von sich sagen wird: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Jenes Leben, das darin besteht, dass ein Mensch sich diesem Jesus gänzlich anvertraut, indem er auf das hört, was er von Gott und vom Leben sagt, und indem er das tut, was dieser Jesus tut, also in seine Nachfolge eintritt. Wer beides ganz tut, gewinnt dieses ewige, unvergängliche Leben, in das alles eingeht, was dieser Mensch einst mit Leib und Seele, gesucht, getan, gelebt und gelitten hat. Gerade so, wie Jesus im heutigen Evangeli-um der Frau antwortet, die Maria ihrer leiblichen Mutterschaft wegen seligpreist. Er erwidert ihr: Selig sind vielmehr die, die das Wort Got-tes hören und es befolgen. Der Kirchenvater Augustinus hat das einmal in einen kühnen Spruch gefasst, er schrieb mit Blick auf Maria und die Gläubigen – also auch uns:

„Plus est, quod est in mente, quam quod portatur in ventre.“ [Was im Geist ist, ist mehr als das, was im Leib getragen wird]. 2

VI
So ist Maria zur menschlichen, mit Sinnen wahrzunehmenden Über-bringerin des unvergänglichen Lebens geworden, das von Gott kommt und an dem sie selbst eben dieses Botendienstes wegen auf herausragende Weise Anteil hat. Dem hat unser Glaube auf vielfälti-ge Weise Ausdruck verliehen. Es beginnt damit, dass wir Maria „Got-tesgebärerin“ nennen. Es setzt sich darin fort, dass Maria seit je in allen Nöten als die große Fürbitterin angerufen wird, gerade in den Gebrechen, die oft unser irdisches Dasein beschweren – denken Sie nur an die buchstäblich nicht mehr zählbaren Votivgaben oder Votiv-bilder an den großen Marien-Wallfahrtsorten, hier bei uns in Altötting, in Lourdes und Fatima. Oder nehmen Sie die Verehrung der Jung-frau von Guadalupe in Mexico-City, dem größten Marienwallfahrtsort der Welt. Und es endet damit, dass wir am heutigen Fest Mariä Himmelfahrt die Aufnahme der Gottesmutter in den Himmel mit Leib und Seele feiern – weil wir aus der Heiligen Schrift gewiss sein dür-fen, dass ein Mensch, der wie Maria ganz geglaubt, also ohne Vor-behalt für Gott ganz Ohr war, also auf ihn gehört und für ihn gelebt hat, – dass ein solcher Mensch auch mit allem, was zu diesem sei-nem auf Gott gerichteten Leben gehört, also auch dem Leib, in Got-tes Ewigkeit eingegangen ist.

VII
Gerade an der eben erwähnten Jungfrau von Guadalupe leuchtet dabei noch etwas in besonderer Weise auf. Sie wird liebevoll „More-na“, also Mohrin genannt, weil ihr Bildnis sie dunkelhäutig zeigt. Ma-ria, so die Überlieferung, ist damals einem jungen Indio in Gestalt ei-nes dunkelhäutigen Mädchens erschienen, just an einem Ort, wo vorher die aztekische Göttin Tonantzin verehrt wurde. „Tonantzin“ heißt übersetzt „verehrte Mutter“ und war die wichtigste Göttin im vorspanischen Mexiko als Göttin des Lebens. Für Christen ist das mit dieser Gestalt verbundene uralten Suchen nach dem Leben und die Ehrfurcht vor ihm gleichsam in die Gestalt Mariens eingeflossen und hat in ihr sozusagen einen geistigen Ort gefunden. Ganz ähnlich in Kuba, wo Maria bis heute die Züge der „Patcha Mama“ trägt, der Mutter Erde, und auch in ihrer Gestalt dargestellt wird. Oder im Ägyp-ten der Antike die Göttin Isis, mit ihrem Sohn, dem Horus-Knaben auf dem Arm, auf der Mondsichel stehend und manchmal eine Schlange niedertretend – auch sie einst die Göttin des Lebens und der Todes-überwindung. Für Christinnen und Christen ist das alles kein heidni-scher Unfug, sondern so etwas wie ein ahnungsvolles Vorausbild und Vorspiel dessen, was wir uns in Maria als geschenkt glauben.

V
So vermag uns Maria gerade im Sinnbild der Bundeslade des Got-tes, der treu mit seinen Geschöpfen geht und ihr Leben schützt, mit Menschen anderer Kulturen und Religionen verbinden und an die so unantastbare wie unverlierbare Würde unseres irdischen, endlichen Daseins zu erinnern. Das heutige Fest von Herzen zu feiern heißt darum auch so viel wie: nicht zulassen können, dass menschliches Leben verachtet, vertrieben, vernichtet wird. Denn es steht im Schutz des Gottes, der mit seinen Geschöpfen geht – auch über das Mittel-meer hinweg, auch an den geschlossenen Schlagbäumen. Das Fest Mariä Himmelfahrt ist darum nichts Geringeres als Gottes eigenes Protestzeichen wider alle Verachtung und Vernichtung von Leben. Und auch die anderen, die scheinbar oft Fernen wissen das, gleich, ob sie Maria „Morena“, „Patcha Mama“ oder „Isis“ nennen. Durch Maria sind sie alle Geschwister für uns. Sie sind doch wie wir!


1Newman, John Henry: Der Maimonat. Mainz 1921. 15.
2AUGUSTINUS: Sermo XXV. De verbis evangelii Matth. XII, vers 41-50. Patrologia Latina 46. Sp. 938.