Die Heilige Woche der Philosophen

Das Mahl der Freiheit und Versöhnung – und ein Stachel im Fleisch

Gründonnerstag C: (Ex 12, 1-8. 11-14)

I
Jetzt sind wir eingetreten in die Feier der Heiligen Drei Tage. Und gleich die erste Lesung aus dem Buch Exodus macht klar, dass uns dieses Thema „Aufbruch“ und „Auszug“, dem wir schon seit dem ersten Fastensonntag nachspüren, auch weiterhin begleitet. Aber es tritt jetzt zurück vor dem, was wir mit dem Palmsonntag begannen: Nämlich Spuren auszuloten, auf denen Philosophen und Philosophinnen dem Mysterium Pasquale nachspürten. So furchtbar viele sind das nicht gewesen. Die großen kulturellen Auseinandersetzungen mit Abschied, Sterben und Auferstehen fanden vielmehr – und in kaum zu überblickender Dichte – in der Literatur, der Dichtung, der Musik und vor allem in der bildenden Kunst, speziell in der Malerei, statt. Das gilt bis heute.

II
Dennoch gibt es da eine Ausnahme, nämlich einen Philosophen, der sich als Student auf faszinierende Weise mit dem Gründonnerstag, mit dem Abendmahl beschäftigt. Das ist der junge Hegel. In zwei seiner ganz frühen Schriften kommt er darauf zu sprechen: in seinem Das Leben Jesu, einer Art resümierenden Nacherzählung speziell des Johannesevangeliums, und in der Fragmentensammlung Der Geist des Christentums und sein Schicksal. Hegel spricht da in durchaus aufklärerisch-nachkantischen Rhetorik, aber dennoch ist ihm darum zu tun, das „Darüber hinaus“ des Abendmahls über ein normales Freundschaftsessen zur Geltung zu bringen, man könnte sagen: Er möchte einführen in das Mystische des Abschieds Jesu von den Seinen. Und besonders aufschlussreich ist, wie er dabei die Abschiedsworte ins Genre seines eigenen modernen Denkens rekapituliert. Nach dem gemeinsamen Essen von dem einen Brot und dem Trinken aus dem einen Kelch, sagt der Hegelsche Jesus den Abendmahlsjüngern

„Behaltet mich in eurem Angedenken, der sein Leben für euch hingab, und mein Andenken, mein Beispiel sei euch ein kräftiges Stärkungsmittel zur Tugend. (…) Ich nenne euch nicht mehr Schüler oder Zöglinge, diese folgen dem Willen ihrer Erzieher, ohne oft den Grund zu wissen, warum sie so handeln müssen, ihr seid zur Selbständigkeit des Mannes, zur Freiheit eigenes Willens erwachsen, aus eigener Tugendkraft werdet ihr Früchte tragen, wenn schon der Geist der Liebe, die Kraft, die euch und mich begeistert, dieselbe ist“1,

so Hegel in seinem Leben Jesu. Das ist alles nicht so furchtbar tiefgründig oder sprachlich elegant – und trifft dennoch den zentralen Punkt der christlichen Botschaft, der sich später noch als Herzmitte des ganzen Ostergeheimnisses herausstellen wird: die Freiheit.

In einem der erwähnten Fragmente wendet Hegel diesen Gedanken ins Bildlich-Existentielle:

Wenn ein Araber eine Tasse Kaffee mit einem Fremden getrunken hat, so hat er damit einen Freundschaftsbund mit ihm gemacht. Mit jemand essen und trinken ist ein Akt der Vereinigung und eine gefühlte Vereinigung selbst, nicht ein konventionelles Zeichen.
(…)
Das gemeinschaftliche Nachtessen Jesu und seiner Jünger ist an sich schon ein Akt der Freundschaft; noch verknüpfender ist das feierliche Essen vom gleichen Brote, das Trinken aus dem gleichen Kelche; auch dies ist nicht ein bloßes Zeichen der Freundschaft, sondern ein Akt, eine Empfindung der Freundschaft selbst, des Geistes der Liebe. (…) indem Jesus das an alle auszuteilende Brot und Wein seinen für sie gegebenen Leib und Blut nennt, so ist die Vereinigung nicht mehr bloß empfunden, sondern sie ist sichtbar geworden, sie wird nicht nur in einem Bilde, einer allegorischen Figur vorgestellt, sondern an ein Wirkliches angeknüpft, in einem Wirklichen, dem Brote, gegeben und genossen.“2

Für einen in der Wolle gefärbten Protestanten wie Hegel klingt das alles doch ziemlich katholisch. Und nochmals das Freiheitsmotiv. Da sagt Jesus beim Abschied von den Seinen an den himmlischen Vater gerichtet:

„Die Liebe zu dir hat mir Freunde zugeführt, welche es einsehen gelernt haben, dass ich nicht etwas Fremdes oder Willkürliches den Menschen aufdringen wollte, sondern dass es dein Gesetz ist, was ich sie lehrte, das still, nur verkannt von den Menschen, in aller Busen wohnt. Nicht durch etwas Eigentümliches oder Auszeichnendes mir Ehre zu erwerben, sondern die verlorne Achtung gegen die weggeworfne Menschheit wiederherzustellen, war meine Absicht – und der allgemeine Charakter vernünftiger Wesen, die Anlage zur Tugend, die allen zuteil geworden ist – mein Stolz.“3

So wird für den jungen Hegel das Letzte Abendmahl des Gründonnerstags zur Geburtsstunde der christlichen Freiheit, einer Freiheit, die nur aus der Liebe wachsen kann und den Menschen zum wahren Subjekt werden lässt nicht gegen die andern, sondern durch sie und wechselseitig mit ihnen in der Liebe.

III
Wie bereits gesagt: Viele waren es nicht, die den Gründonnerstagabend philosophisch meditiert haben, aber dann doch wieder so viele, dass ich mich streng beschränken muss und darum nur noch zwei Zeugen aufrufe, einen ganz nahe bei Hegel, einen anderen diametral verschieden von ihm und unendlich weit entfernt von dem, was wir soeben aus Hegel vernommen haben.

Der Erste, der nahe, ist Hegels Stubenmitbewohner, Studienfreund und Mitphilosoph Friedrich Hölderlin, der – obwohl Dichter – zugleich ins innerste Zentrum der modernen Philosophie gehört. Eines jedenfalls ist grottenfalsch, was im Umfeld der Heidegger-Schule aufkam: dass Hölderlin eine Art Neuheide sei, weil der etwa überzeugt war, dass auch die eleusinischen Mysterien das Ostergeheimnis andeuten und dass eine tiefe Verwandtschaft zwischen Orpheus und Christus besteht: beide sind in die Unterwelt hinabgestiegen, um die Bande des Todes zu zerbrechen. Das war kein Synkretismus, sondern eine christliche relecture der heidnischen Mythen, auf dass an diesen die verhüllte Präsenz des Christusgeheimnisses aufleuchte. Und genau das tut Hölderlin auch mit Blick auf den Gründonnerstagabend – und zwar in seiner berühmten Hymne Brod und Wein, geschrieben etwa um 1800, später überarbeitet. In der achten der neun Strophen kommt Hölderlin auf die Eucharistie zu sprechen:

„Nemlich, als vor einiger Zeit, uns dünket sie lange,
Aufwärts stiegen sie all, welche das Leben beglükt,
Als der Vater gewandt sein Angesicht von den Menschen,
Und das Trauern mit Recht über der Erde begann,
Als erschienen zu lezt ein stiller Genius, himmlisch
Tröstend, welcher des Tags Ende verkündet' und schwand,
Ließ zum Zeichen, daß einst er da gewesen und wieder
Käme, der himmlische Chor einige Gaaben zurük,
Derer menschlich, wie sonst, wir uns zu freuen vermöchten,
Denn zur Freude, mit Geist, wurde das Größre zu groß
Unter den Menschen und noch, noch fehlen die Starken zu Höchsten Freuden, aber es lebt stille noch einiger Dank.
Brod ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte geseegnet,
Und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins.
Darum denken wir auch dabei der Himmlischen, die sonst
Da gewesen und die kehren in richtiger Zeit,
Darum singen sie auch mit Ernst die Sänger den Weingott
Und nicht eitel erdacht tönet dem Alten das Lob.“4

Da deutet der Dichter verhalten auch eine Verwandtschaft von Christus und Dionysos an. Warum tut das Hölderlin? Weil er aus seiner philosophischen Faszination am Geheimnis der menschlichen Vernunft überzeugt ist, dass die wirklich wesentlichen, letzten Dinge zwischen Himmel und Erde, immer größer sind als alle ihre geschichtlichen Gestalten. Und dass deshalb das Geheimnis des Gründonnerstagabends mit dem gebrochenen Brot und dem geteilten Becher nur zu erahnen vermag, wer fühlt, wie dieses Zeichen in einen Tiefenstrom von Glück, Freude und Dank eingelassen ist, der gleichzeitig um den Schmerz und die Trauer menschlichen Daseins weiß. Darum beschließt er die Hymne mit den Versen:

„Ja! sie sagen mit Recht, er söhne den Tag mit der Nacht aus,
Führe des Himmels Gestirn ewig hinunter, hinauf,
Allzeit froh, wie das Laub der immergrünenden Fichte,
Das er liebt, und der Kranz, den er von Epheu gewählt,
Weil er bleibet und selbst die Spur der entflohenen Götter
Götterlosen hinab unter das Finstere bringt.
Was der Alten Gesang von Kindern Gottes geweissagt,
Siehe! wir sind es, wir; Frucht von Hesperien ists!
Wunderbar und genau ists als an Menschen erfüllet,
Glaube, wer es geprüft! aber so vieles geschieht,
Keines wirket, denn wir sind herzlos, Schatten, bis unser
Vater Aether erkannt jeden und allen gehört.
Aber indessen kommt als Fakelschwinger des Höchsten
Sohn, der Syrier, unter die Schatten herab.
Seelige Weise sehns; ein Lächeln aus der gefangnen
Seele leuchtet, dem Licht thauet ihr Auge noch auf.
Sanfter träumet und schläft in Armen der Erde der Titan,
Selbst der neidische, selbst Cerberus trinket und schläft."5

Und auch hier die christliche Spurenlese im Mythos, der zugleich in die Tiefen des Christlichen weist: Am Anfang dieser letzten Strophe das ur-eucharistische Motiv der Versöhnung von Tag und Nacht, Licht und Dunkel, Tod und Leben. Und am Ende trinket und schläft selbst der neidische Cerberus. Der Höllenhund der Totenwelt macht keine Angst mehr, wer vom pharmakon athanasias, dem Heilmittel der Unsterblichkeit, also der Eucharistie gekostet hat.

III
Den zweiten Zeugen, den, der so unendlich weit von Hegel entfernt ist, benenne ich nur noch in wenigen Sätzen, weil er uns schon hinübergeleitet in das Mysterium des Karfreitags: Es ist der russische Religionsphilosoph Lev Sestov. Das war ein Irrationalist der härtesten Klasse. Sestov hat jegliche spekulative Philosophie als Ausdruck diabolischen Hochmuts zurückgewiesen und auf die biblische Offenbarung als einzige Quelle der Wahrheit jenseits aller Verstandesreichweite insistiert. Die – so wörtlich – „biblische Philosophie“6 hat ihre alles bestimmende Mitte im Glauben, alles, was (mit Paulus gesprochen) aus diesem nicht kommt, ist Sünde.7 Der Anschluss der johanneischen Tradition an den philosophischen Logos-Begriff gilt ihm als einer der größten Sündenfälle der Theologie. Glaube hebelt prinzipiell auch die ewigen Vernunftwahrheiten aus, um die die Philosophie von Platon bis Spinoza, Leibniz und Kant zentriert ist. Das damit verbundene Ausweichen vor dem Begriff des Schöpferwillens, für dessen Souveränität es solche notwendigen Wahrheiten nicht geben kann, lässt sie nach Šestovs Überzeugung die wirklichen Dimensionen menschlicher Existenz, wie sie sich im Lachen, Trauern, Verwünschen und Weinen8 geltend machen, gar nicht erreichen.

„Die religiöse Philosophie ist nicht ein Forschen nach einer vorewig existierenden, unveränderlichen Gliederung und Ordnung des Seins, ist nicht ‚Besinnung’. Sie ist auch nicht ein Erfassen des Unterschieds zwischen Gut und Böse, welches der gequälten Menschheit Beruhigung verspricht. Die religiöse Philosophie ist eine unter maßlosen Spannungen, durch Abkehr vom Wissen, durch den Glauben geborene Überwindung der falschen Angst vor dem unumschränkten Willen des Schöpfers, einer Angst, welche unserem Urvater vom Versucher eingeflößt und an uns alle weitergegeben worden ist.“9

Sestov begreift das religiöse Denken als ein Erwachen und Herausgehen, ohne zu wissen wohin. Das ist für ihn Offenbarung. Und diesen Grundakt menschlichen Daseins sieht er versinnbildet in Jesu Gebetsnacht und Todeskampf im Ölgarten von Getsemane. Jesus wird in der Agonie sein bis ans Ende der Welt, sagt er einmal, deshalb dürfen wir nicht schlafen wie die drei Apostel, die in den dogmatischen Schlummer der Vernunft gesunken sind.

Wach bleiben! Wach bleiben! Alle Sicherheiten und Versicherungen fahren lassen! Wenn man sich die momentanen Zeitläufe in Welt und Kirche so ansieht, kann man sich kaum des Verdachts erwehren, dass der Anti-Philosoph Sestov auch etwas Richtiges gesehen hat. Er setzt uns den Stachel, nicht mit einer Versöhnung zufrieden zu sein, die zu billig ist. Deshalb rückt für ihn der Karfreitag in die Mitte des Denkens. Wir aber gehen jetzt mit ihm eine kleine Weile Wachen und Beten, auf dass wir das Dunkel des Karfreitags ertragen können.


1Hegels theologische Jugendschriften. Hg. Herman Nohl. Tübingen 1907. 126.
2Hegels theologische Jugendschriften. 297-298.
3Hegels theologische Jugendschriften. 127.
4Hölderlin, Friedrich: Brod und Wein. In: Studienausgabe. Bd. 2.1. 90-95
5Ebd.
6ŠESTOV: Athen und Jerusalem. 24.
7Vgl. ŠESTOV: Athen und Jerusalem. 24-36.
8Šestov bezieht sich mit diesen Konkretionen auf das, was es nach Spinoza zu vermeiden gilt, um ein vernunftgeleitetes und damit glückliches Leben zu führen. Vgl. ŠESTOV: Athen und Jerusalem. 24-25.
9ŠESTOV: Athen und Jerusalem. 38.