Gotteswanderungen, Kanzeltausch 2018

5. Sonntag nach Trinitatis B: Gen 12, 1- 4a

I
Die kleine Passage aus 1 Mose, die wir soeben hörten, hat mich fasziniert, seit ich Theologie treibe. Dieses wuchtige „Und Gott sprach“, das die Schwelle zwischen der mythisch-poetischen Urgeschichte markiert und dem, was man gern Heilsgeschichte nennt. Denn in der Tat beginnt mit diesem Ruf Gottes an Abram jener geschichtliche Prozess, dessen Vollendung Juden wie Christen bis heute erwarten: die Juden mit dem Kommen des Messias, in Israel und in Teilen des fundamentalistischen Amerikas politisch aufgeladen bis zum Anschlag, die Christen mit der Wiederkunft dessen, den sie seit 2000 Jahren als den gekommenen Messias bekennen.

II
Über einen Satz in diesem Kurztext bin ich schon als Student gestolpert, und später hat er dazu geführt, dass ich mich, obwohl eigentlich in der Philosophie tätig, auch der Homiletik, der Predigtlehre gewidmet habe. Es war der erste Satz unserer Schriftlesung: Und Gott sprach zu Abram: Ziehe fort aus deinem Land usw. Ich stellte mir eine Doppelfrage: Was heißt denn das: Gott spricht? Der jüdische Exeget Benno Jacob gibt darauf die verblüffende Antwort:

„Dass […] ER sprach, ist nicht Ausdruck der Unmittelbarkeit, sondern der Eindringlichkeit, und dass die Art und Weise  der Vermittlung nicht beschrieben sondern der Fassungskraft des Lesers überlassen wird, ist eben die wunderbare Gabe der Tora, von Gott […] zu Kindern wie zu Denkern zu reden. Jene mögen es getrost wörtlich nehmen, diese werden tiefer gehen.“1

Und die zweite Frage: Warum schickt dieser Gott den Abram so mir nichts dir nichts, ohne jede Begründung in die Fremde? Beidem möchte ich mit Benno Jacob im Rücken tiefer nachgehen. Eine Antwort habe ich gefunden, indem ich noch mehr in der Bibel las, nach rückwärts und nach vorne.

III
Hundertfach begegnen uns in der Bibel ja Wendungen wie „und Gott sprach“ oder „Gott spricht“ oder einfach „Wort Gottes“. Aber was heißt das genau: „Gott sprach“? Was dahintersteht, lässt sich tatsächlich in Bezug auf unsere kleine Perikope nachvollziehen – allerdings aus dem Zusammenspiel zweier biblischer Stellen, die in aller Regel beim Lesen als vermeintlich unwichtig übersprungen werden und darum in den Lesungen der Liturgie auch gar nicht vorkommen.

Das Buch Genesis, Kapitel 11,10-32, dieses kurze Gelenkstück zwischen der Urgeschichte und den Geschichten der Erzväter erzählt im Vers 31:

„Terach nahm seinen Sohn Abram, seinen Enkel Lot, den Sohn Harans, und seine Schwiegertochter Sarai, die Frau seines Sohnes Abram, und sie wanderten miteinander aus Ur in Chaldäa aus, um in das Land Kanaan zu ziehen. Als sie aber nach Haran kamen, siedelten sie sich dort an."

Und dann setzt eben Gen 12,1 die Abramsgeschichte mit dem unvermittelten Befehl Gottes an Abram ein, den wir vorhin gehört haben.

An einer ganz anderen Stelle der Bibel – chronologisch und theologisch weit entfernt von der Abramstradition – erhält jener Aufbruch der Terach-Sippe aus Ur und auch die Abramswanderung eine frappierende Interpretation. Sie findet sich im 5. Kapitel des kleinen Buches Judit. Dort wirf Folgendes erzählt: Holofernes, der Oberbefehlshaber des assyrischen Heeres lässt sich, provoziert vom Widerstand Israels, durch Achior, den Anführer der Ammoniter, über das ihm unbekannte Volk der Israeliten informieren. Achior leitet seine Beschreibung folgendermaßen ein:

„Diese Leute stammen von den Chaldäern ab. Sie hatten sich zuerst in Mesopotamien niedergelassen, weil sie den Göttern ihrer Väter im Land der Chaldäer nicht mehr dienen wollten. Sie waren nämlich von dem Glauben ihrer Vorfahren abgewichen und hatten ihre Verehrung dem Gott des Himmels zugewandt, zu dessen Erkenntnis sie gelangt waren. Deshalb hatten die Chaldäer sie aus dem Bereich ihrer Götter vertrieben, und sie waren nach Mesopotamien geflohen, wo sie sich einige Zeit aufhielten. Doch ihr Gott gebot ihnen, ihren Wohnsitz zu verlassen und in das Land Kanaan weiterzuziehen" (Jdt 5, 6-9a).

Als treibendes Motiv für den Aufbruch Terachs und seiner Familie werden also Gottessuche und Gotteserkenntnis benannt. Der neuerliche Aufbruch Abrams vollzieht sich in der Sicht des Buches Judit ganz im Gefälle dieses Motivs – und das bedeutet: Das „Der Herr sprach..." von Gen 12,1 wird im Buch Judit als eine Initiative Gottes verstanden, die unabtrennbar in eine als Suche und Erkenntnis sich vollziehende Gotteserfahrung eingebettet ist.

Diese Deutung kann sich gedeckt wissen von der jüdischen Auslegung der Berufung Abrahams: Die maßgebende Midraschsammlung zum Buch Genesis, Bereschit Rabba, sagt zu Gen 12,1 u.a.:

„Nach Rabbi Chija bar Rabbi Idi von Joppe war Therach ein Götzendiener. Als er einmal ausging und den Abraham als Verkäufer an seiner Statt zurückließ, kam ein Mann und wollte sich ein Götzenbild kaufen. Da sprach Abraham zu ihm: Mensch, wie alt bist du? Er antwortete:
50 bis 60 Jahre. Wehe dem Mann!, rief Abraham aus, der 60 Jahre alt ist und ein Bild anbeten will, was nur einen Tag alt ist. Der Käufer schämte sich und ging seines Wegs. Ein andermal kam ein Weib und trug in ihrer Hand eine Schüssel mit feinem Mehl und sprach zu Abraham:

Geh und bringe es den Götzen als Opfer dar! Abraham nahm einen Stock, zerschlug alle Götzenbilder und legte dann den Stock in die Hand des größten Götzen. Als der Vater wieder zurückkam, fragte er: Wer hat das alles getan? Was soll ich dir es verleugnen, antwortete Abraham, es kam ein Weib, brachte eine große Schüssel mit feinem Mehl und sprach zu mir: Bringe es den Götzen als Opfer dar. Das tat ich, und da entstand ein Streit unter den Götzen, ein jeder sprach: ich esse zuerst, bis endlich dieser Große aufstand, den Stock nahm und sie zerschlug. Was spottest du meiner? sprach der Vater...(und) nahm ... den Abraham und überlieferte ihn dem Nimrod. Dieser sprach zu ihm: Wir wollen das Feuer anbeten (was so viel heißt wie): Ich werde dich ins Feuer werfen, und es mag dich der Gott, den du anbetest, aus ihm retten."

Das ist im Grunde eine poetische Version der ritualisierten Berufungsformel „Und der Herr sprach zu Abram: Zieh fort..." Allein schon die Pointe dieser Auslegung ist besonderer Aufmerksamkeit wert: dass Abraham da unter Einschluss einer guten Portion Humors als kritischer Aufklärer und zugleich nachgerade als Protagonist einer menschlichen Gottsuche, also einer natürlichen Theologie auftritt, die sich zur Offenbarungstheologie transformiert und als solche artikuliert. Das Entscheidende liegt darin, dass sich die geistliche Lektüre eines alttestamentlichen Basistextes als Übersetzung der „Gott spricht..."-Formel in den Kategorien dramatischer Erfahrung zur Sprache bringt, die ein Handeln Gottes als Folge wie Ursache zugleich als inneres Moment ihrer selbst impliziert. Das bedeutet unterm Strich: Wort als „Wort Gottes" ist untrennbar verkoppelt mit dem Selbstsein, modern gesagt: mit der Subjektivität derer, die nach sich selbst fragen.

IV
Es gibt ein literarisches Werk, das eben diesen Zusammenhang in nicht zu überbietender Weise ins Wort bringt: Die Josephsromane von Thomas Mann. Dort hat der Dichter die an sich kurze Josephsgeschichte der Bibel auf schiere 1600 Seiten ausgefaltet, um – als erklärter Agnostiker übrigens – zu zeigen, wie Selbstfindung und Gottesfrage unauflöslich ineinander verstrickt sind.
Schon im einleitenden Vorspiel: Höllenfahrt des ersten Bandes sagt Mann von Abram, eine „Gottesnot“ habe ihn zum Verlassen seiner Heimat und zum Nomadendasein getrieben und gibt damit übrigens genau jene Interpretation von Gen 11 wieder, die die bereits erwähnte innerbiblische das Buch Judith (5, 6-9a) vornimmt, in der für uns einschlägigen Spitzenpassage schreibt Mann über Abraham:

„So hatte Abraham Gott entdeckt aus Drang zum Höchsten, hatte ihn lehrend weiter ausgeformt und hervorgedacht und allen Beteiligten eine große Wohltat damit erwiesen: dem Gotte, sich selbst und denen, deren Seelen er lehrend gewann. Dem Gotte, indem er ihm Verwirklichung in der Erkenntnis des Menschen bereitete, sich selbst und den Proselyten aber namentlich dadurch, dass er das Vielfache und beängstigend Zweifelhafte auf das Eine und beruhigend Bekannte zurückführte, auf den Bestimmten, von dem alles kam, das Gute und das Böse, das Plötzliche und Grauenhafte sowohl wie das segensvoll Regelmäßige, und an den man sich auf jeden Fall zu halten hatte. Abraham hatte die Mächte versammelt zur Macht und sie den Herrn genannt – ein für allemal und ausschließlich […].“2

Man muss dabei die Doppelrichtung des Prozesses im Blick behalten: Durch das Hervordenken Gottes, durch welches Abraham „gewissermaßen […] Gottes Vater“3 wird, aber was da wird, wirkt als durch und durch dringende Lebensmacht auf den Abraham und die Seinen zurück. Nochmals wörtlich:

„Denn ihm gab Gott die Unruhe ins Herz um seinetwillen, dass er unermüdlich arbeite an Gott, ihn hervordenke und ihm einen Namen mache, zum Wohltäter schuf er sich ihn und erwiderte dem Geschöpf, das den Schöpfer erschuf im Geiste, die Wohltat mit ungeheuren Verheißungen. Einen Bund schloß er mit ihm in wechselseitiger Förderung, dass einer immer heiliger werden sollte im andern, und verlieh ihm das Recht der Erberwählung, Segens- und Fluchgewalt, dass er segne das Gesegnete und Fluch spreche den Verfluchten. Weite Zukünfte riß er auf vor ihm, worin die Völker wogten, und ihnen allen sollte sein Name ein Segen sein.“4

Und weil sich Abraham dieser Herausforderung stellt, wird er als

[…] ‚Urwanderer‘ […] zum Vorbild einer Befreiung des Menschen aus der Zerstreutheit in die Vielzahl möglicher Lebensentwürfe, die alle gleich unbedeutend und bequem sind, indem er sich selbst unendlich wichtig nimmt und der neuartigen Gotteserfahrung folgt, die von dieser unbedingten Selbstachtung begründet wird: ‚Ich, Abraham, und in mir der Mensch darf ausschließlich dem Höchsten dienen.‘ Das Neuartige des Ich-Sagens und der Selbsterkenntnis Abrahams besteht somit darin, dass er sich darauf besinnt, was für ihn als Menschen so absolut wichtig ist, dass es keine Erniedrigung, sondern eine Erhebung bedeutet, ihm zu dienen.“5

Mit Thomas Mann narrativ gewendet:

„Gottes gewaltige Eigenschaften waren zwar etwas sachlich Gegebenes außer Abraham, zugleich aber waren sie auch in ihm und von ihm; die Macht seiner eigenen Seele war in gewissen Augenblicken kaum von ihnen zu unterscheiden, verschränkte sich und verschmolz erkennend in eines von ihnen, und das war der Ursprung des Bundes, den der Herr dann mit Abraham schloss und der nur die ausdrückliche Bestätigung einer inneren Tatsache war.“6

Thomas Mann spricht mit Blick auf das Verhältnis von Gott und Mensch von „‘Außennähe“7.  Das scheint mir eine geglückte Chiffre dafür, dass es außer oder neben Gott als dem Höchsten, dem Absoluten nichts geben kann, er darum – weil alles in ihm sein muss – er in allem ist, ohne je dieses oder jenes zu sein, ein Un-Ding eben, um mit Schelling zu sprechen, und un-be-ding-bar.

Und so wird die kleine, uralte Introduktion der Heilsgeschichte aus 1 Mose zu einem Startmodem, das uns Spätmoderne in die Zukunft eines angemessenen Gottesgedankens weist.


1 Jacob, Benno. Das Buch Genesis. Hg. in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institut. Stuttgart 2000. 110.
2 Mann, Thomas. Joseph und seine Brüder. Der zweite Roman: Der junge Joseph. 9. Aufl. Frankfurt a. M. 2000. 42.
3 Ebd, 44.
4 Mann, Thomas. Joseph und seine Brüder. Der vierte Roman: Joseph, der Ernährer. 13. Auflage. Frankfurt a. M. 2006. 279-280.
5 Hutter: Narrative Ontologie. 143
6 Mann, Thomas. Joseph und seine Brüder. Der vierte Roman: Joseph, der Ernährer. 13. Auflage. Frankfurt a. M. 2006. 428.
7 Hutter: Narrative Ontologie. 146