Gottesmedium Brot

17. Sonntag B: 2 Kön 4, 42- 44  +  Joh 6, 1-15

I
Fünf Sonntage lang lesen wir jetzt das berühmt-berüchtigte sechste Kapitel des Johannes-Evangeliums, das Brot-Kapitel. Es beginnt mit der Geschichte der Brotvermehrung, die auch die anderen Evangelisten berichten, dem schließt sich die Brot-Rede Jesu in der Synagoge von Kafarnaum an, die in einem der Ich-bin-Worte des Herrn aufgipfelt: Ich bin das Brot des Lebens – und wer von seinem Fleische esse und sein Blut trinke, der gewinne das ewige Leben. Der Streit, der darüber unter den Zuhörern ausbricht, gipfelt schließlich in der Spaltung der Jünger, weil vielen von ihnen unerträglich dünkt, was Jesus da sagt. Und es war so schlimm, dass er selbst die Zwölf fragte, ob denn auch sie gehen wollten.

II
Dieses Stück Evangelium hat es fürwahr in sich. Johannes hat es buchstäblich mit Stolpersteinen in Form gezielt erzeugter Missverständnisse bestückt, um diejenigen, die es hören oder lesen, in ein Nachdenken zu verstricken, die sie in den Innenraum des Geheimnisses Jesu führt. Das gelingt aber nur, wenn man die 71 Verse dieser Perikope in weitere, ja weiteste Kontexte stellt, von denen her sie sich zu erhellen vermag. Diese weitesten Kontexte markieren die alttestamentlichen Passagen, die dem Johannes-Evangelium heute und an den folgenden Sonntagen an die Seite gestellt werden. Auf den ersten Blick wirkt es, als seien diese Stellen einer äußerlichen Ähnlichkeit wegen mit dem von Johannes Erzählten zugewählt. Wir werden sehen, dass das Gegenteil der Fall ist. Zuvor aber und besonders heute kann uns ganz ein naheliegender, ja geradezu junger Fall von Zusammenhang weiterhelfen.

III
Für diesen jüngsten Kontext ist kein Geringerer als Papst Franziskus verantwortlich. Vielleicht erinnern Sie sich: Anlässlich einer Neufassung der Vaterunser-Übersetzung in der französischen Kirche hatte er angemerkt, dass er die Wiedergaben des Herren-Gebets in anderen Sprachen – auch der deutschen – unglücklich finde, besonders, was die vorletzte Vaterunser-Bitte, das „Und führe uns nicht in Versuchung“ betreffe, weil das so furchtbar missverstanden werden könne – als würde Gott gezielt den Menschen in die Gefahr des Sündigens führen. Darüber entspann sich über Wochen eine lebhafte Debatte von Fachleuten, kirchlichen Autoritäten und Laien bis in die Tageszeitungen hinein. Das hatte es schon lange nicht mehr gegeben.

IV
Eine Wortmeldung stach dabei besonders heraus: Der katholische Theologe und Philosoph Eckehard Nordhofen wies darauf hin, dass das eigentliche Problem gar nicht in dem Satz über die Versuchung stecke, sondern in einer unzureichenden Übersetzung der Brot-Bitte des Vaterunsers – und dass, wenn man diese berichtige, auch die Versuchungspassage ihre Anstößigkeit verliere. Genaue sprachliche Untersuchung entdeckt nämlich, dass die Brotbitte, wie wir sie bis heute sprechen – „Unser tägliches Brot gib uns heute“ – in die Irre geht. Denn von „täglich“ steht da im griechischen Text, der auf eine aramäische Urfassung zurückgeht, nichts. Nicht von „täglichem Brot“ ist da nämlich die Rede, sondern griechisch von „ton artòn epiousion dos hemin hemeron“. Dieses Eigenschaftswort „epiousios“ kommt einzig an dieser Stelle der Bibel vor und ist auch sonst in griechischen Überlieferungen unbekannt. D.h. es wurde bei der Übersetzung ins Griechische neu geschaffen, ja erfunden, um etwas völlig neues, nie Dagewesenes zum Ausdruck zu bringen. Der Kirchenvater Hieronymus bestätigt das in seiner lateinischen Übersetzung des Vaterunsers, wenn er von einem „panis supersubstantialis“ schreibt. Buchstäblich übersetzt heißen epiousios und supersubstantialis „überwesentlich“. Wer das Vaterunser spricht, bittet also täglich um das überwesentliche Brot, um das, welches über das sichtbar Vorliegende der Welt hinausgeht, also um eine himmlische Speise – gerade so wie einst Israel auf der Wüstenwanderung heraus aus dem Sklavenhaus Ägypten hinüber in die Freiheit des gelobten Landes täglich um das Manna gebetet hat – und es erhalten hat, um das Abenteuer des Exodus durchzuhalten und zu bestehen.

Die ersten Lesungen der kommenden Sonntage werden uns zeigen, dass das Wunder der Brotvermehrung aus dem heutigen Evangelium genau in dieser Sinnrichtung zu verstehen ist: dass in der Gegenwart Jesu das scheinbar Wenige, das da ist – fünf Brote und zwei Fische – in der Situation des Mangels für die Vielen, die fünftausend Männer, auf wunderbare Weise nicht nur reicht, sondern auch noch zwölf Körbe übrig bleiben: Zeichen des Überflusses, mit dem Israel schon die messianischen Zeiten zu charakterisieren pflegte.

Das ist der Rückverweis auf das wunderbare Himmelsbrot aus dem Exodus, das Israel gerettet hat und immer wieder nochmals rettet, wie etwa eben auch die heutige kleine Lesung bezeugt, die vom Propheten Elischa handelt. Elischa war der Schüler des Propheten Elija. Er gilt als einer der ganz, ganz großen aus der Riege dieser Gottesmänner, weshalb nicht nur sein Kommen kurz vor dem Ende der Zeiten erwartet wird, sondern aus seinem Leben Episoden erzählt werden, die so etwas wie eine Wiederholung des Exodus darstellen: Etwa, wenn Elija mit seinem zusammengerollten Mantel auf den Jordan schlägt und dessen Wasser sich einst wie das Rote Meer teilen, so dass der Prophet mit seinem Schüler Elischa und 50 seiner Jünger trockenen Fußes den Jordan durchqueren kann. Will sagen: Elja, der Prophet, der Gottes Willen hervorsagt, ist für alle, die Gott vertrauen, der Garant dafür, dass der Exodus, dieses Freiheitsgeschehen, nicht zum Erliegen kommt.

Als Elija im Tode in die Himmel entrückt wird, geht sein Prophetengeist auf Elischa über, wie sich durch die Wiederholung der Jordanteilung auf dem Rückweg zeigt, als nun Elischa mit dem Mantel des Elija auf die Wasser des Flusses schlägt. Und dann wird – wie wir vorhin hörten – neben anderen Wundertaten auch von einer Brotvermehrung durch Elischa berichtet, der mit 20 Gerstenbroten, die ihm einer bringt, hundert Männer speist: Wieder artòn epioúsion, panis supersubstantialis, Himmelsbrot eben, damit Gottes Heilsgeschichte mit seinem Volk weitergehen kann.

V
So wie unser heutiges Evangelium sich mit der Geschichte der Brotvermehrung gleichsam nach rückwärts in diese große Tradition des himmlischen Manna stellt, so stellt Jesus selbst dabei durch Wort und Geste einen Zusammenhang nach vorne, in die Zukunft, zum Abendmahl und dann bis zur Feier der Eucharistie her: Er nahm die Brote, sprach das Dankgebet und teilte an die Leute aus, so viel sie wollten. Und im Einsammeln der übrig geblieben Stücke spiegelt sich schon die Praxis der frühen Kirche, das eucharistische Brot, das nicht verzehrt wurde, ehrfürchtig aufzubewahren, eben weil es für etwas Überwesentliches steht, mit dem Jesus sich selbst identifiziert. Beides werden uns die Evangelien der kommenden Sonntage noch näherbringen, wenn dort mehrfach vom Manna die Rede ist und Jesus schließlich sich selbst mit dem überwesentlichen Brot identifiziert als ein Über-Manna, das denen, die es essen, ewiges Leben schenken wird.

VI
Eine Frage bleibt freilich jetzt noch: Was genau ist denn dieses panis supersubstantialis, dieses überwesentliche, also himmlische Brot? Für eine Antwort darauf dürfen wir nochmals auf das Vaterunser zurückkommen. Denn dieses Herrengebet, so zeigen die theologischen Forschungen – und Nordhofen erinnert daran – , besteht nicht aus einer Liste, gar einem Sammelsurium von Einzelbitten, wie man bisweilen meinte. Vielmehr stehen die Bitten in einem inneren Zusammenhang. Jede Bitte, so kann man sagen, antwortet auf die vorhergehende. Die Brotbitte legt so gleichsam die dritte aus, das „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden“. Den Willen Gottes erfüllen heißt – will das sagen –, täglich sich mit dem überwesentlichen, dem himmlischen Brot beschenken lassen, davon geistlich essen. Und das tue ich, indem ich mich frage: Gott, was willst Du jetzt von mir? Was willst Du, dass ich es jetzt tue? Denn genau und im Tiefsten allein das lässt mich leben und überleben, dass ich mich in Gottes Willen hineinschmiege und ihn mir sozusagen einverleibe. Aber es muss immer eine Frage bleiben, darf nie einfach Gewissheit werden, dass wir immer schon und wie selbstverständlich wüssten, was Gott von uns will. Das können wir nämlich nicht, weil wir Sünder sind und der Vergebung bedürfen – so steht es in der fünften Bitte. Und deswegen müssen wir auch bitten, gerade durch die Gottesnähe, die wir suchen und manchmal erleben dürfen, nicht in die Versuchung geführt zu werden, sozusagen Gott zu spielen – die Urversuchung aus der Paradiesgeschichte. Denn dann hätte uns Gott tatsächlich in Versuchung geführt – aber eben einer, der in Wirklichkeit gar nicht mehr Gott ist, weil wir ihn vor lauter Gotteseifer zu einen Gott gemacht hätten, über den wir verfügten. So hilft uns das Brot-Kapitel aus Johannes das Vaterunser recht beten, und das Vaterunser hilft uns, die Tiefen jenes Evangeliums zu erahnen.

VII
Es gibt diesen Zusammenhang der Vaterunserbitten noch in einer anderen Variante, die aus der ostkirchlichen Überlieferung stammt. Sie erzählt von einem Starez, der seine Schüler anleitete, das Vaterunser rückwärts zu beten, weil so deutlich werde, dass wir in diesem Gebet einen geistlichen Osterweg gehen.

Also:
Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Unser überwesentliches Brot gib uns täglich.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.
Dein Reich komme.
Geheiligt werde dein Name!
Unser Vater in den Himmeln!

Am Anfang steht die Versuchung, die Israel – getrieben vom Hunger wohlgemerkt – in das Sklavenhaus Ägyptens geführt hat, weil es selber für sich sorgen wollte. Dann kommt der Exodus mit seinen Krisen, den Aufständen Israels gegen seinen Gott, seinen Ausbrüchen von Misstrauen, auf die dieser Gott immer und immer wieder noch einmal mit Akten der Vergebung und nicht zu beirrender, überschwänglicher Güte reagiert – wie etwa gerade in der Gabe des himmlischen Manna. Und so gelangt das Volk durch den Willen Gottes in das gelobte Land, das Reich der Himmel, um mit dem Größten beschenkt zu werden, was Gott zu geben hat: dem Geheimnis seines Namens, will sagen: mit dem Innersten seines Wesens, dem unverrückbaren Ich-bin-der-ich-bin-da-für-Dich. Von rückwärts gebetet entpuppt sich das Vaterunser als Brevier jener Heilsgeschichte von einst, die das Johannes-Evangelium gleichsam inszeniert, um auch uns heute, jetzt, ins heilige Geschehen von Gottes Freiheitstat des Exodus hineinzuziehen.