Der Gottesknecht und die Weisheit

Karfreitag B: Jes 52, 13 – 53, 12

I
Kann ein Gott sterben? Können Menschen einen Gott töten? Wenn es einen solchen Gott gäbe, dann kann das nur ein – ja – Esel sein. So jedenfalls sah das der Unbekannte, der im dritten Jahrhundert auf dem Palatin in Rom jene Karikatur in eine Wand ritzte, bei der es sich um die älteste uns bekannte Darstellung der christlichen Kreuzesszene handelt. Ein ans Kreuz genagelter Mensch mit Eselskopf, daneben ein Mann in Gebetshaltung, darunter die Worte „Alexamenos sebete theon“, „Alexamenos betet Gott an“. Hohn und Spott über einen frühen Christen: Wer einen Gott anbetet, der ein solcher Esel ist, sich eine Hinrichtung am Schandpfahl gefallen zu lassen, kann nur selbst ein Esel sein.

II
Spötter bringen nicht selten, ohne es zu wissen, eine Wahrheit ins Wort, die ungleich tiefer greift als ihr Gerede im ersten Moment zu besagen scheint. Deshalb wird sich jemand, der auch nur ein wenig durch das Oberflächliche hindurch schaut bei dieser alten Karfreitags-Karikatur wie von selbst nicht nur an den naheliegenden Esel vom Palmsonntag erinnern, auf dem Jesus als Zeichen der Demut und seines Reiches der Gewaltlosigkeit in die Heilige Stadt einzog, sondern – gleichsam noch eine Schicht tiefer – auch an jene Verse des sogenannten Zweiten Jesaja, dieses Propheten des babylonischen Exils, der zwischen seinen berühmten vier Gottesknechtliedern von Gott sagen darf, er, dieser Gott mache sich für sein Volk zum Esel, zum Lasttier, das seine Geschöpfe schleppen und retten wird, auch dann noch, wenn sie alt und grau geworden sind. Er wird sich die Seinen aufladen, sich unter sie beugen, um sie für sich zu gewinnen und zu retten – und wenn es noch so lange dauern mag. Soviel Geduld hat er mit ihnen, die sprichwörtliche Eselsgeduld mit ihnen, den Störrischen.

III
Das aber tut Gott nicht einfach so nebenher, gleichsam mit einem beiläufigen Wink seiner Souveränität und Macht. Sein Geduldig-Sein hat einen Preis, damit Menschen es überhaupt wahrnehmen und damit es sie so bestürzen kann, dass es ihnen zu Herzen geht und sie sich diesem Gott voll Reue über die eigene Untreue wieder zuwenden. Und eben dieser Preis wird sichtbar in den Liedern vom leidenden Gottesknecht.

Jesaja sagt nicht, wer dieser Gottesknecht sein wird – weil er ja nicht die Zukunft voraussagt; Sondern aus der glaubenden Tiefenschau der gegenwärtigen Wahrheit Gottes ergibt sich, dass es einen solchen Gottesknecht um der Menschen willen geben muss, wenn der tiefste Gottesname – jenes „Ich-bin-der-ich-bin-da-für euch“ – wahr sein soll. Sehr wohl aber weiß Jesaja von daher, wie dieser Gottesknecht nur sein kann: Ein Sinnbild des geduldig tragenden, schleppenden Gottes aus Fleisch und Blut. Zeitweise hat sich Israel aus der Not seiner geschichtlichen Erfahrungen immer neuer Verfolgung und Demütigung heraus kollektiv als dieser Gottesknecht verstanden, inklusive des Leidens der Shoah im 20. Jahrhundert. Andere Völker haben sich später bisweilen auch diese Rolle zugeschrieben, weil sie an sich erfuhren, wie sie selbst noch schierer Ohnmacht und am Rande der Auslöschung zum Glaubenszeichen gegen ihre Vernichter wurden und so Zeugen eines unbesieglichen Lebens und Gottes als seiner Quelle wurden. Gerade so, wie das im vierten Gottesknechtlied der ersten Lesung vorhin anklang: entstellt, verachtet, geschlagen, gebeugt – und doch Anteil erhaltend unter den Großen und von Gott gerettet, weil sie Böses bis über die Schmerzgrenze ertragen und dadurch zugleich weggetragen, verwunden haben und so auch noch die Übeltäter aus der Falle ihrer Bosheit in die Freiheit eines neuen Anfangs zu führen vermochten. In der Geschichte des Polnischen Volkes sind solche Gedanken bis heute lebendig (auch wenn sie derzeit aufs Übelste von nationalistischen Kräften missbraucht werden). Und auch bei manchen unterdrückten Völkern, zumal den indigenen Ethnien Lateinamerikas findet sich der Gottesknecht-Gedanke als Protest gegen die ideologische Unterdrückung ihres Schreis nach Gerechtigkeit und Freiheit während des vorletzten und letzten Pontifikats.

IV
Aber was bedeutet das genau: Das von Gott aufgetragene Werk – einen neuen Exodus – verwirklichen nicht mehr handelnd wie Mose einst, sondern – leidend? Nicht aus Lust am Leiden, sondern weil so auch noch in der Situation der extremsten Verfassung, in die ein Mensch geraten kann, während eines aggressiven Hassausbruches gegen Gott, die Wesensart des grenzenlos geduldigen "Ich-bin-da-für-dich" beglaubigt werden kann. Und nicht nur beglaubigt werden: Indem der Gottesknecht leidet, hält er der aggressiven Absonderung von Gott entgegen, wie überflüssig sie doch eigentlich ist gegen einen Gott, der absolut nichts für sich, aber alles für sein Geschöpf will. Und eben dadurch wird das Geschick des Gottesknechtes die Absonderung von Gott, die Sünde, entmächtigen.

Das ist, so denke ich mir, gerade wie bei zwei Menschen, zwischen denen Böses vorgefallen ist: Solange der eine beschuldigt und der andere sich rechtfertigt, solange der eine urteilt – obwohl dies zurecht – und der andere verurteilt wird, solange bleibt das Zerwürfnis der Schuld in Geltung. Erst in dem Augenblick, da der eine dem anderen absolut vergibt, auf die Durchsetzung seiner Rechte verzichtet ohne Zweck und Vorteil für sich, erst in diesem Moment eröffnet sich beiden wieder die Möglichkeit, über die Barriere geschehener Schuld hinweg neu zueinander zu finden.

V
Und genauso nur so – das ahnt der Dichter der Gottesknechtlieder zutiefst – kann es sein zwischen Gott und Mensch. Wird diese Ahnung sich erfüllen? Der Prophet und einige seiner Kollegen mit ihm erhofften das. Das auserwählte Volk lebt mit dieser Hoffnung unter vielgestaltigen Gesichtern bis heute. Und einige Frauen und Männer aus diesem Volk haben in grundstürzenden Erfahrungen ihres Lebens vor knapp 2000 Jahren die unumstößliche Gewissheit gewonnen, dass einer aus ihrem Volk, ein Jude, den Dienst und das Geschick des Gottesknechts so ganz und unbedingt übernommen hat, dass in ihm jene neue, endgültige Rettung der Geschöpfe aus der Verfahrenheit ihrer Freiheitsgeschichte wieder heraus in Gottes Geborgenheit bereits sichtbar, mit Händen zu greifen begonnen hat – in Jesus von Nazaret. Auf den Schultern dieser jüdischen Frauen und Männer stehen wir als Christinnen und Christen.

VI
Keine Frage natürlich, dass diese Gewissheit, Jesus von Nazaret sei der von den Propheten visionär geschaute leidende Gottesknecht, ihren unerschütterlichen Halt für die Jünger in dem Ereignis besaß, mit dem das irdische Leben dieses Jesus zuende kam: Dass ausgerechnet der, der in seinen Predigten Gott spürbar vergegenwärtigte wie kein anderer zuvor und an dessen bloßen Zugegensein anderen aufging, was Menschlichkeit ist – dass ausgerechnet der aus offiziell politischen, in Wirklichkeit aber religiösen Gründen hingerichtet wird; und dass seine Anhänger dann, wider den Sog ihrer absoluten Niedergeschlagenheit, erleben, dass sich dieser Getötete auf eine radikal neue, nur unbeholfen in Worte zu fassende Weise ihnen als Lebendiger bezeugt – das alles konnte ja gar nicht anders, als sie schlagartig an die Gottesknechtslieder des alten Jesaja denken zu lassen, den Geschlagenen und Bespuckten, der dann von Gott so groß und erhaben gemacht werden wird, dass die Völker staunen.


VII
Dies zu erfahren und in seiner ganzen Wahrheit zu erspüren, das verdanken wir Jesus. So hat er uns nahe gebracht, wer Gott ist - dadurch, wie er war. Und die Christinnen und Christen haben bald verstanden: Wer so wichtig ist für Gott und für sein Anliegen wie dieser Jesus, der kommt nicht von außen und nachträglich hinzu zu diesem Gott. Der gehört untrennbar zu ihm schon immer und für immer. Und so haben sie in der Armut der Sprache Gottes Sohn genannt. Und sie haben auch zu ahnen begonnen: Wenn er der Sohn ist, gleichsam Gottes Liebstes, sein Augenstern, dann liebt uns Gott also so sehr, dass er dieses Liebste dafür dran gibt, ja dass er um unseretwillen nicht einmal mehr Gott sein wollte; deshalb ist er Mensch geworden, um Seite an Seite mit uns den Weg in die Freiheit, in die Geborgenheit zu gehen. Aber dann hat ja, was auf Jesus hineinbrach, Gott selbst erlitten und ausgehalten für uns. So ist es. Denn so heißt er: "Ich-bin-da-für-euch". Damit hat er ernst gemacht.

VIII
Paulus, durch den der Durchbruch der Gottsuche jener kleinen Nazarener-Sekte der Jesus-Leute in atemberaubender Geschwindigkeit zur Weltreligion wurde – er hat das alles im Ersten Korintherbrief rhetorisch-dialektisch auf einen einzigen Gedanken gebracht, indem er fragte:

Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt? Denn da die Welt angesichts der Weisheit Gottes auf dem Weg ihrer Weisheit Gott nicht erkannte, beschloss Gott, alle, die glauben, durch die Torheit der Verkündigung zu retten. […] Denn das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen, und das Schwache an Gott ist weiser als die Menschen. (1 Kor 1, 20b-25).

Wer mit für biblische Sprache wachen Ohren von „Weisheit“ reden hört – woran denkt die oder der? Klar: An König Salomo, dieses Inbild biblischer Weisheit schlechthin (seine circa 700 Frauen her oder hin). Als König David schon auf dem Sterbebett lag, griff sein Sohn Adonija nach dem Königsthron, besorgte sich Reiter und Wagen und lud seine Freunde zur Krönungsfeier ein, erzählt das Erste Buch der Könige. Als der sterbende David davon hört durch seinen Propheten Nathan und seine geliebte Gattin Batseba, befielt er, man solle Salomo auf den königlichen Esel Davids setzen und statt Adonija zum König salben. Was dann auch geschah und später unter anderem zum Bau des Salomonischen Tempels und dem Besuch der Königin von Saba führte, die eigens wegen Salomos Weisheit aus Äthiopien nach Jerusalem reiste (hunderte Male gemalt und vertont). Salomo nicht auf dem Schlachtross, sondern – auch er ! – auf dem Esel!  Wunderbares Inbild, dass es Weisheit nur unter dem Vorzeichen der Demut gibt. So wird auch der Friedenskönig Salomo noch durch das Esel-Symbol zum heimlichen Vorausbild jenes demütigen Esel-Reiters vom Palmsonntag, der durch sein Lebensgeschick einen Kosmos von Weisheit öffnet, auf den menschliches Denken aus sich nicht gekommen wäre. Kein Wunder, dass die sophia tou staurou – die Weisheit des Kreuzes – bis heute zu den spitzesten Stacheln im Fleisch menschlichen Denkens gehört.