Gott träumen

4. Adv. A: Jes 7, 10-14 + Mt 1,18-24

            
I
In seinen chassidischen Geschichten berichtet Martin Buber von einem Rabbinenschüler, der gegen Mitternacht seinen ehemaligen Mitschüler und Freund in einer fremden Stadt besucht. Er klopft an die Fensterscheibe des erleuchteten Zimmers. – Wer ruft?, hört er die vertraute Stimme fragen, und antwortet, da er gewiss ist, dass auch die seine erkannt wird, nur mit „Ich bin es !“ Aber das Fenster bleibt verschlossen, und von innen kommt kein Laut mehr, sooft er auch klopft. Endlich schreit er bestürzt: Ahron, warum öffnest du mir nicht? – Da entgegnet ihm die Stimme des Freundes, so ernst und groß, dass sie ihm fast fremd erscheint: Wer ist es, der sich vermisst zu sagen: ICH BIN ES! Wie es Gott allein zusteht! – Als der andere das vernahm, sprach er in seinem Herzen: Meine Lehrzeit ist noch nicht um, und er kehrte unverweilt zu seinem Lehrmeister zurück.

II
Seine Reaktion ehrt den Rabbinerschüler. An der Antwort seines Freundes auf sein „Ich bin es“ ging ihm schlagartig auf, wie wenig empfindsam er noch immer für die großen Worte war, die mit Gott zu tun haben. Denn natürlich klingt in dem „Ich bin es“ jenes mystische, abgründige „Ich bin der ich bin“ vom Dornbusch mit, die Ur-Offenbarung des Gottesnamens „Gott-mit-uns“, den Menschen seit Mose nur mit Schweigen und in Demut ehren können.

Demut. Was das eigentlich meint, haben die Aufmerksamen unter uns in den letzten Monaten vielleicht deutlicher als je sonst geahnt, weil ihnen ihr schieres Gegenteil Tag für Tag über die Medien ins Ohr gebrüllt und mit grellsten Farben in die Augen geblendet wurde. Auch nur ein kurzes Wort, fast wie das Tetragramm IHWH, nur ein Buchstabe mehr, ein Pentagramm: T-R-U-M-P: TRUMP. Der Präsident electus der Vereinigten Staaten. Er heißt zwar nur so. Viel mag und muss ich dazu nicht sagen. Ich beschränke mich auf das, was er von sich selbst behauptet und zeigt: Ein Prolet mit Milliardenkonto (wenn’s wahr ist) – und so geht er auch mit seinem Namen um: In metergroßen Lettern prangt er an seinem New Yorker Wohnsilo mit den drei vergoldeten Etagen, in denen er haust: TRUMP-Tower, auf seinem privaten Großraum-Flieger: unübersehbar TRUMP. An den Eingängen seiner Golfplätze: TRUMP-Reservat, auf einer Parfüm-Serie: TRUMP. Auf einer Wodka-Marke: TRUMP. Überall: TRUMP, TRUMP, TRUMP. Und gemeint ist immer nur das eine: ICH. ICH. ICH. ICH. Ich kann es. Ich weiß es. Ich mach es. Ich bin es. Der Aberwitz, der solch menschlicher Selbstüberhebung immer folgt, wird nicht auf sich warten lassen – das zu ahnen, muss man kein Prophet ein.

III
Wer die Heilige Schrift etwas kennt, weiß freilich, dass solche Dinge gar nicht neu sind – und dass sie einer eigenartigen Tiefenverbindung mit dem Glaubensgeheimnis stehen, auf das wir in diesen Tagen zugehen, das Weihnachtsfest. Um das Jahr 735 vor Christus war das davidische Königreich politisch in äußerster Gefahr. König Ahas zitterte vor zwei Gegnern, die Jerusalem erobern wollten. Aber zugleich und trotzdem setzt er gänzlich auf sich selbst. Als ihn der Prophet Jesaja auffordert, in unerschütterlichem Gottvertrauen zu verharren und sich dafür ein Zeichen zu erbitten, da lehnt der König das in einem Akt unglaublicher Arroganz ab: Ich will den Herrn um nichts bitten und ihn nicht auf die Probe stellen. Er glaubt, dass es Gott gibt, glaubt aber nicht an ihn, an seine Treue und Verlässlichkeit. Und deswegen – so der Prophet – schickt Gott ungebeten ein Zeichen: die Geburt eines neuen Königskindes von einer jungen Frau: Will sagen: Auch wenn alles dagegenspricht: Du wirst sehen, es wird weitergehen. Und der geheimnisvolle Name – Immanuel, Gott mit uns –, den das Königskind tragen soll, weist über seinen Träger damals, den späteren König Hiskija irgendwie hinaus –, hinaus und nach vorne in die Tiefe der Zukunft auf ein Bleiben Gottes und Sein Gottes mit seinen Geschöpfen, das unwiderruflich und für immer gelten wird. Darum haben die frühen Christinnen und Christen im Rückblick von Ostern her diese Jesaja-Stelle auf die Verheißung der Geburt Jesu bezogen. Und um das Wunderbare, ja menschlich nicht Ausdenkbare dieser Zusage Gottes unbeholfen in Worte fassen, ist aus der „jungen Frau“, von der Jesaja kündet, bei Matthäus und Lukas die „Jungfrau“ geworden. So wird in poetischer Überhöhung, in traumnahen Bildern, wie das auch die Sprache der Liebe oder der Trauer tut, die so leise wie machtvolle Gegenwart Gottes in der Welt verdichtet und bezeugt. Nur, wer das verstehen möchte, bedarf eben genau jener anti-TRUMPschen Demut des Rabbinenschülers, des Schweigens, Sich-zurück-nehmens und des Hinhörens auf die leisen Töne. Ohne sie läsen wir über das Evangelische am heutigen Evangelium hinweg und würden uns dann wundern, dass wir in Missverständnissen landen.

IV
Da erzählt Matthäus als Ouvertüre seines Evangeliums, wie dem Josef die Geburt Jesu aus Maria, der Jungfrau, angekündigt wird. Über keine Geschichte des Evangeliums wurde und wird manchmal mehr Unfug verbreitet als über diese. Dabei wäre alles im Grunde sehr einfach. Matthäus schreibt sein Evangelium etliche Jahre nach Ostern. Und er schreibt so, dass schon im allerersten Beginn des Lebens Jesu das aufleuchtet, was sein Leben dann ausmacht, wie es seine Jünger bis hin zum Karfreitag und zum Ostermorgen miterlebt haben. Matthäus bringt das, was es mit diesem Jesus auf sich hat, auf den Nenner eines Namens, den er schon im Alten Testament findet: Immanuel – eben „Gott mit uns“. Und weil dieser Name an der Stelle im Alten Testament, an der Matthäus ihn findet, ein Kind bezeichnet, dessen Geburt einer der alten Propheten verheißt, ist klar, dass der Evangelist mit dieser Stelle den Anfang des Lebens Jesu, seine Geburt beschreibt.

Dass Matthäus das tun konnte, musste natürlich seinen guten Grund haben. Und den gab es. Der Evangelist und die anderen, die Jesus genauso nah oder noch näher als er standen, die kamen zur Überzeugung: Was dieser Jesus von Gott sagt, das ist nicht bloß so dahergeredet. Was er von Gott sagt und wie er ist, passt bis zum Letzten zusammen. Er in Person ist darum so etwas wie ein Gleichnis Gottes. Aber zugleich wissen sie ihn sich selber ganz nah. Sie erleben: Er freut sich mit uns. Er fragt mit uns. Er feiert mit uns. Er ist traurig wir wir. Und am Ende auch noch: er hat Angst wie wir. Aber das alles ändert nichts daran, wie er zu Gott steht. Ganz gehört er zu uns. Aber genauso ganz zu Gott. Zwischen Gott und Jesus liegt kein Bruch, nichts Fremdes. Jesus gehört irgendwie ganz hinüber, obwohl er ganz da ist bei uns. Das kann man aber auch andersherum sagen: In Jesus kommt Gott ganz herüber, obwohl er der Verborgene, der Jenseitige bleibt. Er mit Leib und Leben ist „Gott mit uns“.

Am aufregendsten war diese Erkenntnis am Karfreitag oder kurz danach. Da wurde den Jüngern klar: Jesu Verbundenheit mit Gott endete auch am Kreuz nicht. Und das heißt: Auch noch das Sterben, der Tod hat Platz bei diesem Gott. Wenn dieser Jesus wirklich für uns wie Gott ist, heißt das, dass Gott sogar noch dann mit uns ist, wenn wir gehen müssen. Er läßt uns nicht allein. Nie. Von daher wird auch sofort klar, warum sich Jesus zu Beginn seines öffentlichen Auftretens von Johannes taufen ließ. Das war ja eine Taufe zur Sündenvergebung. Gott will mit uns sein schon dort, wo wir uns als Sünder bekennen. Und von da ist es nur ein kleiner Schritt, um zu begreifen, dass dieses „Mit uns“ seine Wurzeln noch viel tiefer hat: Wer sogar mit uns bleibt im letzten End und dort, wo es kritisch wird, wird der nicht auch schon mit uns sein, wenn alles seinen Anfang nimmt?

V
Die Antwort ist klar: Unser Anfang ist sein Anfang. Und zugleich ist sein Anfang Gottes Anfang mit uns. Darum kann Matthäus gar nicht anders, als den Anfang Jesu so zu erzählen, wie er ihn erzählt: Jesu Anfang ist wie der Anfang jedes Menschkindes. Eine Mutter gebiert ihn. Aber zugleich spricht alles, was er ist, von Gott – auch sein Kindsein. Und noch einmal andersherum: Gott spricht sich selbst in diesem Kind aus und spricht sich uns zu. Darum gehört das von Maria geborene Kind zugleich ganz zu Gott. Das ist wunderbar. Matthäus möchte das richtig weitersagen und tut das dadurch, dass er sagt: Geboren von der Jungfrau Maria. Und er meint damit: Von Anfang an ist dieser Jesus ein wirklicher, ein ganzer Mensch – und kommt seinem innersten Wesen ganz von Jenseits der Menschenwelt, aus einer Wirklichkeit, die den menschlichen Gesetzen von Werde und Vergehen nicht unterliegt.

Es ist ja kein Zufall, dass dem Josef dieses Geheimnis des Jesus-Kindes in einem Traum geoffenbart wird. Wenn wir träumen, sehen wir manchmal, wie Dinge sich zusammenfügen, die nach unserem Ermessen in der Welt nicht vorkommen können. Aber gerade in diesen rätselhaften Bildern wird uns in der Tiefe der Seele etwas angedeutet, was ganz wichtig für unser wach gelebtes Leben ist. So verhält es sich auch mit unserem Evangelium: Es macht uns mit dem Unvollstellbaren vertraut, dass ein Gott, der ganz Gott ist, zugleich ganz mit uns sein will. Das ist wie ein Traum. Aber wenn dieser Gott Gott ist, kann es auch wirklich so sein. Um zu erfahren, ob es wirklich so ist, brauchen wir im Grunde nur zu tun, was Josef tat, als er aufwachte: Er gehorchte dem, was ihm der Traum sagte. Gehorchen kommt von „Ganz-Ohr-Sein“ für etwas. Seien wir ganz Ohr für das, was Jesus tut und wie er ist. Und wir werden – wenigstens für Sternstunden des Glaubens inmitten mancher Seelennacht und Zweifel – gewiss werden: Gott ist mit uns. Ein Gott zum Staunen.